Chronische Niereninsuffizienz: Die Progression verzögern

25.06.2010 | Medizin

Die Schmerzmittel-assoziierten Nierenschädigungen haben zwar als Ursache für eine chronische Niereninsuffzienz an Bedeutung verloren, dafür sind Hypertonie und Diabetes heutzutage an erster Stelle der Ursachen zu finden.
Von Corina Petschacher

Fünfzehn Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung leiden an einer chronischen Niereninsuffizienz (CKD = chronic kidney disease). Jeder zehnte erwachsene Amerikaner hat eine chronische Niereninsuffizienz – ähnlich sind die Daten für Europa. Die Zahl der Niereninsuffizienten stieg in den letzten Jahren an, was auf der einen Seite auf ein steigendes Lebensalter der Bevölkerung zurückzuführen ist, auf der anderen Seite auf die immer höhere Zahl der Diabetiker und Hypertoniker, die ohne entsprechende Behandlung nach einem längeren Krankheitsverlauf eine Nierenschädigung erleiden, erklärt Univ. Prof. Alexander R. Rosenkranz von der Universitätsklinik für Innere Medizin IV der Medizinischen Universität Innsbruck.

Während bei jüngeren Patienten eine Erkrankung der Nieren im eigentlichen Sinn wie beispielsweise eine Glomerulonephritis oder zystische Nierenerkrankungen als Ursache im Vordergrund steht, sind bei älteren Patienten Hypertonie und Diabetes an erster Stelle der Ursachen zu finden. Die früher häufig beschriebenen Medikamenten-bedingten, meist Schmerzmittel-assoziierten Nierenschädigungen, haben aber heute aufgrund der Vermeidung von Mischpräparaten an Bedeutung verloren.

Basierend auf der glomerulären Filtrationsrate (GFR) der Nieren unterscheidet man fünf Stadien der Niereninsuffizienz (CKD 1-5). In den meisten Fällen reicht es aus, die GFR mit Hilfe der sogenannten MDRD-Formel (MDRD = Modification of diet in renal disease), die sich auf eine standardisierte Körperoberfläche bezieht, aus dem Serumkreatinin, dem Geschlecht und dem Alter des Patienten (GFR in ml/min/1,73 m2) zu berechnen. Bei den meisten ambulanten Patienten ohne schwere Komorbiditäten sei diese Art zur Bestimmung der GFR ausreichend für klinische Entscheidungen; sie unterschätze allerdings bei Adipösen und überschätze bei niedrigem BMI beziehungsweise Muskelmasse die wahre Nierenfunktion, betonte der Experte. Unter bestimmten Umständen könne es große Unterschiede zwischen der geschätzten GFR und der gemessenen GFR geben, weshalb es in bestimmten klinischen Situationen nötig sei, eine 24h-Harnsammlung durchzuführen.

Die GFR sinkt im Alter von etwa 45 bis 50 Jahren im Durchschnitt physiologisch um rund 1ml/Jahr ab. Nur weil die GFR vermindert ist, heißt das noch nicht, dass jemand nierenkrank ist; das betrifft vor allem ältere Personen. Jedoch steigt die Prävalenz der CKD mit höherem Lebensalter und liegt bei über 70-Jährigen bei 40 bis 45 Prozent. „Für die Praxis ist wichtig: hat jemand eine GFR unter 60 und wie alt ist die Person? Bei einem 90-Jährigen bringt dies keine Konsequenzen mit sich, weil es sich wahrscheinlich um einen physiologischen Prozess des Alterns handelt, bei einem 50-Jährigen hat es sehr wohl eine Konsequenz, da es immer auf eine Begleiterkrankung hindeutet“, so Rosenkranz. Univ. Prof. Sabine Horn, Leiterin der klinischen Abteilung für Nephrologie und Hämodialyse der Medizinischen Universität Graz, verweist auf einen anderen Aspekt, der „allen Nephrologen am Herzen liegt: Der Zusammenhang zwischen GFR und Kreatinin ist kein linearer“. Horn weiter: „Es ist nicht so, dass ein Anstieg des Kreatininwerts von 1 auf 2 gleich zu werten ist wie ein Anstieg von 4 auf 5. Im ganz niedrigen Normalbereich liegt eine steile Kurve vor, das heißt ein Anstieg des Kreatinins von 0,5 auf 1 entspricht einem Abfall der GFR von rund 40 Prozent, während ein Anstieg von 4 auf 5, wo die Kurve schon sehr flach ist, nur einem minimalen Abfall der GFR entspricht. Deshalb würde ich mir wünschen, dass niedergelassene Ärzte im hochnormalen Bereich sensibler auf Schwankungen reagieren.“

