Interview Stefan Kastner: „Das Gesundheitswesen ist krank“

10.11.2023 | Politik

Der Mangel im Gesundheitswesen ist da und es fehlen langfristige Strategien, hier etwas zu ändern – so beurteilt der Präsident der Ärztekammer Tirol, Stefan Kastner, den aktuellen Zustand des Gesundheitssystems. Und der aktuelle Finanzausgleich sei genau das Gegenteil von dem, was man wolle, sagt er im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner.

Das Gesundheitssystem kommt nicht aus den Schlagzeilen – meist sind es negative. Wie geht es Ihnen damit? Man hat oft den Eindruck, das Gesundheitswesen ist krank. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn Menschen keinen Termin für eine Behandlung im Krankenhaus bekommen, und wenn Patienten nach Hause entlassen werden sollen, aber die weitere Betreuung nicht gesichert ist und wenn Patienten verzweifelt auf der Suche nach einer niedergelassenen Ärztin oder einem Arzt sind. Wir sind in einer Mangelversorgung angekommen. Die Ressource Pflege ist knapp, die Ressource Arzt ist knapp. Was fehlt, sind langfristige Strategien, hier etwas zu ändern. Zum sinnvollen Einsatz der Ressourcen wurde in der Gesundheitsreform 2013 das Schlagwort ‚best point of care‘ als zentrales Anliegen vorgestellt. Wir wissen bis heute nicht, wo dieser ‚best point of care‘ ist.

Woran liegt das? Weil man nicht definieren will, was der ‚best point of care‘ ist. Wir wissen nicht: Was kostet eine Leistung im niedergelassenen Bereich? Was kostet sie im Spitalsbereich? Ohne diese Definition kann auch eine notwendige Patientensteuerung das Ziel nicht finden. Aber genau diese Steuerung des Patienten fehlt im System. Und die Patienten gehen dorthin, wo sie maximale Versorgung erwarten. Früher konnte man mit dem Krankenschein in einem Quartal ohne weitere Überweisung nur zu einem Allgemeinmediziner, zu einem Facharzt und zu einem Zahnarzt. Mit der Einführung der E-Card ist diese Steuerung weggebrochen.

Warum hat man den ‚best point of care‘ nicht definiert? Das eine sind die Kosten. Man muss hier ganz klar unterscheiden: Was kostet eine Leistung den Financier und was kostet sie real. Und die nächste Frage ist dann: Wer zahlt den Abgang? Das Land oder der Bund? Ein zweiter Grund, warum man diesen ‚best point of care‘ noch nicht definiert hat, ist: Durch unsere verschiedenen Finanzierungsströme ist das Interesse, zu wissen, was es kostet, gering. Der aktuelle Finanzausgleich ist genau das Gegenteil von dem, was man will: rund 600 Millionen für die Ambulanzen, rund 300 Millionen für den niedergelassenen Bereich. Wie soll damit der niedergelassene Bereich gestärkt werden und die Spitalsambulanzen entlastet werden?

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, hier an Stellschrauben zu drehen, und sofort etwas zu ändern: Was würden Sie tun? Das ist eine Königsfrage. Eine einzige Maßnahme würde nicht ausreichen. Es müsste eine Gesundheitsreform sein, die nicht nur bis zur nächsten Wahl geplant ist. Es dürfte bei einer bundespolitischen Gesundheitsreform keine Rolle spielen, dass etwa in Wien eine Wahl ansteht oder auf EU-Ebene. Eine Umstellung ist sicher kostspielig und aufwändig. Und um das Hin- und Herschieben von Patienten zu beenden, ist immer von der Finanzierung aus einer Hand die Rede. Da stellt sich sofort die nächste Frage: aus welcher Hand? Wir müssen das Gesundheitssystem neu denken und uns auch an anderen Ländern ein Beispiel nehmen. Eine solche Reform kann nur mutig und mit langem Atem Erfolg haben.

Woran denken Sie dabei? Neben der Finanzierungfrage und der Patientensteuerung, müssen wir zum Beispiel die Prävention stärken – mittelfristig und langfristig. Da geht es um die allgemeine Vorsorgeuntersuchung, die Krebsvorsorge und auch um die Sportmedizin. Es geht auch um die StärkungderGesundheitskompetenz, und zwar schon bei Kindern. Bei derGesundheitskompetenz sind wir in Österreich im Europavergleich leider eher Schlusslicht.

Abgesehen davon: Wo sehen Sie noch Möglichkeiten? In anderen Ländern funktioniert die Patientensteuerung viel besser. Die telefonische Konsultation und auch die Videokonsultation können hier in vielen Fällen helfen. Und wir müssen künftig auch mutiger über Task-shifts nachdenken. Das heißt, um die Ressource Arzt zu schonen, sollten wir auch darüber nachdenken, gewisse Tätigkeiten an andere Berufsgruppen zu übertragen. Es muss auch attraktiver sein, dass Ärztinnen und Ärzte über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten. Es muss auch möglich sein, dass wir uns wieder auf die Patienten konzentrieren können ohne durch zunehmende Bürokratie, insuffiziente EDV-Systeme und durch eine ELGA ohne sinnvolle Suchfunktion oder Patient Summary behindert zu werden. Jeder Klick, den ein Arzt in einem EDV-System machen muss, sollte nur dann von einem Arzt gemacht werden, wenn er nicht automatisiert oder von anderen Berufsgruppen übernommen werden könnte.

