Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern: Mehr mit Kindern reden!

15.12.2009 | Medizin

Generell nehmen Sprach-Entwicklungsstörungen zu, die allgemeine Sprachkompetenz von Jugendlichen nimmt ab. Eine Besorgnis erregende Entwicklung, denn: Nur in der direkten Interaktion mit Erwachsenen kann ein Kind Sprache erlernen.
Von Irene Mlekusch 

Die ersten Worte eines Kindes werden von seinen Eltern mit großer Spannung erwartet. Und obwohl der erste Schrei des Säuglings nach der Geburt sozusagen die Einleitung der Sprachentwicklung darstellt, zieht sich diese über Jahre hin weg. Univ. Prof. Gerhard Friedrich, Vorstand der Universitätsklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde Graz spricht von bestimmten Meilensteinen in der kindlichen Sprachentwicklung. „Die normale Sprachentwicklung sollte mit vier bis fünf Jahren abgeschlossen sein und das Kind sollte sich mit einfacher, aber korrekter Grammatik und einem kindgemäßen Wortschatz verständigen können.“

Störungen der Sprachentwicklung gehören im Kindesalter zu den häufigsten Auffälligkeiten in der Entwicklung. „Die Sprache ist ein von vielen Faktoren abhängiger Entwicklungsprozess mit großer individueller Normvarianz“, sagt Univ. Prof. Wolfgang Bigenzahn, Leiter der Klinischen Abteilung Phoniatrie-Logopädie der Universitätsklinik für HNO in Wien. Die Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen wird in der Literatur mit sechs und zwölf Prozent beschrieben, wobei Knaben doppelt so häufig betroffen sind wie Mädchen. Bigenzahn: „Kinder mit einem verspäteten Sprechbeginn bezeichnet man als Late talker und deren Häufigkeit wird mit 18 Prozent angegeben.“ Nahezu die Hälfte dieser Kinder holen die Defizite bis zum dritten Lebensjahr wieder auf und durchlaufen dann eine regelrechte Sprachentwicklung. Ergeben sich aber in der ausführlichen ärztlichen Anamnese Hinweise auf Erkrankungen oder psychische Belastungen in der Schwangerschaft, den Geburtsverlauf, frühkindliche Erkrankungen, Erbkrankheiten, die Familiensituation, das sprachliche Umfeld, den Verlauf der allgemeinen und sprachlichen Entwicklung beziehungsweise der Verdacht auf eine mögliche Hörstörung des Kindes, sollten laut Bigenzahn entsprechende diagnostische Schritte eingeleitet werden.

Friedrich betont, die Besorgnis der Eltern immer ernst zu nehmen. „Oft haben die Eltern das Gefühl, dass in der Entwicklung des Kindes etwas nicht stimmt“, berichtet der Experte aus dem klinischen Alltag. Er empfiehlt in jedem Fall eine klinische Untersuchung, insbesondere eine Hörprüfung zu veranlassen und nicht unnötig abzuwarten (Tab). Auch Bigenzahn bestätigt, dass die abwartende Haltung, „des sich Auswachsens“ inzwischen eindeutig widerlegt ist. Liegt tatsächlich eine Sprachentwicklungsstörung vor, sollte eine Therapie möglichst frühzeitig eingeleitet werden. Grundsätzlich muss man zwischen Sprachund Sprechstörung unterscheiden. Mischungen können vorliegen, doch ist der Therapie der Sprachstörung, also der gestörten gedanklichen Erzeugung von Sprache, immer der Vorzug zu geben. Eine verzögerte Sprachentwicklung geht oft mit anderen Entwicklungsstörungen einher.

Bigenzahn bezeichnet die Sprachentwicklungsstörungen als zumeist multifaktorielle, multimodale Störungsbilder. Die Entwicklungsstörungen sind teilweise genetisch bedingt. „Bei anlagebedingter, familiärer Sprachschwäche besteht eine verbale Minderbegabung mit Syndromcharakter“, ergänzt er. Die psychosoziale Komponente überwiegt dagegen bei mangelnder sprachlicher Anregung (Deprivationssyndrom), Zwei- und Mehrsprachigkeit (Bilinguismus) und sprachlicher Überforderung (Overprotection). Organisch können Störungen der peripheren Sprechorgane und Sprechwerkzeuge, Veränderungen an Lippen, Kiefer, Zunge und Zahnstellung, zu kurzes oder angewachsenes Zungenbändchen (Ankyloglossie) oder skelettodentale Fehlbildungen (Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten) eine Sprachentwicklungsstörung begünstigen. Psychogen kommen vor allem eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung, Geschwisterrivalität oder Erziehungsfehler zum Tragen.

Je nach dem Schweregrad der Sprachentwicklungsstörung unterscheidet man zwischen Verzögerungen, Entwicklungsstörungen und Entwicklungsbehinderungen. Sprechstörungen – die gestörte Artikulation von Sprachlauten – sind weniger an die Reifungsprozesse im Gehirn gebunden und können zum Teil auch noch im Erwachsenenalter behandelt werden. Die Störungen der Lauterkennung und Lautwiedergabe umfassen Agnosie, Dyslalie, Dysgrammatismus und Dysarthrie. Zu den Redeflussstörungen gehören dagegen das durch Wiederholungen oder Steckenbleiben charakterisierte Stottern und das durch überhastetes Sprechen mit auslassenden Lauten und Silben gekennzeichnete Poltern.

