Postprandiale Hypoglykämie: Unangenehm und gefährlich

10.02.2024 | Medizin

Erleidet ein Patient immer wieder eine postprandiale Hypoglykämie, wird die hormonelle Gegenregulation mit der Zeit geringer. Besonders nach bariatrischen Operationen und bei einer Diabetes-Therapie mit Insulin und Sulfonylharnstoffen kommt es vermehrt zu Hypoglykämien, die für die Betroffenen sehr unangenehm und mitunter gefährlich sind.

Martin Schiller

Ursache der postprandialen (früher: reaktiven) Hypoglykämie ist ein schneller Transit des Speisebreis in das Duodenum und weitere Darmabschnitte. Infolgedessen kommt es zu einem schnellen Anstieg des Blutzuckerspiegels und reaktiv zu einer vermehrten Insulinausschüttung. „Diese ist so hoch, dass sich selbst bei Normalisierung des Blutzuckerspiegels noch zu viel Insulin im Blut befindet und es dadurch zu einer Unterzuckerung mit Symptomen wie Zittern, Schweißausbrüche und sogar kognitiven Beeinträchtigungen kommt“, erklärt Univ. Prof. Bernhard Ludvik, Vorstand der 1. Medizinischen Abteilung mit  Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie der Klinik Landstraße in Wien. Diese postprandialen Hypoglykämien seien für den Patienten „sehr unangenehm und mitunter gefährlich“, wenn man etwa an die Beteiligung im Straßenverkehr denke, führt Ludvik aus.

Eine zu schnelle Magenentleerung kann die Folge eines chirurgischen Eingriffs im Bereich des Magens und des Duodenums sein. Am häufigsten betroffen sind Patienten nach Sleeve-Gastrektomie und nach einem Magenbypass, fallweise auch nach einer Fundoplicatio. Hier kann es zu einer speziellen Form des Dumping-Syndroms, dem Spät-Dumping, kommen (siehe Kasten). „Eine wesentliche Rolle spielen gastrointestinale Peptide, allen voran das Glucagon-like Peptide 1, das bei bariatrischen Operationen vermehrt ausgeschüttet wird“, berichtet Ludvik. Manchmal würden postprandiale Hypoglykämien auch erst einige Jahre nach einer Sleeve-Operation auftreten. Durch die lange hohen GLP-1-Spiegel oder hohe Spiegel anderer Inkretin-Mimetika kann es fallweise zu einer Hyperplasie der insulinproduzierenden Beta-Zellen kommen. „Bei diesen Patienten sind Hypoglykämien dann auch im nüchternen Zustand möglich“, sagt Ludvik.

Das Spätdumping nach einer bariatrischen Operation ist neben bestimmten Therapien bei Diabetes mellitus die häufigste Ursache für eine postprandiale Hypoglykämie, berichtet auch Priv. Doz. Gerlies Treiber von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie an der Medizinischen Universität Graz. Sie stuft Menschen, die vor dem Eingriff bereits an Diabetes litten, als „besondere Risikogruppe“, bei der sich ein Spätdumping entwickelt, ein.

Diagnose mittels oGTT

Für die Diagnose einer postprandialen Hypoglykämie erfolgt nach einer ausführlichen Anamnese ein oraler Glukose-Toleranz-Test (oGTT). „Dabei sollte nicht nur der Blutzuckerspiegel gemessen werden, sondern auch das Insulin und eventuell auch das C-Peptid“, sagt Ludvik. Außerdem soll der Test über mindestens drei Stunden durchgeführt werden, weil die Hypoglykämien oft auch erst später auftreten. Der Glukosetoleranztest sei aber „nicht ganz repräsentativ, weil sich die Menschen in der Realität keine reine Glukose zuführen“. Daher kann man eine vorgefertigte Mahlzeit für Testzwecke einsetzen: als Shake oder in Kombination von Kohlenhydraten wie zum Beispiel Schinkentoast mit Fruchtsaft, sodass man eine ungefähre Zusammensetzung mit 30 Prozent Fett, 50 Prozent Kohlenhydraten und 20 Prozent Eiweiß nachahmt.

Das Risiko für eine postprandiale Hypoglykämie erhöht sich beim Risikopatienten, wenn rasch resorbierbare Kohlenhydrate mit der letzten Mahlzeit zugeführt wurden. „Bei einem großen Teil der Fälle kann man die Problematik durch diätetische Maßnahmen gut beeinflussen“, sagt Ludvik. Empfohlen werden mehrere kleine Mahlzeiten täglich. Kohlenhydrate sollten in komplexer Form zugeführt werden, also in Form von Stärke und – sofern sie gut vertragen werden – als Vollkornprodukte. „Ratsam“ sei es auch, bei der Zubereitung von Speisen auf einen niedrigen Glykämischen Index (GI) zu achten. Die Resorption verzögert sich außerdem, wenn Fett und Kohlenhydrate gemeinsam konsumiert werden. Treiber mahnt darüber hinaus zur Zurückhaltung bei Smoothies: „Diese gehen rasch ins Duodenum über und führen zu heftigen Blutzuckerspitzen.“

