Alkoholabhängigkeit: Nicht wegschauen

10.11.2010 | Medizin


Alkoholabhängige benötigen in erster Linie personenbezogene Hilfsangebote. Laut Experten sei es vor allem wichtig, hinzuschauen und nicht wegzuschauen. Besonders gefährdet, abhängig zu werden, sind Personen mit zyklothymem oder irritablem Temperament.

Von Michaela Muthsam

Eine kürzlich unter der Leitung von Univ. Prof. Otto M. Lesch, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Suchtmedizin, durchgeführte Studie zum Thema Konsum von Alkohol und Tabak in Studentenheimen der ÖJAB (Österreichische Jungarbeiter Bewegung) zeigte, dass knapp ein Viertel (23,8 Prozent) der 16- bis 30-Jährigen Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß konsumiert, davon sind vor allem junge Männer betroffen. Da die befragten Heimbewohner aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen, seien die Ergebnisse für Österreichs Jugend repräsentativ, so der Experte. Auffällig: 74 Prozent Nichtraucher stehen 20 Prozent starken Rauchern gegenüber, wobei starke Raucher sowohl signifikant häufiger Alkoholmissbrauch betreiben als auch deutlich häufiger illegale Drogen konsumieren. Sucht ist allerdings auch eine Frage des Temperaments: Besonders Personen mit zyklothymem oder irritablem Temperament neigen dazu, abhängig zu werden.

Wichtig sei vor allem, hinzuschauen, nicht wegzuschauen, so Lesch. Zur schnellen Evaluierung eines Verdachtes auf Alkoholmissbrauch beziehungsweise Abhängigkeit eigne sich vor allem der Cage-Score, wozu folgende vier Fragen beantwortet werden müssen:

  1. Hatten Sie schon mal das Gefühl, dass Sie Ihren Alkoholkonsum reduzieren sollten?
  2. Haben Sie sich schon darüber aufgeregt, wenn andere Leute Ihr Trinkverhalten kritisierten?
  3. Hatten Sie wegen Ihres Alkoholkonsums schon Gewissensbisse?
  4. Haben Sie am Morgen nach dem Erwachen schon als erstes Alkohol getrunken, um Ihre Nerven zu beruhigen oder den Kater loszuwerden?

Werden zwei oder mehr dieser Fragen positiv beantwortet, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es sich um ein problematisches Konsumverhalten handelt, groß. Biologische Marker wie MCV sind vor allem bei jungen Patienten oft noch negativ.

Motivieren, nicht verurteilen

„Die Therapie ist primär nicht gegen den Alkohol gerichtet, sondern für die Person gedacht. Der Patient muss das Gefühl haben, dass er etwas bekommt, denn sonst nimmt man ihm nur einen Freund. Und meist hat er ja keinen anderen als den Alkohol. Was der Patient braucht, sind personenbezogene Hilfsangebote“, so Lesch. Wird frühzeitig ein motivierendes Gespräch geführt, reduzieren 25 Prozent der Personen ihr Trinkverhalten beziehungsweise hören sogar auf zu trinken. Dieses erste Gespräch sollte eine Dauer von 20 Minuten nicht überschreiten; bewährt habe sich in der Gesprächsführung die Brenda-Methode. Dabei wird zuerst hinterfragt, worunter der Patient wirklich leidet, sowie welche psychologischen und sozialen Konsequenzen das Trinkverhalten nach sich zieht. In einem nächsten Schritt wird die Interaktion von Alkohol und Patient evaluiert, inwieweit Alkohol also positiv beziehungsweise negativ auf den Patienten wirkt. Nun können die Bedürfnisse des Patienten erforscht werden: Was wird benötigt? Was kann angeboten werden? Darauf wird gemeinsam mit dem Patienten eine Prioritätenliste erstellt. Wichtig dabei ist, dass die Ziele realistisch sind und von Arzt sowie Patient akzeptiert werden können, so Lesch. Im Rahmen einer Wiederbestellung erfolgt schlussendlich eine Re-Evaluierung; sollte sich dabei beim behandelnden Arzt das Gefühl einstellen, der Patient benötige weitere Therapieangebote, empfehle sich eine weitere Zuordnung des Patienten anhand der Typologie nach Lesch, um die weitere Therapie so effizient als möglich gestalten zu können. Ganz prinzipiell gilt: Je früher die Intervention erfolgt, desto besser ist die Prognose.

