Portrait Anne Hecksteden: Fordern, ohne zu überfordern

25.09.2023 | Politik

Regenerationsdefizite vermeiden und Hochrisiko-Konstellationen für eine Verletzung beim Sport frühzeitig erkennen – das ist möglich mit Hilfe einer App, die die Sportmedizinerin Anne Hecksteden entwickelt hat. Fußballtrainer sehen das individuelle Belastungsprofil jedes Mannschaftsmitglieds und können so fordern, ohne zu überfordern.

Ursula Scholz

Die finale Entscheidung, wie ein Spieler eingesetzt wird, liegt immer beim Trainer“, das zu betonen, ist Univ. Prof. Anne Hecksteden wichtig. Und sie ergänzt: „Wir liefern die Datenbasis dazu.“ Mit ihrem Team hat die erste Innsbrucker Sportmedizin-Professorin – der gemeinsame Lehrstuhl von Leopold-Franzens-Universität und Medizinischer Universität Innsbruck wurde erst im Vorjahr installiert – auf Basis von statistischen Verfahren und mit Hilfe von Machine Learning eine App entwickelt, auf der Fußballtrainer das individuelle Belastungsprofil jedes Mannschaftsmitglieds einsehen können. Anhand dieses Profils und ihres Ermessens setzen sie den Spieler dann ein. „Die Trainer beziehen letztlich auch nicht messbare Parameter in ihre Entscheidung ein“, erklärt Hecksteden. „Steht beispielsweise für einen Athleten das Match des Lebens an, wird er vielleicht auch bei nicht optimaler Datenlage spielen.“ Die Athleten selbst haben keine App auf ihrem Handy installiert; sie liefern nur regelmäßig ihre Daten und erhalten dafür Links zu den für sie zuvor individualisierten Fragebögen.

Regenerationsdefizite vermeiden

Um derart individualisierte Aussagen treffen zu können, wird die App nicht nur mit den Grunddaten wie Alter des Athleten, Spielposition und Verletzungsanamnese gefüttert. Zunächst wird auch ein „Movement Screening“ absolviert, bei dem vorgegebene Bewegungen ausgeführt und analysiert werden. Registriert wird dabei, wie weit ein Spieler in der Bewegung kommt (beispielsweise beim Y-Balance Test) und ob dabei Schmerzen auftreten. Zusätzlich zu diesem eher zeitstabilen Status der neuromuskulären Bewegungsqualität erfolgt täglich ein Monitoring und morgens wird dokumentiert, wie lange der Spieler geschlafen hat und wie fit er sich nach dem Aufwachen fühlt.

Abends trägt er dann sein absolviertes Trainingspensum ein. „Der Zeitaufwand dafür liegt bei weniger als einer Minute“, betont die Sportmedizinerin. Diese Angaben werden von grün bis rot in ein Dashboard optisch „übersetzt“, anhand dessen der Trainer entscheiden kann, ob für den Tag danach ein Sprinttest angesagt ist oder eher ein Waldlauf. Der Spieler kann somit „auf Kante“ trainieren bei gleichzeitig minimiertem Verletzungsrisiko. „Ziel ist es, akkumulierende Regenerationsdefizite und Hochrisiko-Konstellationen für Sportverletzungen frühzeitig zu erkennen, die dazu beitragen, dass Athleten krank werden oder sich verletzen“, erläutert Hecksteden.

Erfahrung als Leistungssportlerin

Die in Mutlangen bei Stuttgart aufgewachsene Hecksteden ist selbst keine Fußballerin, aber sie blickt auf Erfahrungen als Leistungssportlerin zurück: Als Inline-Speedskaterin wurde sie mehrfach deutsche Meisterin und trat auch noch als fertig ausgebildete Ärztin zu Bewerben an. „Meine letzte Wettkampfsaison war im Jahr 2004. Im Jahr danach bin ich dann erstmals Mutter geworden.“ Noch heute sportelt die mittlerweile dreifache Mutter in ihrer Freizeit, geht wandern oder reitet aus. Das Innsbrucker Ambiente hat in ihr auch ein Interesse für Ski-Touren geweckt, aber dafür, meint Hecksteden, seien ihre Fähigkeiten als Ski-Fahrerin – noch – nicht ausreichend. Die Lebensqualität in Innsbruck weiß sie zu schätzen: „Man kann in der Stadt wohnen und ist trotzdem in einer Viertelstunde auf den Bergen.“ In ihrer Jugend ist die heute 47-Jährige auch Vielseitigkeits-Turniere geritten und die Affinität zu Pferden ist geblieben. Ein Pony ist mit ihr und der Familie aus dem Saarland nach Tirol übersiedelt.