Bringen diätetische Maßnahmen keine deutliche Verbesserung, werde es laut Ludvik „problematisch, weil keine optimale  medikamentöse Therapie zur Verfügung steht“. Mit Somatostatin-Analoga kann die Entleerung des Magens verzögert und die Insulinantwort etwas abgeschwächt werden. „Die Verträglichkeit ist aber meist schlecht und das Risiko für die Entwicklung eines Diabetes mellitus steigt“, so Ludvik. Als Dauermedikation seien diese Substanzen daher nicht geeignet. Treiber sieht auch den Einsatz von Acarbose skeptisch: „Die Patienten vertragen Acarbose nicht gut, viele leiden an Meteorismus. Außerdem ist die Substanz derzeit nicht gut verfügbar.“ Hoffnung setzt man hingegen auf die Anwendung von GLP-1-Analoga. Treiber verweist auf Studiendaten, die eine verzögerte Magenentleerung durch diese Substanzklasse ergeben hätten. „Manche Patienten sprechen gut darauf an“, berichtet sie aus der Praxis.


Dumping-Syndrom

Beim Dumping-Syndrom handelt es sich in der Regel um eine postoperative Komplikation. Sie wird definiert als Sturzentleerung von unverdauter hyperosmolarer und hyperkalorischer Nahrung in das Jejunum. Das Frühdumping äußert sich 30 bis 60 Minuten nach der Nahrungszufuhr gastrointestinal durch abdominale Schmerzen, Diarrhoe, Flatulenz und Übelkeit sowie vasomotorisch in Form von Palpitationen, Flushes und Synkopen. Das Spätdumping tritt ein bis drei Stunden nach der Nahrungszufuhr auf und kann durch schnelle Glukoseabsorption zu einem Anstieg von GLP 1, einem raschen Insulinanstieg und damit zu einer reaktiven Hypoglykämie führen. Symptome können Schwäche, Tremor und Schwitzen sein. „Zur klassischen Symptomatik bei Frühdumping zählen auch postprandiale Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Die Patienten haben das große Bedürfnis, sich hinzulegen, weil der Blutdruck sinkt“, berichtet Florian Rainer von der Klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie der Universitätsklinik für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Graz. Die Diagnose selbst wird vor allem über den Puls und weniger über den Blutdruck gestellt. „Der Puls ist das bessere Diagnosekriterium“, sagt Rainer. Aufgrund des niedrigeren Blutdrucks reagiert der Körper mit einer Erhöhung des Pulses. Rainer dazu: „Unter der Therapie kontrolliert man noch einmal, ob diese Pulsanstiege dann ausbleiben oder weniger stark ausgeprägt sind.“

Auslöser diabetische Neuropathie

Im Rahmen eines Diabetes mellitus ist auch ein funktionelles Dumping-Syndrom möglich. „Es kann auftreten, wenn es durch den Diabetes zu einer autonomen Neuropathie kommt. Hierbei kann auch der Nervus vagus mitgeschädigt werden“, erklärt Rainer. Möglich ist auch eine Verletzung des Vagus im Rahmen einer Fundoplicatio – dies stelle aber eher eine Ausnahme dar. Der Vagus steuert die Akkumulationsfähigkeit des Magens und den Pylorus. „Ist dieser Nerv irreversibel verletzt, kann es trotz vorhandenem Pylorus zum Dumping kommen, weil die Akkumulationsfähigkeit eingeschränkt ist“, erklärt Rainer den Zusammenhang. Diese Fähigkeit ist vor allem bei der Aufnahme von Flüssigkeiten wichtig. So existiert auch ein Dumping-Syndrom, das nur bei Flüssigkeiten eintritt – beispielsweise bei zuckerhaltigen Flüssigkeiten. Bei festen Speisen funktioniert die Akkumulation meist besser.

Tritt ein Dumping-Syndrom früh nach einem operativen Eingriff auf, kann es nach Erfahrung von Rainer nach einiger Zeit wieder verschwinden, weil der Magen-Darm-Trakt die Fähigkeit besitzt, zu adaptieren: „Gerade der Dünndarm kann sich anpassen und ist in der Lage, mehr Nahrungsbrei aufzunehmen. Daher kann man zuwarten, ob eine Therapie notwendig ist oder ob sich die Symp-tomatik von alleine bessert.“ Im Auge behalten müsse man jedenfalls die Vitaminversorgung, da beispielsweise Patienten nach einer Magenoperation eine kleinere Aufnahmefläche haben. „Das Dumping selbst ist jedoch nicht die Ursache für einen Nährstoffmangel“, betont Rainer. Besonders zu achten sei auch auf eine adäquate Proteinzufuhr. Mit diätetischen Interventionen könne laut Rainer die Symptomatik deutlich gebessert werden. So sollten beispielsweise kleinere Mahlzeiten konsumiert und keine Flüssigkeiten zu Mahlzeiten getrunken werden. Von Alkohol und Koffein rät der Experte ab.