Frauen internalisieren, Männer externalisieren

„Mehr als 50 wichtige Unterschiede bestehen zwischen den Geschlechtern. Heute kann man nicht mehr vom Alkoholkranken reden, eine weibliche Alkoholkranke ist etwas ganz anderes als ein männlicher Alkoholkranker“, so Lesch. Univ. Prof. Brigitte Schmid-Siegel, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien, hat sich mit den Unterschieden zwischen Frauen und Männern genauer befasst. Unabhängig von der konkreten Diagnose bei psychischen Erkrankungen gibt es bei Frauen andere Problemstellungen als bei Männern: Frauen trinken heimlich, leiden unter deutlich mehr sozialem Zusatzstress wie Betreuung von Familienangehörigen, dem Wahrnehmen von familiären Aufgaben, haben öfter Schuldgefühle im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum, schämen sich, dass sie sich nicht genug um ihre Kinder kümmern können. Auch der äußere Verfall durch die Krankheit beschäftigt Frauen öfter als Männer, diese wiederum empfinden eher die Organschädigung durch Alkoholkonsum als Belastung.“

„Das Zentralsymptom von Alkoholabhängigen ist die fehlende Motivation“, so Lesch. Wichtig sei also als Erstes ein motivierendes Gespräch. Hierbei müssen realistische Therapieziele definiert werden; die Sprache sollte nicht nur informieren, sondern auch orientieren, ein Patient muss sich akzeptiert fühlen, keinesfalls darf das erste Gespräch verurteilend erfolgen.

Über die Möglichkeit eines Rückfalles sollte man den Patienten auf jeden Fall aufklären, um zu verhindern, dass der Patient einen solchen als persönliches Versagen erlebt und aus diesem Grund die Therapie abbricht. Ein Rückfall bietet aber auch Chancen: Dabei geht es weniger darum, den Grund für einen Rückfall zu eruieren, sondern eher darum, was den Patienten daran hindert, es in Zukunft besser zu machen. Es solle also immer lösungsorientiert, nicht problemorientiert gearbeitet werden. „Manche Patienten muss man auch begleiten. Es geht nicht immer nur um die Frage der Abstinenz, sondern darum, wie man dem Patienten unter Beachtung seiner individuellen Situation am besten helfen kann“, so Lesch.

Mehrere Abhängigkeiten: eine Behandlung?

Was aber tun bei einem Patienten, der nicht nur alkoholabhängig ist, sondern zum Beispiel auch Nikotinmissbrauch betreibt? Lesch dazu: „Abhängigkeit ist eine Erkrankung der Person, nicht des Suchtmittels. Je nachdem, welche Funktion die Suchtmittel haben, kann ich in manchen Fällen mehrere Abhängigkeiten gleichzeitig behandeln, in anderen Fällen geht das nicht.“ So verwenden etwa Typ 1 und 4 Nikotin als Substitution, hier muss drei bis vier Monate abgewartet werden, bevor auch die Nikotinabhängigkeit behandelt werden kann. Bei Typ 2 kann beides gleichzeitig behandelt werden. Bei Typ 3 spielt das Suchtmittel prinzipiell wenig Rolle. Behandelt man diesen Patienten effizient hinsichtlich seiner Angstzustände und Depressionen, wird er vermutlich keines mehr benötigen.

Alkoholtypologie*

Typ 1    

GewohnheitstrinkerIn – biologische Vulnerabilität: schwere Entzugserscheinungen, keine psychiatrische Komorbidität; konsumiert Alkohol gegen Entzugssymptome; schon bei geringer Reduktion der Trinkmenge Entwicklung einer schweren Entzugssymptomatik.

Typ 2

Alkohol bei Angsterkrankungen: löst Konflikte mit Alkohol; neigt zur Suchtverlagerung; Therapie mit Benzodiazepinen oder GHB ist kontraindiziert.

Typ 3

Alkohol bei Depression: Alkohol zur Druckentlastung, verwendet Alkohol als Antidepressivum.

Typ 4

Alkohol auf Basis einer organischen Schädigung: zerebrale Schädigung vor dem 14. Lebensjahr, kindliche Verhaltensauffälligkeit, Störung der Impulskontrolle.


* nach Lesch, www.lat-online.at

Tipp: http://www.zuefam.ch/pdf/cagetest.pdf

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2010