Interview Johannes Steinhart: Einsparung auf Kosten von Leistungen

10.09.2023 | Politik

Der von der Politik vor mehreren Jahren eingeschlagene Kostendämpfungspfad ist nach Ansicht von ÖÄK-Präsident Johannes Steinhart der Grund für den aktuellen Zustand des Gesundheitssystems. Die konsekutive Einsparung auf Kosten der Leistungen mache sich mit einer Latenz von mehreren Jahren nun bemerkbar, erklärt er im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner.

Sie waren krankheitsbedingt einige Monate abwesend. Wie geht es Ihnen? Den Umständen entsprechend ganz gut. Zwei defekte Herzklappen haben eine Operation am offenen Herzen erforderlich gemacht. Nach Aussagen der behandelnden Ärzte war es höchste Zeit. Natürlich ist anschließend eine entsprechende Rekonvaleszenz notwendig.

Ihr Rückzug ist zu einem Zeitpunkt erfolgt, als es einige Aufregung rund um eine Tochtergesellschaft der Kurie niedergelassene Ärzte in der Wiener Ärztekammer, der Equip4Ordi, gegeben hat. Kritiker sagen, Sie hätten sich so der Verantwortung rund um die Equip4Ordi entzogen. Also wenn jemand ernsthaft glaubt, dass man sich freiwillig einem Eingriff unterzieht, bei dem man dreieinhalb Stunden an die Herz-/Lungenmaschine angeschlossen wird, um sich der Diskussion zu entziehen, dann fehlen mir die Worte.

Wie ist aktuell der Stand der Dinge bei Equip4Ordi? Derzeit laufen die Ermittlungen und die muss man abwarten. Ich vertraue hier der Justiz.

In Ihrer Abwesenheit hat es in der Wiener Ärztekammer große strukturelle und personelle Änderungen gegeben. Was ist da los? Ursprünglich war geplant, dass das Kammeramt weiterentwickelt wird. Während meiner Abwesenheit hat das aber eine unerwartete Wendung genommen: Ganze Abteilungen sind umgestellt worden, bewährte Mitarbeiter sind in nicht nachvollziehbare Positionen gelangt. Hier ist noch einiges an Arbeit notwendig, dass das Ganze wieder zu einer funktionsfähigen Einheit wird. Stadtrat Hacker hat kürzlich gemeint, er warte bei Gesprächen mit der Ärztekammer Wien darauf, bis Sie wieder die Geschäfte übernehmen. Auch wenn wir inhaltlich oft nicht einer Meinung sind, haben wir doch ganz grundsätzlich eine Gesprächsebene. Die war manchmal belastet, und manchmal auch sehr konstruktiv, wie man in der Pandemie gesehen hat. Man steht einfach auf verschiedenen Positionen und es ist meine Aufgabe, die Kolleginnen und Kollegen zu vertreten. Als Ärztekammer sind wir ‚Part of the system‘ und müssen eine Art der Zusammenarbeit erreichen, damit die bestmögliche Versorgung der Patienten sichergestellt ist.

Themenwechsel: Bringen mehr Medizin-Studienplätze die Lösung für die Probleme bei der medizinischen Versorgung? In der Politik herrscht die Meinung, dass das die Lösung wäre. Mehr Studienplätze haben frühestens in zehn Jahren eine Auswirkung. Ich glaube, dass wir zu einer schnelleren Lösung kommen müssen. Meiner Ansicht nach geht es mehr darum, dass wir nicht schon wieder eine Ärzteschwemme produzieren, was natürlich die Politik gerne hätte. Hier ist vereinzelt zu hören, dass einige es gerne hätten, wenn Jungärztinnen und Jungärzte wieder um Jobs betteln, wie wir das in 1980er Jahren erlebt haben. Dieser Zynismus spricht für sich.

Schon jetzt sind 288 Kassenarztstellen nicht besetzt. Der Gesundheitsminister hat angekündigt, bis Jahresende zusätzlich 100 Kassenarztstellen schaffen zu wollen inklusive Anschubfinanzierung. Halten Sie das für realistisch? Die Anschubfinanzierung hätte man für die 288 schon jetzt nicht besetzten Kassenstellen zur Verfügung stellen sollen. Aber nach den Gegebenheiten, wie das derzeit läuft und auch nach den im System nicht ganz durchgängigen Prinzipien Stichwort PVE und Normal-Ordination darf man sich nicht wundern, dass junge Kolleginnen und Kollegen sich diesem Risiko nicht aussetzen wollen.

Patientenlenkung ist also ein Thema. Ja, auf jeden Fall. Der Bund will in den nächsten fünf Jahren zehn Milliarden Euro ins Gesundheitssystem investieren. Reicht das? Und ist das überhaupt der richtige Ansatz: einfach noch mehr Geld in dieses System zu stecken, von dem sich viele Ärzte schon verabschiedet haben und die Jungen erst gar nicht in dieses System einsteigen wollen. Ja, selbstverständlich begrüße ich diesen Ansatz, weil es in den letzten Jahren nur Sparpakete gegeben hat. Jetzt, nach mehr als zehn Jahren zeigt sich, dass das Gesundheitssystem den sogenannten Kostendämpfungspfad, den Alois Stöger und Hansjörg Schelling eingeschlagen haben, nicht ausgehalten hat.

