Altersassoziierte Gangstörungen: Multifaktoriell bedingt

25.03.2024 | Medizin

Altersassoziierte Gangstörungen betreffen mehr als die Hälfte der über 80-Jährigen. Sie können neben orthopädischen und neurologischen Ursachen auch kardiologisch oder psychiatrisch bedingt sein. Aus neurologischer Sicht treten am häufigsten eine sensorische Ataxie im Rahmen einer Polyneuropathie und hypokinetische Gangstörungen bei Parkinson-Syndrom oder Demenz auf.

Peter Bernthaler

Mehr als 50 Prozent der über 80-Jährigen sind von Gangstörungen betroffen; ab 75 Jahren lässt sich eine deutliche Zunahme feststellen. Gangstörungen im Alter sind häufig multifaktoriell bedingt: Neben orthopädischen oder neurologischen Voraussetzungen sind Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, orthostatische Hypotension oder Lungenkrankheiten wie COPD damit assoziiert. Als Gangstörungen lassen sich u.a. ein sehr kleinschrittiges Gangbild bei Parkinson-Syndromen, ein breitbasiges und sensorisch-ataktisches Gehen zum Beispiel bei Polyneuropathie, ein zerebellär-ataktisches Gangbild bei Funktionsstörungen des Kleinhirns, eine antalgische Gangstörung – ein durch Schmerz beeinträchtigter Gang, etwa Hinken, oder eine vestibulär bedingte Gangstörung beispielsweise mit Abweichen von einer geraden Linie beim Gehen benennen. „Auch Demenz und kognitive Defizite zählen zu einer Gruppe von Syndromen, die mit Gangstörungen, Sarkopenie oder mit Stürzen assoziiert ist“, so Univ. Doz. Willi Gerschlager, Facharzt für Neurologie in Wien.

Im Rahmen eines idiopathischen Parkinson-Syndroms ist zu beachten, dass eine begleitende Gangstörung eher später auftritt und somit nicht als Frühzeichen der Erkrankung bewertet werden kann. Als erste Anzeichen beim Gehen könne man jedoch bemerken, dass beispielsweise „ein Arm weniger mitbewegt wird, dass ein Bein beim Gehen weniger angehoben oder ein bisschen nachgeschliffen wird oder dass das Umdrehen nur wenig flüssig oder nur abgesetzt funktioniert“, sagt Gerschlager. Treten derartige Frühzeichen erkennbar im Gangbild auf, sollte laut Gerschlager unmittelbar eine Abklärung der Symptome folgen. Eine dopaminerge Therapie mit Levodopa wirkt sich zwar positiv auf Gangstörungen beim idiopathischem Parkinson-Syndrom aus, jedoch weniger auf das Gleichgewichtsempfinden. Ergänzend werden aus diesem Grund Physiotherapie und Gleichgewichtstraining, Übungen zur Gangstabilisierung und zur Steigerung der Muskelkraft sowie Ausdauertraining empfohlen.

Psychiatrische Krankheiten wie Depression oder Angst gelten als weitere Risikofaktoren für Gangstörungen. Angstreaktionen in Folge von Stürzen führen oft zu übervorsichtigen Gehbewegungen. Das Gangbild wird als breitbasig und gleitschrittig beschrieben. „Angst ist einerseits eine Strategie zur Vermeidung von Stürzen und daher manchmal nicht unberechtigt. Andererseits ist ein Zuviel an Angst damit verbunden, dass sich das Gehen verschlechtert. Aus Unsicherheit bewegt sich der Patient weniger, übt weniger und die Gangstörung kann sich verschlimmern“, wie Gerschlager anmerkt. Als medikamentöse Therapie kommen Antidepressiva zum Einsatz, die idealerweise durch eine Physiotherapie ergänzt werden.

Gangstörungen nach Schlaganfall

Infolge eines Schlaganfalls weisen 60 Prozent der Patienten eine Gangstörung auf. Bei einer Hemiplegie oder Hemiparese kommt es zu Auswirkungen in den Extremitäten: So weist bei einer Hemiparese das Bein einen erhöhten Muskeltonus auf; die Konsequenz ist eine spastische Gangstörung. Beim Gehen wird das Bein nach lateral bewegt und in der Folge nach einwärts gesetzt. Weitere Folgen nach Schlaganfall sind posturale Instabilität oder kognitive Defizite bei der Konzentration und Aufmerksamkeit, die gleichfalls ursächlich bei Gangstörungen oder auch Stürzen sein können. Gerschlager dazu: „Wir wissen, dass beispielsweise nach Schlaganfall oder auch bei Parkinson und Demenz Strategien zur Sturzvermeidung nicht mehr so gut greifen. Strategisches Denken wie ‚Safety first‘, zum Beispiel wie man eine gefährliche Stelle vermeidet, funktionieren häufig nur mehr herabgesetzt.“