Diagnosemöglichkeiten

Eine Blutabnahme zur Bestimmung des Serumkreatinins, das bei eingeschränkter Nierenfunktion zunehmend ansteigt, ein Harnbefund zur Abklärung einer eventuell bestehenden Albumin/Proteinurie und die Messung des Blutdrucks sind Maßnahmen, die bei Verdacht auf chronische Niereninsuffizienz ergriffen werden sollten, erklärt Horn. Da auf der einen Seite ein erhöhter Blutdruck eine Nierenerkrankung, auf der anderen Seite eine Nierenerkrankung einen erhöhten Blutdruck auslösen kann und eine bestehende Hypertonie auch die Progression einer Nierenerkrankung beschleunigen kann, ist die Blutdruckkontrolle von entscheidender Bedeutung.

Bei sehr jungen Patienten ist jeder pathologische Befund wie beispielsweise Blut im Harn oder erhöhte Kreatininwerte sofort abzuklären. Bei älteren Patienten wiederum ist bei effizienter Behandlung der Grundkrankheit bis zu einer GFR von 45ml/min der Allgemeinmediziner die erste Anlaufstelle. Liegt der Wert darunter, sollte der Patient einem Nephrologen vorgestellt werden. Denn unterhalb dieses Grenzwertes nehmen Komplikationen wie Knochenschäden durch Niereninsuffizienz, Anämie und andere Komplikationen zu, was eine gemeinsame Betreuung durch den Nephrologen und den Allgemeinmediziner sinnvoll macht. Der Nephrologe hat auch – wenn pathologische Befunde vorliegen – die Möglichkeit, einen mikroskopischen Harnbefund sowie einen Nierenultraschall durchzuführen; am Ende steht eventuell eine Gewebsentnahme aus der Niere durch eine Nadelbiopsie.

Zwei Säulen der Behandlung

Die zwei Säulen der Behandlung der chronischen Niereninsuffizienz sind zum einen die Behandlung der Grunderkrankung – Diabetes und Bluthochdruck stehen hier im Vordergrund – zum anderen die Allgemeintherapie. Diese beinhaltet neben der genauen Kontrolle und Senkung des Blutdrucks diätetische Maßnahmen mit einer leicht Eiweiß- und salzreduzierten Mischkost und das Meiden von nephrotoxischen Substanzen wie bestimmten Schmerzmitteln oder Röntgenkontrastmitteln.

Bei der Blutdrucksenkung kommen sogenannte nephroprotektive Substanzen zum Einsatz wie beispielsweise ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptorblocker, die unabhängig von der systemischen Blutdrucksenkung den Druck in den Nierenkörperchen und die Eiweißausscheidung senken und dadurch die Progression aufhalten können. Ziel wäre eine möglichst komplette Blockade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems, was mit neuen Medikamenten wie direkten Renininhibitoren (Aliskiren, Rasilez®), die ebenfalls nephroprotektiv wirken, erreicht werden kann.

50 Prozent der Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz sind Diabetiker, rund 25 Prozent Hypertoniker. Ohne effiziente Behandlung werden sie früher oder später dialysepflichtig; allerdings versterben die meisten Patienten wegen des hohen kardiovaskulären Risikos von Niereninsuffizienten, bevor sie dialysepflichtig werden. Besonders ab Stadium CKD3b steigt die Mortalität drastisch an. „Interessanterweise versterben Dialysepatienten häufiger am plötzlichen Herztod als an einem Myokardinfarkt, was wahrscheinlich mit strukturellen Veränderungen an den Gefäßen zu tun hat, da es bei niereninsuffizienten Patienten zu einer Verkalkung der Media der Arterien und somit zur Versteifung der Gefäße kommt“, erklärt Rosenkranz.

Etwa alle ein bis drei Monate sollte die Nierenfunktion kontrolliert werden – in Abhängigkeit vom Stadium und der Progression. Bei der diabetischen Nephropathie ab einer GFR < 60 ml/min ist eine gemeinsame Betreuung der Patienten durch Nephrologen und Diabetologen sinnvoll; spätestens ab Stadium CKD 4 sollte ein Nephrologe in die Behandlung involviert werden beziehungsweise zum Nephrologen überwiesen werden. „Studien haben gezeigt, dass das Mortalitätsrisiko abnimmt, je öfter man bei chronischer Niereninsuffizienz einen Nephrologen sieht“, erklärt Rosenkranz.

