Arzneimittelknappheit in den USA: Dauernder Mangelzustand

10.05.2023 | Politik

Zu Spitzenzeiten des Arzneimittelmangels Ende 2022 waren in den USA knapp 300 Medikamente kaum oder nur schwer erhältlich. Ein zentrales Problem auch hier: Mehr als 80 Prozent der aktiven pharmazeutischen Wirkstoffe, die in den Arzneimitteln verwendet werden, stammen aus China und Indien.

Nora Schmitt-Sausen

Derzeit nicht lieferbar“ – auch in den USA erhält man diese Antwort aktuell oft, wenn man in der Apotheke ein Rezept einlösen möchte. In den Drogerieregalen, in denen in den USA normalerweise Analgetika und Antipyretika für Kinder frei verkäuflich erhältlich sind, herrscht Leere. Nicht die Ausnahme in den vergangenen Monaten in den USA, sondern der Alltag. Die teils verzweifelte Suche von Eltern nach Medikamenten für ihr krankes Kind machte landesweit Schlagzeilen.

Das Problem: Es grassierte eine „Tripledemic“, bestehend aus COVID 19-, Influenza- und RSV-Infektionen zur gleichen Zeit. In nahezu allen Bundesstaaten wurden in den Wintermonaten „hohe“ oder „sehr hohe“ Level an Atemwegsinfektionen gemeldet. Es gab vermehrt Streptokokken-Infektionen, Mittelohrentzündungen und oft auch Pneumonien. Doch die Hersteller können den hohen Bedarf an Ibuprofen oder Paracetamol nicht decken – zum Teil über Wochen nicht. Ähnlich die Situation bei Antibiotika: Auch Amoxicillin ist immer wieder nicht erhältlich. Dieser Lieferengpass hält bis heute an.

Es trifft aber nicht nur die Kleinen – sondern junge wie alte Patienten, Ärzte wie Kliniken. Die Liste der Engpässe reicht von Erkältungsmedikamenten über Anästhetika bis hin zu Medikamenten für die onkologische Therapie. Letztere sind aktuell massiv von Lieferausfällen betroffen.

Aktuelle Zahlen zeigen: Zwischen 2021 und 2022 stieg die Zahl der nur schwer erhältlichen Arzneimittel um 30 Prozent. In Spitzenzeiten – Ende 2022 – waren in den USA fast 300 Medikamente gar nicht oder kaum zu bekommen – ein Fünf-Jahres-Hoch.

Behandler stellt dies vor extreme Situationen. Ärztinnen und Ärzte seien auf Grund der Engpässe landesweit gezwungen, „Entscheidungen über Leben und Tod“ zu treffen, heißt es in US-amerikanischen Medien. Dies bestätigte Andrew Shuman, auf onkologische Chirurgie spezialisiert und Professor in Michigan, vor den Augen und Ohren von Amerikas obersten Politikern in Washington. Dort wurde das Thema der Arzneimittelknappheit im März 2023 intensiv diskutiert. Das Problem ist durch die Corona-Pandemie so eklatant geworden, dass es als Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA behandelt wird.

Shuman schilderte in der Hauptstadt, was Arzneimittelknappheit für den ärztlichen Alltag bedeuten kann: „Bei welchen unserer Krebspatienten sollte es eingesetzt werden? Wie können wir (…) priorisieren? Sollten unsere begrenzten Ampullen einer älteren Frau zugutekommen, bei der gerade erst Lungenkrebs diagnostiziert wurde? Oder einem jungen Mann, der es bereits erfolgreich gegen Hodenkrebs einnimmt? Oder einem Baby mit Neuroblastom, für das dieses Medikament empfohlen wird, aber andere Mittel es ersetzen könnten?“, fragte er öffentlich. „Als Arzt, der sein Leben dem Kampf gegen Krebs gewidmet hat, ist es schwer, auszudrücken, wie schrecklich das ist.“

Die USA sind nicht zum ersten Mal mit einer Arzneimittelknappheit konfrontiert (siehe Kasten). Schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie waren allein 15 existentielle Arzneimittel für die Intensivmedizin wie Antibiotika und Beruhigungsmittel, die iv verabreicht werden, nicht oder kaum mehr lieferbar. Ein Mangelzustand von Dauer – er besteht bei diesen Mitteln bereits seit mehr als zehn Jahren.

Abhängigkeit von ausländischen Herstellern

Ein zentrales Problem ist die Abhängigkeit von ausländischen Herstellern, besonders von China und Indien. Mehr als 80 Prozent der aktiven pharmazeutischen Wirkstoffe, die in US-Arzneimitteln verwendet werden, stammen aus diesen beiden Ländern. Chinesische Pharmaunternehmen beherrschen laut Yanzhong Huang, Experte für globale Gesundheit beim renommierten Council on Foreign Relations, 97 Prozent des US-amerikanischen Marktes für Antibiotika und mehr als 90 Prozent des Marktes für Vitamin C. Außerdem kommen 95 Prozent von Ibuprofen, 91 Prozent von Hydrocortison, 70 Prozent von Paracetamol und 40 bis 45 Prozent von importiertem Heparin aus China. Bereits beim Ausbruch der Pandemie im März 2020 warnte Huang, dass die Corona-Krise die Arzneimittelversorgung in den USA massiv beeinträchtigen könnte. „Der Ausbruch des neuen Corona-Virus hat eine große Anzahl chinesischer Arzneimittelhersteller dazu gezwungen, ihre Produktion zu unterbrechen. Das könnte eine schlechte Nachricht für die Vereinigten Staaten sein, die von China und Indien für ihre Arzneimittelversorgung abhängig sind.“

Als Lösung für das Problem der Arzneimittelknappheit fordern viele Stimmen, dass die Produktion in die USA zurückverlagert wird. Nicht zum ersten Mal. Doch als Allheilmittel gilt selbst die inländische Produktion nicht, warnen Experten. Denn: Liegt die Produktion nur in der Hand von einem oder zwei Herstellern, mache es bei Problemen keinen Unterschied, ob innerhalb oder außerhalb der USA produziert werde.