Vaskuläre Risikofaktoren wie Hypertonie, Rauchen und/oder Alkoholkonsum stehen bei neurologisch verursachten Gangstörungen an erster Stelle. „Gefäß-schädigende Faktoren beeinflussen im Alter die Kognition negativ und damit auch die Gangstörungen“, betont Gerschlager. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf alkoholbedingte Polyneuropathien, die in extremen Fällen zum Beispiel zu einer zerebellären Ataxie mit Beeinträchtigung der Bewegungskoordination und des Gleichgewichts führen können.


Gangstörungen bei M. Parkinson

  • mehr als 90 Prozent der Patienten weisen eine Gangstörung auf
  • gestörtes Gleichgewicht, asynchrone Schrittfolgen
  • Erscheinungsbild: Starthemmung, „Freezing“
  • hohes Sturzrisiko
  • Therapie: Muskelaufbau und Training des Gleichgewichts

Aus orthopädischer Sicht bedingt jede Achs- oder Gelenksdeformität eine Gangstörung oder zumindest Gang-Asymmetrie. Fehlstellungen des Fußes, die zu sehr komplexen Gangstörungen führen können, sind Spitz- oder Klumpfuß-Fehlstellung, degenerativer Plattfuß, Senk-Spreizfußentstehungen oder Ballenhohlfuß.

Ballenhohlfuß neurologisch abklären

Spitz- oder Klumpfüße können häufig relativ leicht durch kleinere operative Eingriffe korrigiert werden, indem zum Beispiel die Achillessehne verlängert wird. Demgegenüber ist der Ballenhohlfuß jedoch „fast immer“ eine Folge einer neurologischen Störung, meint Univ. Doz. Rainer Biedermann von der Universitätsklinik für Orthopädie und Traumatologie an der Medizinischen Universität Innsbruck: „Es müssen immer die Alarmglocken läuten, wenn ein Patient mit einem Ballenhohlfuß vorstellig wird.“ Eine neurologische Abklärung sollte laut dem Experten in diesem Fall „unbedingt“ durchgeführt werden.

Der Ballenhohlfuß entsteht durch eine Schwächung der Extension im Bereich des vorderen Schienbeinmuskels. Es kommt zu einer zusätzlichen Rekrutierung des Zehenhebers und zu einer Überhöhung des Fußgewölbes, wobei der erste Mittelfußknochen nach unten in Richtung Fußsohle sticht. Bei Chronifizierung kommt es zur Überlastung im Bereich des ersten Mittelfußknochens, zu einer Hyperextensions-Fehlstellung im Großzehengrundgelenk und damit zu einem Hohlfuß.

Mögliche Ursachen sind u.a. spinaler Tumor, periphere Neuropathien, Friedreich-Ataxie und/oder hereditäre Erkrankungen, zentral- oder peripher-neurologische Ursachen.

Auch Arthrosen im Bereich des Knie- oder Hüftgelenks führen zu Bewegungseinschränkungen bis hin zu Gangstörungen. Als erste Maßnahme ist hier nach Möglichkeit das Beibehalten der Gelenkbeweglichkeit anzustreben, so Biedermann: „Auch mit höherem Alter ist es sehr wohl noch möglich, durch Training und Krafttraining muskuläre Kraft in einem hohen Prozentsatz zuzugewinnen. Es gibt sehr moderne Therapieansätze, die mit körpereigener Kraft und statischem Halten von Stellungen arbeiten.“ Als Beispiel für Rumpfkräftigung nennt er: Der Patient liegt am Rücken, Beine (angewinkelt) und Schulterblätter werden vom Boden abgehoben und diese Stellung für etwa 30 Sekunden gehalten. Eigengewicht und Kraft gepaart mit wenigen Wiederholungen erlauben, gezielt die Extremitätenmuskeln zu trainieren. Eine einmalige Übungseinheit pro Woche für Strecker- und Beugerseite dient dem Erhalt, eine (oder mehrmalige) Wiederholung bewirkt eine Steigerung der Kraft.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2024