„Stammelfehler treten bis zum vierten Lebensjahr während der Sprachentwicklung bei allen Kindern auf. Sie sollten aber ab dem vierten Lebensjahr nicht mehr oder nur mehr bei isolierten Lauten (vor allem beim Sigmatismus oder „Lispeln“) vorhanden sein“, erläutert Friedrich. Bei der Dyslalie ist der Betroffene nicht fähig, einzelne Phoneme regelrecht auszusprechen, ohne dass eine organische Störung im Sprachapparat vorliegt. Laute, die Probleme bereiten, werden entweder ausgelassen oder durch andere Laute ersetzt: Aus der „Gabel“ wird eine „Dabel“ und aus dem „Schneemann“ ein „neemann“.

Öfter findet man Sigmatismus vor: Zischlaute wie g, k, r, s und sch können Schwierigkeiten bereiten und das Lernen von Lautverbindungen setzt motorische Geschicklichkeit und ein gutes Hörvermögen voraus. Problematisch an der Dyslalie ist die mit der Zeit eintretende Habitualisierung, die dazu führt, dass sich sowohl das betroffene Kind als auch dessen Umwelt an die verzerrte Sprache gewöhnen. Die in weiterer Folge auftretenden Auswirkungen auf die schulische Leistung und spätere soziale Kontakte sind nicht absehbar. Bei der Dysarthrie steht die Artikulationsstörung im Vordergrund, ausgelöst durch eine Schädigung der zentralen Bahnen und Kerne die am Sprechvorgang beteiligt sind.

Auch der Dysgrammatismus tritt entwicklungsbedingt beim Spracherwerb auf. Die Kinder lernen den richtigen Gebrauch der Grammatik dabei im Vergleich zur Sprache der Erwachsenen. „Normal sind zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr auftretende Sprechunflüssigkeiten, da die stürmische Entwicklung des Sprachsystems oft zur Überforderung führt und auch die Kinder gedanklich mit ihrem Sprachfluss nicht mitkommen können. Diese normalen Sprechunflüssigkeiten stellen aber kein Stottern dar und sollten auch nicht als solches bezeichnet werden“, weiß Friedrich.

Das bei etwa zwei Drittel der Kinder im Vorschulalter beginnende „echte“ Stottern verläuft phasenweise und kann sich mit zunehmendem Alter verfestigen. Der tonisch und/oder klonisch gestörte Redefluss kann auch von Sekundärsymptomen wie einer Dyskoordination von Atmung und Stimmgebung, Vermeidungsverhalten, Satzumstellungen, körperlichen Ausgleichsbewegungen und Kommunikationsängsten begleitet sein. Friedrich vertritt den Ansatz, dass sich im Rahmen einer unterentwickelten Verarbeitungskapazität der Sprache in Kombination mit negativen Erfahrungen, ausgelöst durch die unflüssige Sprechweise aus einem anfänglichen Stottern ein chronisches Stottern entwickeln kann. „Chronisches Stottern im Erwachsenenalter ist nicht heilbar“, bedauert  der Experte. „Es kann jedoch durch eine entsprechende Therapie symptomarm gehalten werden.“

Stottern ist äußerst komplex, sehr individuell unterschiedlich und situationsabhängig ausgeprägt. Interessanter Weise gelingen emotional vorgebrachte Äußerungen immer wieder störungsfrei und auch beim Singen wird nur ganz selten gestottert. Oft sind die Eltern in ihrer Sorge überprotektiv und ermahnen das Kind ständig, ordentlich zu sprechen. Ist das Stottern als pathologisch erkannt, versuchen manche Eltern, therapeutisch einzugreifen, was die weitere Behandlung erschweren kann. „Die Früherkennung des Stotterns im Vorschulalter ist ein wichtiges Aufgabengebiet der Phoniatrie und Logopädie zur Vermeidung eines chronischen Stotterns im Erwachsenenalter“, merkt Bigenzahn an. Er gibt zu bedenken, dass dem Erstuntersucher eine entscheidende Rolle bei der Differentialdiagnose und Bewertung der Sprechunflüssigkeiten zukommt. Davon abhängig, ob es sich um eine entwicklungsbedingte Sprechunflüssigkeit oder um ein echtes Stottern handelt, rät Bigenzahn, die Eltern zu beraten, regelmäßige Kontrolluntersuchungen zu veranlassen oder allenfalls eine gezielte Therapie einzuleiten. Jede Therapie erfordert dabei ein individuelles Vorgehen und setzt beim Therapeuten die Kenntnis der einzelnen Verfahren voraus. Stottern tritt laut Bigenzahn in allen Ländern der Welt unabhängig von der Landessprache auf. In westlichen Industrieländern wird die Häufigkeit mit etwa vier Prozent angegeben; der Anteil der erwachsenen Stotternden beträgt etwa ein Prozent. Das Verhältnis stotternder Knaben zu Mädchen wird mit drei bis vier zu eins angenommen.