Diabetes-Therapie als Auslöser

Abgesehen davon, dass eine postprandiale Hypoglykämie eine Folge einer bariatrischen Operation sein kann, kommt es dazu am häufigsten im Rahmen der Behandlung eines Diabetes mellitus. „Meist verursacht durch Insulin oder Sulfonylharnstoffe“, sagt Treiber. Da eine Reihe von Medikamenten für die Diabetes-Therapie zur Verfügung steht, die keine Unterzuckerung auslösen, kann laut Treiber auch erwogen werden, die Therapie zu ändern: „Sulfonylharnstoffe sind in Leitlinien zwar noch abgebildet, aber nicht mehr in erster Linie. Andere Arzneimittel sind vorrangig einzusetzen.“ Auch bei Patienten, die bereits lange Jahre mit Sulfonylharnstoffen therapiert werden, könne man überlegen, umzustellen. Basisinsulin und Sulfonylharnstoff sollten jedenfalls nicht kombiniert werden.


„…als Folge einer metabolischen Operation im Blick haben …“ Univ. Prof. Bernhard Ludvik Klinik Landstraße, Wien


Das Risiko für eine Hypoglykämie ist bei Menschen mit Diabetes mellitus, die sehr streng eingestellt sind, höher, wobei Personen mit Typ 1-Diabetes häufiger betroffen sind. Hat ein Patient einen niedrigen HbA1c-Wert, rät Treiber daher dazu nachzufragen, ob es regelmäßig zu Unterzuckerungen kommt.

Wichtig ist auch die Frage, wie die Hypoglykämien verspürt werden, um eine etwaige Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung zu erkennen. Diese kann vor allem Patienten mit einer nicht ideal eingestellten Insulintherapie betreffen. „Wenn immer wieder Unterzuckerungen auftreten, reduziert sich mit der Zeit die hormonelle Gegenregulation“, erklärt Treiber. Der Patient toleriert dann beispielsweise einen Blutglukosewert von 55, ohne dass es zu den üblichen Warnsymptomen wie Kribbeln, Herzrasen und Schwäche kommt. Ebenso gefährdet für eine Hypoglykämie sind langjährige Typ 1-Diabetiker mit einer Magenentleerungsstörung. „Spritzt sich dieser Patient Insulin vor der Mahlzeit, kann die Unterzuckerung bereits früh eintreten, weil das Insulin wirkt, bevor die Mahlzeit verarbeitet wird“, erklärt Treiber. Ludvik verweist allerdings auf wesentliche Therapiefortschritte: „Patienten mit einer komplexen Insulintherapie wie beispielsweise unter einer Basis-Bolus-Insulintherapie tragen heute in der Regel einen Glukosesensor, der gegebenenfalls einen Alarm abgibt.“

Auch Insulinom als Verursacher

Ein weiterer Auslöser einer wiederkehrenden Hypoglykämie kann auch ein Insulinom sein. Die Inzidenz dieses gutartigen Tumors wird in der Literatur mit ein bis vier Fällen pro eine Million Einwohner pro Jahr angegeben. Durch die Insulinproduktion des Tumors müssen Patienten laufend Nahrung zu sich nehmen, um Hypoglykämien zu vermeiden. In der Folge kommt es zu einer markanten Gewichtszunahme. „Typisch für solche Patienten sind auch Nüchtern-Hypoglykämien“, berichtet Treiber. Bei noch unklarer Diagnose sollte aus ihrer Sicht ein Insulinom jedenfalls ausgeschlossen werden. Diagnostisch wird ein klinischer 72-Stunden-Hungerversuch mit Glukoselösung als Notfall-medikation durchgeführt, wie Ludvik ausführt: „Alle drei Stunden erfolgt dabei die Messung des Insulins und des C-Peptids und der Blutglukose. Der Test wird erst abgebrochen, wenn der Patient symptomatisch ist. Wir nehmen aber auch in diesem Fall nochmals Blutproben.“ Weitere Schritte bei der Diagnostik sind MR oder CT des Pankreas oder eine Endosonografie.

Eine noch seltenere Ursache für postprandiale Hypoglykämien ist das Non-insulinoma pancreato-geneous hypoglycemia syndrome (NIPHS). Dabei kommt es zu einer Erhöhung der Größe und Zahl der pankreatischen Beta-Zellen, in der Folge kommt es zur Hypertrophie und Hyperfunktion. Die dadurch ausgelöste hohe Insulinausschüttung nach einer Mahlzeit führt bei den Betroffenen ebenso typischerweise zu einer Hypoglykämie.


„…genaue Erfassung der Ernährungsgewohnheiten …“ Priv. Doz. Gerlies Treiber Medizinische Universität Graz


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2024