Auch die Diskussion über die Wahlärzte reißt nicht ab. Das halte ich für eine unsinnige Diskussion. Die Wahlärzte leisten einen ganz wichtigen Beitrag. Und ich sehe auch nicht ein, dass man jetzt plötzlich glaubt, bei Ärzten mit Zwangsmaßnahmen und Zwangsverpflichtungen agieren zu müssen. Das ist der Wunschtraum von irgendwelchen Planungs-Fanatikern. Der Arztberuf ist ein klassischer freier Beruf. Und daher muss es auch klar sein, dass bürokratisch-politische und juristische Grundsätze nach den medizinischen kommen. Das versteht man unter einem freien Beruf. Das ist ja kein Privileg, sondern ein Recht des Patienten, dass ihm jemand gegenübersitzt, der den Prinzipien in dieser Reihenfolge unterliegt.

Was halten Sie von einer Zwangsverpflichtung, nach dem Studium im öffentlichen System arbeiten zu müssen? Ich bin sprachlos, wenn ich höre, welche Verpflichtungsphantasien da entstehen von Leuten, die das System in den letzten Jahren gnadenlos heruntergespart haben und jetzt, wo sie nicht mehr ein noch aus wissen, wollen sie die, die die Leistung erbringen, zwangsverpflichten? Ich glaube, ich träume!

Die Gründung von PVEs soll erleichtert werden. So ist unter anderem das sogenannte Veto-Recht der Ärztekammer abgeschafft worden. Der Gesundheitsminister sieht darin die Beseitigung einer wesentlichen Hürde. Ich sehe das sehr kritisch. PVEs laufen genauso im Gesamtvertrag wie Kassenordinationen. Die ‚Eliminierung‘ eines Partners, der das Ganze gestalten soll, ist unerhört. Und PVEs sind eine Lösungsmöglichkeit der Versorgung, aber sicher nicht das Allheilmittel.

Warum? Die Politik hängt hier einem Glaubensgrundsatz an, der der Realität der Versorgung nicht gerecht werden wird. Für jüngere Menschen ist ein PVE mit erweiterten Öffnungszeiten sicher ein Angebot. Bei älteren und kranken Menschen ist aber die persönliche Betreuung ein ganz wesentlicher Faktor und natürlich auch, dass die Versorgung wohnortnahe erfolgt.

Zuletzt eine Ursachenanalyse: Was ist in diesem Gesundheitssystem passiert, dass es an allen Ecken und Enden kracht? Wir sehen hier mit einer Latenz von mehreren Jahren die Auswirkungen der sogenannten Kostendämpfung. Man hat damals willkürlich eine Ausgabenbremse bei 3,6 Prozent festgelegt, auch wenn der tatsächliche Bedarf aus welchem Grund auch immer bei sechs Prozent gelegen ist. Das ist nichts Anderes als eine Einsparung auf Kosten der notwendigen Leistung. Eine zeitlang haben das die hoch motivierten Mitarbeiter im Gesundheitssystem kompensiert und so dazu beigetragen, dass das Ganze weiterhin funktioniert hat. Nur irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht mehr geht. Die Pandemie hat das Ganze noch beschleunigt und die Mängel offengelegt. Man darf sich hat jetzt nicht wundern, wenn diese Berufsgruppen, die das System über Jahre am Laufen gehalten haben, irgendwann erschöpft und ausgebrannt sind. Der zweite entscheidende Punkt: Es wird noch immer viel zu wenig offengelegt, welche großartigen Leistungen in diesem System erbracht werden. Wir haben zum Teil Versorgung auf Weltklasse-Niveau, ganz egal ob in der Spitze oder in der Breite. Man braucht ja nur nach Großbritannien schauen, wo man auf einen Termin beim Augenarzt sechs Monate wartet. Das kann nicht das Ziel sein.

Wie sieht Ihr Lösungsansatz aus? Genau das Gegenteil von dem, was die Politik gerade macht: Die Politiker müssten zunächst einmal bereit sein, mit denjenigen zu reden, die die Leistung erbringen anstatt zu versuchen, mit planwirtschaftlichen Überlegungen über alles drüberzufahren. Man gesteht sich nicht ein, dass man das System so heruntergefahren hat, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen nicht in diesem System arbeiten wollen. Es geht darum, Initiativen und Engagement zu unterstützen und nicht darum, Zwangsverpflichtung und Planwirtschaft einzuführen. Und man muss sich auch mit der Frage befassen: Wieso gehen inzwischen so viele Menschen zu Wahlärzten?

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2023