Wien Museum: Madness and Modernity

25.03.2010 | Kultur

Faszinosum „kranker Körper“

„Wien um 1900“ war nicht nur die Blütezeit von Kunst und Kultur, sondern auch der Medizin. Sigmund Freud erforschte die Nachtseiten der Seele, und Ärzte interessierten sich mehr denn je für die Heilungsmöglichkeiten des Körpers.
Von Renate Wagner

Zu Beginn der Ausstellung „Madness & Modernity“ im ersten Stock des Wien Museums wird man mit der „Madness“ konfrontiert, wie man sie im 18. Jahrhundert sah und behandelte – da stehen die Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt mit ihren tragisch verzerrten Gesichtern, da zeigt ein Modell des runden „Narrenturms“, wie man Geisteskranke damals gleichzeitig wegsperrte und ausstellte. Die zuerst in London gezeigte Ausstellung hat auch in Wien ihren Haupttitel „Madness & Modernity“ behalten, spezifiziert ihr Anliegen jedoch im Untertitel: „Kunst und Wahn“.

Im nächsten Raum allerdings steht man vor dem Modell eines Areals, das wie eine luxuriöse Ferienlandschaft wirkt: Es handelt sich um die 1907 eröffnete „Heil- und Pflegeanstalt“ Steinhof, die mit ihren Pavillons die ganze architektonische Eleganz der Epoche widerspiegelt. Kein Geringerer als Otto Wagner erhielt den Auftrag für einen Kirchenbau. Für „Steinhof“ warb man mit Plakaten, die „höchsten Komfort“ versprachen für die Behandlung von „Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie, nervösen Zuständen, Morphinismus, Kokainismus, Alkoholismus etc.“ Und man versprach auch ein „eigenes Kurhaus mit mechano-, elektro- und hydrotherapeutischen Behelfen, Winterschwimmbad, Konversations- und Speisesälen, Billard-, Rauch- und Musiksalons, Theater, Hausorchester, Zentralheizung, elektrisches Licht.“

Dem „Wahn“ in all seinen Variationen ist man auf der medizinischen Seite auf der Spur: Man hat einen Teppich aus dem Londoner Freud-Museum über einer Couch drapiert, um die psychoanalytische Seite der Krankengeschichte anzudeuten, aber konkreter ist das, was in Steinhof geschah: die Fotos, die interessierte Ärzte von Geisteskranken machten. Die weiße Holztüre, die zu einer Isolierzelle führte und damit den weniger „mondänen“ Teil der Geisteskrankheiten anspricht. Der „Trainingsapparat für passive, beidseitige Bewegungstherapie der Hüft-, Knie- und Fußgelenke“ von 1900, der wie eine bescheidene, aber dennoch ambitionierte Frühform heutiger Fitnessgeräte anmutet und zeigt, dass therapeutisches Interesse Leib und Seele umfasste.

Auch auf die Patienten vergisst die Ausstellung nicht, die in diesem vergleichsweise luxuriösen Ambiente ihre zweifellos großteils tragischen Schicksale und Krankheiten erlitten: die Zeichnungen, die der Insasse Josef Karl Rädler hinterlassen hat und die ihre Verwandtschaft mit der Gugging-Kunst nicht verleugnen, reflektieren die Gefühle der Betroffenen.

Nicht nur die Ärzte, auch die Künstler hatten tiefes Interesse an der Krankheit. Die extrem als „krank“ zu bezeichnenden Körper, die Egon Schiele schuf (zumal in mehreren Selbstbildnissen), das Porträt des schwerkranken Ludwig von Janikowski, gestaltet von Oskar Kokoschka, Max Oppenheimers Bildnis von Franz Blei – körperlicher Abstieg und seelische Zerfallenheit spiegeln sich vielfach in der Kunst dieser Epoche. Medizin-, Kranken- und Kunstgeschichte fließen in dieser Ausstellung zu einem hoch interessanten, in dieser Intensität bisher vernachlässigten Aspekt von Wien um 1900 zusammen.

Was, Wann, Wo:

Madness & Modernity – Kunst und Wahn in Wien um 1900

Bis 2. Mai 2010, täglich außer Montag von 10 bis 18 Uhr.

Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren.
Freier Eintritt für alle jeden ersten Sonntag im Monat.

Wien Museum, Karlsplatz, 1040 Wien
www.wienmuseum.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2010