Indikator Mikroalbuminurie

Eine Mikroalbuminurie ist ein Indikator für ein höheres kardiovaskuläres Risiko und eine endotheliale Dysfunktion sowie ein unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität bei Patienten mit oder ohne Diabetes. Zu einer Mikroalbuminurie kommt es bei 30 Prozent der Diabetiker mittleren Alters und bei zehn bis 15 Prozent der Patienten ohne Diabetes. Die Makroalbuminurie hat mit 1,3 Prozent eine deutlich höhere Prävalenz im Alter sowie bei Patienten mit Diabetes und Hypertonie. Bei 80 Prozent der Typ1- und 20 bis 40 Prozent der Typ 2-Diabetiker schreitet ohne Therapie die Mikroalbuminurie innerhalb von zehn bis 15 Jahren zu einer Makroalbuminurie fort. Ein Grund, die Proteinurie zu senken, ist, dass durch die Proteinurie das Risiko für den renalen Endpunkt bestimmt wird. „Je höher die Albuminurie, desto schlechter das renale ‚Outcome‘, so Rosenkranz. Ziel muss es daher sein, sowohl den Blutdruck zu senken (< 125/75, wenn eine Proteinurie > 1g/d besteht) als auch die Proteinurie letztlich auf < 0,5 g/d zu senken.

Angeborene Nierenschäden: neue Ansätze

Bei der Behandlung von angeborenen Nierenerkrankungen wie Zystenniere oder tuberöse Sklerose, die eher seltener und bei jüngeren Patienten ursächlich für eine chronische Niereninsuffizienz sind, habe sich in den letzten Jahren sehr viel Neues getan. Medikamente aus der Transplantationsmedizin, Rheumatologie und Hämatologie kommen hier mit gutem Erfolg zum Einsatz genauso wie bei verschiedensten immunologisch bedingten Formen der Glomerulonephritis. Auch die Dialyse-Qualität sei in den letzten Jahren konstant hoch, allerdings wäre eine höhere Zahl von Peritoneal-Dialysen in Österreich wünschenswert, da diese leichter in den Alltag der Patienten integrierbar sei und eine gute Einstiegstherapie für Patienten, die kurz vor einer Transplantation stehen, darstelle, betont Horn.

Bei einer chronischen Niereninsuffizienz können auch einige Begleiterkrankungen entstehen. Eine renale Osteopathie kann beispielsweise durch die fehlende Hydroxylierung von 25-Hydroxyvitamin D zu 1,25-Hydroxyvitamin D in der Niere entstehen, zu einer Hypokalzämie und Mineralisationsstörung der Knochen und Kalzifizierung von peripheren Gefäßen führen und so das Risiko für die koronare Verkalkung und somit kardiovaskuläre Erkrankungen enorm erhöhen. Deshalb sollten Kalzium und Phosphat in regelmäßigen Abständen überprüft werden: bei CKD 3 alle sechs bis zwölf Monate, bei CKD 4 alle drei bis sechs Monate. Außerdem kann ein sekundärer Hyperparathyreoidismus entstehen, der eine Kontrolle des PTH notwendig macht.

Auch eine renale Anämie kann im Rahmen einer chronischen Niereninsuffizienz entstehen. Die Empfehlungen für den Therapiebeginn liegen bei <10g/dl (zweimal wöchentlich in mindestens zweiwöchigem Abstand mit Epoetin); der Zielbereich bei Niereninsuffizienten liegt bei einem Hb von 10-12 g/dl. Auch der Eisenstatus sollte regelmäßig überprüft werden. Des Weiteren kann sich auch eine metabolische Azidose bilden.

Da bei Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen stark erhöht ist, gibt Rosenkranz einige Empfehlungen für die Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren bei CKD:
• Nikotinkarenz
• Salzarme Diät: < 4g/d
• Gewicht: BMI < 25,
   Hüftumfang < 122 cm Männer,
                         < 88 cm Frauen
• 30 bis 60 Minuten moderaterintensiver Ausdauersport
• Beachtung einer Dyslipidämie
• Aspirin

Ursachen für chronische Niereninsuffizienz nach Häufigkeit

Diabetes mellitus

44,9 Prozent
Typ 1: 3,9 Prozent
Typ 2: 41 Prozent

Hypertension

27,2 Prozent

Glomerulonephritis

8,2 Prozent

Chronic intestinal nephritis or obstruction

3,6 Prozent

Hereditary or cystic disease

3,1 Prozent

Secondary glomerulonephritis or vasulitis

2,1 Prozent

Neoplasms or plasma-cell dyscrasias

2,1 Prozent

Miscellaneous conditions

3,7 Prozent

Uncertain or unrecorded cause

5,1 Prozent

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2010