Beim Poltern dagegen tritt mit zunehmender Konzentration eine Verbesserung des Sprechablaufs ein. Charakteristisch für das Poltern sind schnelles, überstürztes Sprechtempo intra- oder interverbal mit Auslassungen, Veränderungen und Verschmelzungen von Lauten, Silben oder Wörtern, sowie Wortumstellungen oder Umschreibungen. Im Gegensatz zum eher schüchternen und verschlossenen Stotterer erscheint der Polterer hastig, sprunghaft, expansiv, extrovertiert und überproduktiv.

Bigenzahn betont neuerlich, dass die Therapie von Sprachentwicklungsstörungen möglichst frühzeitig eingeleitet werden sollte. Bei Kleinkindern erfolgt an der Universitätsklinik in Wien eine Förderung des methodischen Sprachaufbaus durch Beratung und Anleitung der Eltern. „Ab dem dritten bis vierten Lebensjahr sind direkte logopädische Maßnahmen über eine möglichst kindgemäße Übungsbehandlung zur Sprachanbahnung und Sprachweiterentwicklung möglich“, beschreibt Bigenzahn das weitere Vorgehen. Bis zum Schulalter sollten Kinder Sprache als Kommunikationsmittel uneingeschränkt gebrauchen können.

Einschränkungen ergeben sich bei Mehrfachbehinderungen. In diesen Fällen sollte eine enge interdisziplinäre Kooperation mit Pädiatern, Kinderneurologen, Zahnärzten, Orthopäden, Sprach-, Ergo- und Physiotherapeuten, Psychologen und Heilpädagogen gesucht werden.

Der Einfluss der psychosozialen Komponente

Die neurologische und psychische Entwicklung eines Kindes sind eng miteinander verbunden, sodass man bei Sprach- und Sprechentwicklungsstörungen von einem multifaktoriellen, äußerst komplexen Ansatz ausgehen muss. „Entwickelt sich eine Sprachstörung, hat dies psychische Konsequenzen und umgekehrt“, erklärt Univ. Prof. Ernst Berger von der Arbeitsgruppe Rehabilitation/Integration der Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes und Jugendalters in Wien.

Besteht der Verdacht auf eine Sprachentwicklungsstörung, ist einerseits eine differenzierte Höruntersuchung obligat, andererseits kann auch der Besuch beim Kinderneurologen beziehungsweise Kinderpsychiater sinnvoll sein, da es in weiterer Folge auch zu einer Persönlichkeitsstörung kommen kann. „Eine rein logopädische Behandlung wird bei Kindern nur anfängliche Erfolge bringen“, meint Berger und sieht die Einschränkungen der kindlichen Sozialkontakte als wesentliches Kriterium für einen psychiatrischen Handlungsbedarf.

Besondere Aufmerksamkeit gilt vor allem den Kindern, die an Mutismus leiden. Etwa 0,5 bis sieben Prozent der Kinder im Vorschulalter stellen die im Wesentlichen unkompliziert erlernte sprachliche Kommunikation entweder ganz ein oder beschränken sich in ihren Äußerungen nur auf wenige Bezugspersonen (selektiver Mutismus). Eine Bindungsstörung oder ein Trauma können die Ursache sein, Berger dazu: „Beim Mutismus findet sich doch manchmal eine organische Grundlage, die zu einem Entwicklungsmangel und der weiteren Kommunikationsvermeidung aus sozialen Gründen führt.“ Bigenzahn fordert differentialdiagnostisch den Ausschluss einer schizophrenen Störung und macht darauf aufmerksam, dass zusätzlich an eine Aphasie, Agnosie, Anarthrie oder Gehörlosigkeit gedacht werden sollte. Bigenzahn weist außerdem auf die Dyslogie hin, unter der man Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen bei geistigen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Erwachsenenalter versteht. Allerdings können auch Misshandlungen im frühen Kindesalter, die zu einer cerebralen Schädigung geführt haben, eine Störung der Sprach- und Sprechentwicklung nach sich ziehen.

„Sprache erlernen kann ein Kind nur in der direkten Interaktion mit den Erwachsenen,“ sagt Friedrich. Er betont dies deshalb, weil Sprachentwicklungsstörungen generell zu und damit auch die allgemeine Sprachkompetenz Jugendlicher abnimmt. Ein zu geringer direkter Umgang mit dem Kind, verursacht durch übermäßigen Fernsehkonsum und Beschäftigung mit dem Computer, oft auch in Verbindung mit mangelnder sprachlicher und sozialer Anregung durch Gleichaltrige in Ein-Kind-Familien wird als Ursache diskutiert. Und dies paradoxerweise in einer Gesellschaft, in der kommunikative Fähigkeiten zunehmend zum Schlüsselfaktor für persönlichen, sozialen und beruflichen Erfolg werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2009