Bestimmung gefunden

Vor dem Ortswechsel nach Innsbruck hat sich ihre gesamte berufliche Karriere vom Studienbeginn weg auf das Saarland, das kleinste deutsche Bundesland, fokussiert. Hier hat sie sich hartnäckig und konsequent von der wissenschaftlichen Hilfskraft bis zur Stellvertreterin des Ärztlichen Direktors in klinischen Belangen hochgearbeitet. Nach ersten Forschungserfahrungen in den Bereichen Anatomie und Neurophysiologie hat sie zu ihrer eigentlichen Bestimmung gefunden: der Sportmedizin. „Ich wollte immer schon in die Wissenschaft gehen“, erzählt Hecksteden. „An der Medizin hat mich dann die Breite fasziniert und die konkrete Anwendungsmöglichkeit.“ Zusätzlich zum Studium absolvierte sie auch das Graduiertenkolleg „Zelluläre Regulation und Wachstum“. Zuletzt war Hecksteden fast eineinhalb Jahrzehnte am Institut für Sport- und Präventivmedizin an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken beschäftigt. Dort startete sie auch mit der Fußballforschung: Ihre beiden früheren Vorgesetzten Wilfried Kindermann und Tim Meyer waren und sind Mannschaftsärzte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.

Auch privat hat sie in Bliesgau im Saarland ihren Kraftort gefunden: ein 200 Jahre altes Bauernhaus in einer „Toskana-ähnlichen Landschaft“, in dem die Familie nun zwar nicht mehr wohnt, aber noch Urlaub macht.

Verletzungsprävention im Frauenfußball

Aktuell beschäftigt sich Hecksteden mit einer Anpassung ihrer bisherigen Erkenntnisse zur Verletzungsprävention im Fußball an den Frauenfußball. Dazu hat sie zusammen mit ihrem Kollegen Friedemann Schneider ein Projekt auf die Beine gestellt, bei dem der ÖFB (Österreichischer Fußball-Bund) den Zugang zu den Spielerinnen organisiert, deren Daten dann einer hochkomplexen sportmedizinischen Interpretation unterzogen werden.

Vorüberlegungen, aber noch kein konkretes Projekt, gibt es in puncto Übertragbarkeit der „Fußballer-App“ auf den Alpinsport. Besonders beim Ski-Sport kommt es oft zu großen Verletzungen, deretwegen die Athleten häufig für längere Zeit ausfallen.

Schon weiter gediehen ist eine Forschungskooperation mit deutschen und niederländischen Fußball-Experten. Hier wird mit „Hybrid Intelligence“ gearbeitet. Dabei werden die erhobenen Verletzungsdaten mit der Expertise von Trainern, Physiotherapeuten und Unfallchirurgen in Beziehung gesetzt. „Bei der Verletzungsforschung für den Spitzensport limitieren die kleinen Fallzahlen das datengetriebene Lernen. Wir führen daher Statistik und Experteninterviews zusammen.“ Eine Erweiterung auf länger zurückliegende Verletzungen oder Vorkommnisse in niedrigeren Ligen kommt aufgrund der mangelnden Vergleichbarkeit nicht in Frage.

In der Antragsphase befindet sich auch ein Projekt für individualisiertes Training für Menschen mit Lebensstil-bedingten chronischen Erkrankungen – inklusive Anpassung an ihre jeweilige Medikation. Im Zuge dieser Studie sollen Patienten untersucht werden, die erstmalig eine Statintherapie erhalten und parallel dazu ein optimiertes Sportprogramm absolvieren.

Studie zur Trainierbarkeit

Hätte Anne Hecksteden unbeschränkt Ressourcen zur Verfügung, wüsste sie sofort, wozu sie diese nutzen würde: „Ich würde eine ganz große Studie dazu machen, wie unterschiedlich trainierbar Menschen von Natur aus sind. Alle Probanden würden ein halbes Jahr lang ein standardisiertes Sportprogramm absolvieren, pausieren und dann nochmals trainieren. Dann würden wir die Ergebnisse evaluieren.“ Denn nicht nur Spitzensportler verfügen über ein einzigartiges Leistungsprofil, sondern jeder einzelne Mensch.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2023