ADHS und ADS: Hohe Persistenzrate

25.02.2024 | Medizin

Bei einem beträchtlichen Teil der Jugendlichen bestehen die Symptome der ADHS nach der Adoleszenz weiterhin – wenn auch in etwas veränderter Form. Dass ADHS im Erwachsenenalter erstmals ausbricht, kommt selten vor. Von der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung sind Mädchen tendentiell häufiger betroffen.

Martin Schiller

Bei rund einem Drittel der Kinder und Jugendlichen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) persistiert die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. Außerdem besteht bei einem erheblichen Teil eine Rest-Symptomatik mit Einschränkungen hinsichtlich Ausbildungs- und Berufserfolgen. „Ein Neuausbruch von ADHS im Erwachsenenalter ist selten. Bei den meisten Patienten hat es bereits in der Jugend entsprechende Tests gegeben und die Symptome traten in der Regel schon in der Schulzeit auf“, sagt Assoc. Prof. Martin Aigner, Leiter der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Universitätsklinikum Tulln.

Erwachsene mit ADHS sind nicht durch körperliche Hyperaktivität gekennzeichnet, sondern durch innere Unruhe und zum Teil Fahrigkeit. Häufig kommt es auch zu Impulskontrollstörungen. Die Aufmerksamkeitsspanne ist – trotz entwicklungsbedingter Erhöhung – im Vergleich zu Gleichaltrigen immer noch niedriger. Eine 2015 publizierte dänische Studie ergab für ADHS-Patienten außerdem eine geringere Lebenserwartung. Aigner interpretiert diese Ergebnisse da-hingehend, dass durch ausgeprägte Impulsivität und das Defizit an Aufmerksamkeit ein erhöhtes Unfallrisiko besteht. Ebenso spiele das Thema Suchterkrankungen eine Rolle. „Außerdem ist bei vielen Betroffenen die Angst vor bestimmten Dingen und Situationen, die durchaus eine gewisse Nützlichkeit hätte, geringer ausgeprägt.“ Die Prävalenz nimmt erst im späteren Erwachsenenalter ab. Eine ausgeprägte Awareness für die Erkrankung nach der Jugend sei jedenfalls notwendig. Aigner sieht diesbezüglich auch bereits Verbesserungen: „Früher hat man die Diagnose ADHS nicht ins Erwachsenenalter mitgenommen. Man verortete die Erkrankung als ‚Zappelphilipp-Syndrom‘ und ging davon aus, dass diese Hyperaktivität nur in sehr jungen Jahren auftritt.“ Heute hingegen werde dem Thema mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Besonders im Blick haben sollte man laut Aigner das Transitionsalter, eine Übergangsphase, in der sich Jugendliche und junge Erwachsene mit der Erwachsenenpsychiatrie synchronisieren: „Von einem fertig entwickelten Menschen spricht man heute erst in einem Alter von 25 bis 30 Jahren.“

Strukturierung verzögert Diagnose

Um die Diagnose ‚ADHS im Kindesalter‘ stellen zu können, sind mehrere Sitzungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig, wie Univ. Prof. Isabel Böge, Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am LKH Graz II, Medizinische Universität Graz, ausführt: „Insgesamt sind drei bis fünf Termine für Tests, ausführliche Anamneseerhebung und Beobachtung des Kindes erforderlich. Hinzu kommen mehrere Gespräche, falls eine medikamentöse Einstellung nötig ist.“


„…Medikation in sozialen Rahmen einbetten…“ Assoc. Prof. Martin Aigner Universitätsklinikum Tulln


Der Beginn von ADHS liegt laut Böge meist schon im Kindergartenalter, die Diagnose werde aber oft erst später gestellt. „Kinder mit ADHS können sich selbst nicht strukturieren oder fokussieren. Wenn Eltern oder andere enge Bezugspersonen aber gut gegenregulieren und dem Kind Struktur geben, treten die Symptome erst bei steigenden Anforderungen auf“, erklärt die Expertin. Dies könne zum Beispiel beim Schuleintritt der Fall sein. Auch beim Wegfallen von Strukturen – etwa, wenn sich die Eltern trennen – könnten die Symptome zum Vorschein kommen. Die betroffenen Kinder werden auffällig, indem sie meist sehr unaufmerksam sind, ständig in Bewegung sein wollen und zur Impulsivität neigen. Auch Komorbiditäten können sich entwickeln. „Die Kinder leiden durch Misserfolgserlebnisse. Sie kommen mit ihrem hyperaktiven Verhalten nicht gut bei anderen an und haben Leistungsschwierigkeiten. Dadurch kann es zu Aggressionen und Depressionen oder zur Kreuzüberlappung mit einer Störung des Sozialverhaltens kommen. Auch Autismus und ADHS treten gehäuft gemeinsam auf.“

