Kinder und Jugendliche mit Typ 1-Diabetes: Häufig psychisch krank

25.03.2024 | Medizin

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Typ 1-Diabetes hat sich in den vergangenen 30 Jahren verdreifacht.  In Österreich sind rund 4.000 Kinder und Jugendliche davon betroffen. Häufig zeigen sich – je nach Altersgruppe – auch psychische oder psychiatrische Komorbiditäten wie Depressionen, Ängste oder Essstörungen.

Peter Bernthaler

Die Behandlung der Grunderkrankung respektive Komorbiditäten erfolgt im Idealfall durch multidisziplinäre Teams. Doch gerade hier mangle es „durchgehend“ an finanziellen und personellen Ressourcen, konstatiert Univ. Prof. Birgit Rami-Merhar, Leiterin der pädiatrischen Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien.

Waren im Jahr 1989 zehn Kinder/Jugendliche auf 100.000 von Typ 1-Diabetes betroffen, hat sich die Zahl im Laufe der 2.000er-Jahre etwa verdoppelt. So wurde 2021 in Österreich ein Höchstwert mit einer Inzidenz von 28,7 pro 100.000 registriert. Wenn sich die Kurve seither auch etwas abgeflacht hat, ist sie dennoch weiterhin auf einem „hohen Niveau“, so die Expertin.

Einen Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion oder der Impfung lasse sich wissenschaftlich nicht feststellen, betont Rami-Merhar. „Im Jahr 2021 war die Impfung de facto noch kein Thema, weil der Impfstoff für unter 16-Jährige erst mit Ende November, Anfang Dezember überhaupt zugelassen und freigegeben worden ist. Somit kann ziemlich sicher ausschlossen werden, dass die Impfung hier irgendeine Rolle gespielt hat.“ Was jedoch möglicherweise einen Einfluss gehabt hat, ist die Tatsache, dass die Kinder zu Beginn der Pandemie im Home-Schooling waren und gar keine Infekte hatten. Erst als sie wieder in den Kindergarten oder in die Schule gehen durften, zeigten sich nicht nur Infektionen mit SARS-CoV-2, sondern auch mit RSV und Influenza. „Dabei waren die Verläufe auch sehr atypisch von der Saisonalität. Vielleicht spielt das eine gewisse Rolle“, sagt Rami-Merhar.

Autoimmunerkrankung Typ 1-Diabetes

Dass sich der Höchstwert von 2021 auf Home-Schooling oder fehlende körperliche Aktivitäten zurückführen ließe, verneint auch Priv. Doz. Elke Fröhlich-Reiterer, Leiterin der pädiatrischen Diabetologie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Graz. Sie verweist darauf, dass es sich bei Typ 1-Diabetes um eine Autoimmunerkrankung handelt und daher „nicht auf fehlende körperliche Aktivitäten zurückgeführt werden kann“. Ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Typ 1-Diabetes ist vor allem bei erstgradig Verwandten wie den Eltern, Geschwistern oder Kindern gegeben und liegt bei rund sieben Prozent Kleinkinder verstehen die Problematik und Tragweite, an Diabetes mellitus erkrankt zu sein, noch nicht gut. Dazu Fröhlich-Reiterer: „Für sie ist natürlich das Spritzen, Insulinpumpen-Katheter-Setzen oder Finger-Pieksen ein Thema. Sie gewöhnen sich an die Therapie, weil die Eltern mit ihnen die Therapie durchführen. Hier ist es eher eine große psychische Belastung für die Eltern, wenn kleine Kinder Diabetes haben.“

Fast jeder Zweite betroffen

46,3 Prozent der Insulin-pflichtigen Jugendlichen mit Typ 1-Diabetes, die das Insulin verringerten oder wegließen, leiden an psychischen Problemen (Vergleichsgruppe, in der Insulin korrekt verabreicht wurde: 17,5 Prozent). Deutlich häufiger waren Depressionen (18,3 vs. 4,9 Prozent), spezifische Ängste (21,1 vs. 2,9 Prozent), soziale Ängste (7,0 vs. 0 Prozent) und Essstörungen (12,7 vs. 1,9 Prozent), wie aus einer im Jahr 2018 in „Pediatric Diabetes“ veröffentlichten Studie hervorgeht. Aufgrund der psychischen Probleme kam es in der Folge häufiger zu Komplikationen: So war insgesamt die Blutzuckerkontrolle schlechter und schwere Hypoglykämien traten häufiger auf.