Themenwechsel zur Tiroler Gesundheitspolitik. Hier laufen die ersten Ausschreibungen für PVEs. Warum erst jetzt? Man kann Tatsachen nicht leugnen: Es ist so. Tirol ist hier das letzte Bundesland. Ich muss aber schon betonen, dass ich seit eineinhalb Jahren Präsident bin. Es hat ein Jahr gebraucht, die Kasse zu einem Vertragsentwurf zu bemühen. Dieser Vertrag wurde dann im Sommer 2023 endlich rückwirkend beschlossen. Das erste PVE in Innsbruck ist jetzt ausgeschrieben. PVEs sind sicher ein guter Puzzlestein in der Versorgung. Es kann aber in der Tiroler Situation mit kleinen Gemeinden und den vielen Tälern nicht die alleinige Versorgungsmöglichkeit sein. Man wird die übrige Primärversorgung auch stärken müssen. Warum soll zum Beispiel eine Kassen-Hausarztstelle nicht auch eine Krankenschwester finanziert bekommen? Das würde die kassenärztliche Versorgung enorm verbessern und attraktiver machen.

Welche Spezifika gibt es bei der medizinischen Versorgung in Tirol? Wo gibt es einen Mangel? Einen großen Mangel haben wir in der Kinder- und Jugendheilkunde, Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Augenheilkunde, Gynäkologie und HNO. Hier versuchen wir verstärkt, die Ausbildungskapazitäten auszubauen. Vor allem in diesen Fächern starten wir mit Rotationskonzepten und Lehrpraxen. Ein zweiter Punkt betrifft das Spitalswesen. Das Burgenland und die Steiermark sind uns mit Gehältern für Spitalsärzte vorausgeeilt. Das hat gerade bei den höheren Lebenshaltungskosten in Tirol zu einer starken Unzufriedenheit geführt. Hier muss dringend nachgebessert werden. In Innsbruck zum Beispiel wurde die chirurgische Tagesklinik im Oktober geschlossen, weil es zu wenig OP-Pflegepersonal gibt. Dort hätten in vier OPs bis Jahresende rund 2.000 kleinere Eingriffe ambulant durchgeführt werden sollen, für die es im stationären Bereich nun keinen Platz gibt. Für die Patienten bedeutet das, dass die Wartezeiten viel länger werden. Das System ist am Kippen.

Was ist zu tun? Das Management, die Eigentümervertreter, sind gefordert: Es geht um Wertschätzung und attraktive Gehälter und Soft skills. Und wir brauchen auch einen Plan: Wo brauchen wir welche Ärzte in welchen Fächern. Die Krankenhäuser müssen endlich die Medizinstudenten nach der Promotion mit ausreichend Ausbildungsstellen abholen. Wir haben aktuell in manchen Krankenhäusern Wartezeiten bis 2025 für eine Ausbildungsstelle. Und der Minister will Absolventen zur ärztlichen Tätigkeit im öffentlichen System verpflichten? Ohne Einstiegsmöglichkeit in dieses System?

Wieso gibt es Wartezeiten? Einerseits, weil es grundsätzlich zu wenig Ausbildungsstellen gibt und andererseits auch, weil die Träger diese Stellen gestrichen haben. Die Arbeitszeiten sind durch das KA-AZG um rund ein Drittel verringert worden. Also bräuchte man auch dementsprechend mehr Personal.

Sie waren zehn Jahre lang Vorsitzender der Ausbildungskommission. Nun hat die ÖÄK mit Beginn dieses Jahres die Ausbildungskompetenzen verloren. Weil es in einem oder zwei Bundesländern Schwierigkeiten gegeben hat und es politischer Wille ist, die Ärztekammer zu schwächen, hat die ÖÄK die Ausbildungskompetenz verloren. Es ist schade, denn wir haben das mit einer sehr guten Qualität gemacht. Unser Ziel war es, eine qualitativ hochwertige Ausbildung in Österreich zu ermöglichen. Die Ergebnisse, die die aktuelle Ausbildungsevaluierung ergeben hat, spiegeln diese unsere Arbeit im schwierigen Umfeld der Ausbildung in den Krankenhäusern wider. Die Idee, die Ausbildungsevaluierung über die ETH Zürich als externe Institution durchzuführen, ist ein großer Erfolg. Denn nur so ist es zu erklären, dass zu den Ergebnissen, also wie die Ausbildung beurteilt wurde, zumindest in der Tiroler Ärztekammer keine inhaltliche Kritik angekommen ist. Wir haben hier also sehr viel Akzeptanz erfahren. Die Details sind transparent und für jeden einsehbar und bieten so eine gute Grundlage, gemeinsam mit den Ausbildungsstätten Verbesserungspotentiale zu erarbeiten und umzusetzen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2023