Interview – Univ. Prof. Dagmar Bancher-Todesca: Mutter-Kind-Pass: drei Jahre Stillstand

10.03.2014 | Medizin

Der MUKIPA müsse, nachdem drei Jahre seit der letzten Sitzung der damaligen MUKIPA-Kommission vergangen sind, dringend überholt werden, erklärt Univ. Prof. Dagmar Bancher-Todesca von der Abteilung für Geburtshilfe am AKH Wien. Außerdem fordert sie im Gespräch mit Marion Huber eine Evaluierung der Daten.

ÖÄZ: Der Mutter-Kind-Pass wurde 1974 eingeführt, mit dem Zweck, die Säuglingssterblichkeit zu reduzieren. Was ist heute der wesentliche Sinn der Untersuchungen?
Bancher-Todesca: Die Mortalität kann man nicht weiter senken, da wir mit einer perinatalen Mortalität von 5,1 Promille und einer Säuglingssterblichkeit zwischen dem zweiten und 12. Lebensmonat von 0,8 Promille sehr gut sind. Sinn und Zweck ist es heute, zum einen die Frühgeburtenrate, die in den letzten Jahren stagniert und teilweise sogar ansteigt, in den Griff zu bekommen. Und zum anderen ist es Ziel, die Morbidität der Kinder zu senken.

Was ist die Ursache dafür, dass die Frühgeburtlichkeit tendentiell eher steigt?
Das liegt daran, dass die gebärenden Frauen immer älter werden und durch den Fortschritt der Medizin auch immer mehr teilweise schwer erkrankte Frauen schwanger werden können. Außerdem steigt durch zunehmend häufige In-vitro-Fertilisationen die Mehrlings-Rate und damit verbunden auch die Frühgeburten-Rate.

Ist dem Großteil der Frauen bewusst, wie wichtig die MUKIPA-Untersuchungen für die Prävention sind?
Besonders in der Geburtshilfe werden die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen sehr gut angenommen und von fast allen Frauen durchgeführt. In der kindlichen Versorgung allerdings wird gerade die letzte Untersuchung, also die Schuleinstiegs-Untersuchung im fünften Lebensjahr, nur noch von 30 Prozent wahrgenommen. Hier gibt es jede Menge Verbesserungsbedarf.

Welche der Untersuchungen, die in den letzten Jahren integriert worden sind, erachten Sie als besonders wichtig?
Vor allem der orale Glukose-Toleranztest war einer der Meilensteine, bei denen sich besonders viel getan hat. Die Untersuchung hat uns gezeigt, dass die Zahlen des Gestationsdiabetes drastisch höher sind als zuvor angenommen. Vor zehn Jahren hat man noch Gestationsdiabetes-Frequenzen von 1,5 bis drei Prozent festgestellt, weil man ihn ohne Screening nicht erkannt hat. Jetzt liegt die Frequenz bei circa 13 Prozent. Wenn ein Gestationsdiabetes nicht erkannt oder schlecht behandelt wird, haben diese Kinder ein erhöhtes Risiko, übergewichtig zu werden oder selbst Diabetes oder Symptome eines metabolischen Syndroms zu entwickeln. Mit dem Wissen kann man heute viel in Sachen Prävention für die Kinder tun.

Welchen Stellenwert hat eine medizinische Expertenkommission, die das Gesundheitsministerium in Sachen Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes berät?
Der Stellenwert einer solchen Kommission ist sehr groß, denn die letzte Sitzung der früheren MUKIPA-Kommission war im Oktober 2011. Seither stagniert die Arbeit und das, obwohl es in den letzten drei Jahren sehr viele medizinische Neuerungen gegeben hat. Es wäre wirklich an der Zeit, dass die medizinische Expertenkommission weiter tagt. Drei Jahre nichts zu tun, ist einfach unheimlich schwierig und schlichtweg schade um die Zeit, die vergeht.

Welche Untersuchungen muss man in den nächsten Jahren integrieren? Was muss aufgearbeitet werden?
Besonders bei der Früherkennung von Risiko-Schwangerschaften hat sich sehr viel getan. Man weiß jetzt, dass man in der 12. Schwangerschaftswoche, spätestens in der 18. bis 20. Schwangerschaftswoche, praktisch sehr gut vorhersagen kann, ob eine Frau eine Risikoschwangerschaft hat oder entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt könnte man die Frauen in zwei Gruppen aufteilen: jene, die intensiver betreut werden müssen und jene mit einer lowrisk-Schwangerschaft. Durch Neuerungen in der Pränatal-Diagnostik, nicht nur durch Nacken-Transparenz-Messungen sondern auch Blutabnahmen in der 12. Schwangerschaftswoche, kann man heute sehr gut vorhersagen, wie wahrscheinlich Wachstumsretardierungen oder eine Prä-Eklampsie sind. Diese Maßnahmen sind zwar teuer – aber genau dazu bräuchte es ein wissenschaftliches Komitee, das evaluiert und entscheidet, ob solche Neuerungen in den Mutter-Kind-Pass integriert werden sollen. Leistungen werden zwar mit dem Fortschritt der Medizin immer teurer. Aber gerade bei so wichtigen Dingen wie der Zukunft unserer Kinder sollte man nicht sparen.

Wie stufen Sie den österreichischen Mutter-Kind-Pass im Vergleich zu Vorsorge-Programmen in anderen Ländern ein?
Ich glaube, dass wir eine sehr gute Schwangeren-Betreuung haben. Sie darf aber nicht stagnieren, sondern muss sich ständig entwickeln und besser werden. Ich bin auch überzeugt, dass man nicht immer nur Neues in den Mutter-Kind-Pass integrieren muss, sondern ruhig auch Untersuchungen streichen kann, die heute nicht mehr State of the Art sind.

An welche Untersuchungen denken Sie dabei konkret?
Zu überdenken wären die internen Untersuchungen in der derzeitigen Variante. Das Syphilis-Screening beispielsweise war vielleicht 1974 wichtig, heutzutage ist es meines Erachtens aber überflüssig.

Was kann bei der Praxistauglichkeit des Mutter-Kind-Passes verbessert werden?
Sehr vieles. Etwa eine gute graphische Aufbereitung, eine bessere Übersichtlichkeit – und der Mutter-Kind-Pass sollte EDV-kompatibel sein. Einerseits müssten dann nicht alle Daten doppelt eingetragen werden, andererseits könnte man auch endlich österreichweit Daten sammeln. Zurzeit machen wir viele Untersuchungen, von denen wir nicht einmal wissen, wie effizient sie tatsächlich sind. Wir führen alle brav die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen durch und wir hätten ein so gutes Instrument, das praktisch alle Schwangeren erfasst. Aber wir können die Daten und das Outcome nicht evaluieren, weil wir sie nicht erfassen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2014

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