Weiters zeigte sich ein Gender-Effekt: Bei jungen Mädchen wurde häufiger eine psychische Begleiterkrankung diagnostiziert als bei den jungen Männern. Beispielsweise waren Mädchen mit Typ 1-Diabetes doppelt so häufig von Essstörungen betroffen wie gesunde Mädchen. Häufig wird eine Essstörung gleichzeitig mit der Diagnose „Depression“ festgestellt. Ganz generell sind die metabolischen Werte bei Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren schlechter als bei den Burschen. Dazu Rami-Merhar: „Das ist aber kein reines Compliance-Thema, sondern es spielen hier auch hormonelle Faktoren und Schwankungen eine wichtige Rolle. Der Zyklus ist ein Feld, in dem es bis jetzt nur ganz wenig Forschung gibt.“

„Essstörungen gehen nicht in Richtung Anorexie, sondern sind den Eating Disorders Not Otherwise Specified, also unspezifischen Essstörungen, zuzuordnen“, führt Rami-Merhar weiter aus. Und sie nennt Red flags, die für psychische Komorbiditäten definiert werden können: Armut, Arbeitslosigkeit der Eltern/vor allem des Vaters, hohe HbA1c-Werte, Ketoazidosen und Stoffwechselent gleisungen, die nach der Diagnose auftreten; vier oder mehr Kinder, die in einem Haushalt leben, Alleinerziehende, Asyl- oder unklarer Aufenthaltstitel, Sprachbarriere, Mobbing, Unfälle, psychische Erkrankung der Eltern, Trennung der Eltern etc. „Daneben gibt es aber auch positive Faktoren, wenn der Betreffende beispielsweise eine Lehrstelle findet oder ein Geschwisterkind zur Welt kommt“, so die Expertin.

Was die psychosozialen Faktoren von Typ 1-Diabetes im Kindes- und Jugendalter betrifft, gilt als gesichert, dass diese „die Einstellungsqualität und die Stoffwechselkontrolle entscheidend beeinflussen. Auch haben die angesprochenen Parameter einen wesentlichen Einfluss auf die Langzeitmorbidität und sogar auf die Mortalität“, betont Rami-Merhar.

Kinder und Jugendliche mit Typ 1-Diabetes „sollten immer in einem Zentrum und von einem multidisziplinären Team betreut werden“, stellt Fröhlich-Reiterer fest. Dieses Team besteht aus Fachärzten für Kinder- und Jugendheilkunde mit Spezialisierung in Pädiatrischer Diabetologie und Endokrinologie, aus diplomierten Kinderkrankenpflegern mit einer speziellen Ausbildung zum Diabetesberater, Diätologen, Psychologen und Sozialarbeitern. Bei der Erst-Diagnose eines Typ 1-Diabetes „werden die betroffenen Kinder eine Woche stationär behandelt und immer von einer Psychologin betreut“, so Fröhlich-Reiterer.


3 Fragen an … Univ. Prof. Birgit Rami-Merhar

Kommen bei Jugendlichen mit Typ 1-Diabetes Hypoglykämien oder Hyperglykämien häufiger vor? Rami-Merhar: Hyperglykämien sind sicher häufiger. Erfreulicherweise ist die Zahl der schweren Hypoglykämien deutlich zurückgegangen aufgrund der verbesserten Sensoren und der automatischen Insulinabschaltung. So können die diesbezüglichen Ängste stark reduziert werden. Schwere Hypoglykämien sind sehr selten geworden. Als Notfall-Medikament kommt Glukagon zum Einsatz, entweder i.m. oder auch als Nasenspray. Wir trainieren die Patienten darauf, ihre Hypoglykämie-Symptome zu beachten. 99,5 Prozent der Kinder, die wir betreuen, haben einen Sensor. Wenn dieser getragen wird, schlägt er auch Alarm. Es muss schon ein grober Fehler passieren, dass es zu einer schweren Unterzuckerung kommt.

Wie sieht es mit Ketoazidosen aus: Welche Rolle spielen sie? Das Hauptproblem ist ganz generell, dass die Diagnose Typ 1-Diabetes oft viel zu spät gestellt wird und dann schon sehr oft bei Diagnose auch eine diabetische Ketoazidose vorliegt. In der Pandemie sind die Zahlen extrem gestiegen. Davor hatten wir mehr als 20 Jahre eine diabetische Ketoazidose-Rate von etwa 37 bis 38 Prozent. Bis 2019 ist die diabetische Ketoazidose-Rate auf etwa 44 Prozent bei der Erstdiagnose gestiegen. Im Lockdown war die Rate noch höher. Bei Kindern kann es relativ rasch zu einer diabetischen Ketoazidose kommen, die ganz generell lebensbedrohlich ist. Die typischen Symptome sind Polyurie, Polydipsie, Gewichtsverlust, Müdigkeit und Wieder-Einnässen etc.

Wie sollte man vorgehen? Bei typischen Symptomen eines Diabetes bei Kindern und Jugendlichen sollte sofort man den Blutzucker bestimmen oder den Harnzucker, wenn kein Blutzucker-Messgerät verfügbar ist. Es ist meist nicht nötig, dass das Kind zuerst ins Labor geschickt wird. Liegt der Blutzucker-Wert > 200 mg/dl, sollte noch am gleichen Tag an eine Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde überwiesen werden. So kann die Rate der lebensbedrohlichen diabetischen Ketoazidosen deutlich reduziert werden.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2024