Während ADHS mit Hyperaktivität und Impulsivität eher Buben betreffe, dürfe man laut Böge ein Aufmerksamkeitsdefizit bei Mädchen nicht übersehen. Sie seien „tendentiell häufiger“ als Buben von einer Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADS) betroffen. Dabei kommt es zu Problemen bei Konzentration und Aufmerksamkeit, aber ohne Hyperaktivität. „ADHS ist auffälliger, weil sie mehr nach außen getragen wird“, sagt Böge. Aigner ergänzt, dass neben Unkonzentriertheit auch Vergesslichkeit und Verträumtheit oft Anzeichen einer ADS sind. „Solche Menschen sind außerdem meist überempfindsam, schüchtern und hilfsbereit. Manchmal tritt Ängstlichkeit auf.“


Kurze Aufmerksamkeit: Trend der Zeit

Häufig stellt sich auch die Frage nach der Einordnung von kurzen Aufmerksamkeitsspannen. Martin Aigner mahnt diesbezüglich zur Zurückhaltung. Vielen Kindern und Jugendlichen falle es zwar zunehmend schwerer, eine lange Aufmerksamkeitsspanne zu halten, wie sie zum Beispiel in der schulischen Ausbildung notwendig sei. „Diese Spannen sind aber oft dem Trend der Zeit geschuldet und nicht zwingend mit ADHS verbunden“, meint er. Speziell Jugendliche seien heute andere Informationsgeschwindigkeiten gewöhnt und man verlangt von ihnen auch andere Aufnahmegeschwindigkeiten. Isabel Böge sieht eine Differenzierung vor allem zu randständiger ADHS als „nicht immer leicht“ an. So habe ein sechsjähriges Kind natürlicherweise nur eine Aufmerksamkeitsspanne von zehn bis 15 Minuten. „Leidet ein Kind an ADHS, kann es sich nicht einmal für mehrere Minuten auf das Lieblingsspiel auf dem Smartphone konzentrieren“, stellt sie anhand eines Beispiels den Unterschied dar.


Eine mögliche Differentialdiagnose zu ADHS stellt die Bindungsstörung dar. „Sie betrifft gehäuft Kinder, die emotional oder sozial vernachlässigt werden. Eine Störung des Sozialverhaltens bis zum älteren Kindes- und Jugendalter kann ein ähnliches Bild wie ADHS abgeben“, sagt Böge. Auch Traumafolge-Störungen, die sich in Form einer starken Konzentrationsstörung äußern, kämen als Differentialdiagnose in Betracht.

Psychoedukation vor Medikation

Die Behandlung der ADHS erfolgt im Rahmen eines multimodalen therapeutischen Konzeptes. Es umfasst psychosoziale Interventionen, Psychoedukation der Erziehungsberechtigten und Pharmakotherapie. „Zunächst wird geprüft, wieviel mit verhaltenstherapeutischen Methoden, Schulung der Eltern und einem nach der Diagnose veränderten Umgang durch Pädagogen erreicht werden kann“, sagt Böge. Mit den Eltern sind auch Einzeltermine ohne Beisein des Kindes wichtig, um schwierige Situationen des Alltags durchzusprechen. Für die medikamentöse Therapie gelte das Prinzip „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“.

Die schnellste Wirkung wird mit Methylphenidat erzielt. Nach Ansicht von Böge sollte versucht werden, das Kind so einzustellen, dass der Schulalltag (Schulzeit plus Hausübungszeit) gut von der Wirkung erfasst wird. „Das Kind muss nicht generell ruhiggestellt werden. Für ein nachmittägiges Fussball-Training benötigt man zum Beispiel keine Wirkung mehr.“ Präparate, die mehr als 24 Stunden wirken, sind laut Böge nur bei Kindern sinnvoll, die mit ihrer Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit gar nicht mehr zurechtkommen. „Hier kommen häufig Antidepressiva zum Einsatz, die in bestimmter Dosierung gut auf ADHS wirken.“ Da sich die Symptome mit fortschreitendem Alter von selbst zurückentwickeln können (ADHS wird als Symptom einer verlangsamten Reifung des Gehirns gesehen), sind laut Böge auch immer wieder Auslassversuche der Medikation empfohlen. Aigner rät dazu, zusätzlich zur medikamentösen Therapie Aufmerksamkeitstrainings durchzuführen. Im späteren Jugendalter und im Erwachsenenalter wiederum ist die Einbettung der Medikation in einen sozialen Rahmen wichtig: „Nach Verschreibung des Arzneimittels sollte begleitend darauf geachtet werden, dass die Betroffenen in einer regelmäßigen Ausbildung sind oder einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.“


„…Komorbiditäten wie Depressionen möglich…“ Univ. Prof. Isabel Böge Medizinische Universität Graz


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2024