Dauerthema Arzneimittelknappheit

Für die US-amerikanische Öffentlichkeit wurde das Thema der Arzneimittelknappheit während und nach der Corona-Pandemie erstmals in dieser Dimension spürbar. In medizinischen Fachkreisen und der Politik ist sie bereits seit vielen Jahren ein Thema – ohne dass das Problem bislang gelöst werden konnte.

Im Jahr 2007 kam es erstmals zu einem sprunghaften Anstieg bei den gemeldeten Engpässen: 70 Arzneimittel waren im Jahr 2006 knapp, 129 waren es ein Jahr später. Seither existiert das Problem permanent. Im Durchschnitt vermeldet die Food and Drug Administration (FDA) Lieferengpässe bei 100 Arzneimitteln. Einen ersten Höhepunkt erreichte das Problem im Jahr 2011. Damals waren 267 Arzneimittel Mangelware. Im Durchschnitt dauert es 1,5 Jahre, bis ein Lieferengpass für ein Medikament wieder gelöst werden kann.

Die Abhängigkeit vom Ausland spielt bei dem Problem schon lange eine Rolle: Bereits seit den 1990er Jahren importieren US-amerikanische Unternehmen pharmazeutische Produkte aus Indien und China. Dort waren die Inhaltsstoffe billiger und die Produktion unterlag weniger Vorschriften. Heute haben die meisten US-amerikanischen Arzneimittelunternehmen die Herstellung an ausländische Standorte ausgelagert. Das letzte amerikanische Werk, das wichtige Bestandteile für Penicillin herstellte, kündigte laut New York Times im Jahr 2004 die Schließung an.

Weitere Treiber der Arzneimittelknappheit sind die gestiegene Nachfrage, Qualitätsprobleme bei der Herstellung sowie logistische und regulatorische Herausforderungen. Dabei gerät die FDA immer wieder in die Kritik. Sie greife an mancher Stelle zu stark in den Markt ein, an anderer Stelle zu wenig. Und sie mache es den Herstellern nach Produktionsproblemen durch ihre Regularien schwer, wieder Fuß zu fassen. Auf der anderen Seite würde es nicht goutiert, wenn die Industrie hohe Standards in der Herstellung schaffe. Ein ganz grundsätzliches Problem in den USA ist, dass es zu wenig Wissen und mangelndes Monitoring im Herstellungsprozess von Arzneimitteln gibt. Experten sehen bereits das nächste Problem am Horizont: Künftig könnten biologische Bedrohungen, Naturkatastrophen oder Angriffe auf die Cyber-Security die Arzneimittelversorgung in den USA zusätzlich gefährden. Offiziellen Schätzungen zufolge wird die Gesundheitsindustrie bis 2025 allein einem „jährlichen Anstieg von 30 Prozent an Cyberangriffen“ ausgesetzt sein.

Quellen: US-Senat, FDA, Brookings Institution, Council On Foreign Relations, Österreichische Ärztezeitung


Die Insolvenz eines von zwei US-amerikanischen Arzneimittelherstellern von flüssigem Salbutamol im März dieses Jahres belegt dies. Salbutamol war wegen des hohen Bedarfs schon seit dem Vorjahr knapp. Nach der Insolvenz dürfte sich die Situation weiter verschärfen; der zweite Hersteller versucht, auf die neue Situation zu reagieren soweit das möglich ist.

Grundsätzlich sind viele Medikamente in den USA sehr teuer. Dennoch beklagen US-amerikanische Hersteller, dass sie für viele gängige Medikamente wie Salbutamol oder Amoxicillin nur wenige Cents pro Dosis erhalten. Dies bedeutet, dass es wenig finanziellen Anreiz für die Herstellung von Generika gibt. Bei Problemen in der Produktion kann dies schnell zu Engpässen führen.

Auch ist der Weg, um ein neues Arzneimittel auf den Markt zu bringen, in den USA zeitintensiv und kostspielig. Deshalb liegt beispielsweise die Produktion etwa von onkologischen Medikamenten oft in der Hand von nur einigen wenigen Herstellern mit umso größeren Auswirkungen.

Unterstützung der Regierung

Auswege aus der Misere gibt es dennoch. Die Regierung könne auf verschiedene Arten Unterstützung für inländische Arzneimittelhersteller leisten, so die Analyse der Denkfabrik Brookings im Sommer 2021. Dazu zählten „Steuergutschriften, Darlehen, Investitionen in die Infrastruktur und direkte Unterstützung für Produktionsstätten“. Jede dieser Methoden würde „das Herstellungsklima in den USA verbessern und es den Unternehmen ermöglichen, die Arzneimittelproduktion wieder in die USA zurückzuverlegen und die inländischen Lieferketten zu stärken“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2023