Panik­at­ta­cken: Hilf­lo­sig­keit und Kontrollverlust

10.05.2023 | Medizin

Mas­sive Angst mit vege­ta­ti­ven Sym­pto­men ver­ur­sa­chen bei einer Panik­at­ta­cke vor allem Hilf­lo­sig­keit und Kon­troll­ver­lust. Cha­rak­te­ris­tisch dabei: die Dis­so­nanz zwi­schen Situa­tion und kör­per­li­cher Reak­tion. Bei Anwe­sen­heit einer ande­ren Per­son bes­sern sich die Sym­ptome meist inner­halb von 30 Minuten. 

Julia Fleiß

Typisch für eine Panik­at­ta­cke ist das plötz­li­che, situa­ti­ons­un­ab­hän­gige Auf­tre­ten von mas­si­ver Angst in Kom­bi­na­tion mit vege­ta­ti­ven Sym­pto­men – ohne spe­zi­fi­schen Aus­lö­ser. Die drei Ebe­nen der Angst­re­ak­tion sind:
1) Die kör­per­lich-phy­sio­lo­gi­sche Ebene mit den soma­ti­schen Sym­pto­men Tachy­kar­die, Atem­be­schleu­ni­gung, stei­gen­dem Mus­kel­to­nus, Tre­mor, Dia­pho­rese, Par­äs­the­sien und Hitzeempfindungen.
2) Die emo­tio­nal-kogni­tive Ebene mani­fes­tiert sich als Furcht vor einer Krank­heit bis zur Todesangst.
3) Als dritte Ebene stellt sich Beha­vi­oral-ver­hal­tens­be­zo­gen bei den Betrof­fe­nen ein Ver­mei­dungs- und Rück­zugs­ver­hal­ten aus Angst vor der nächs­ten Panik­at­ta­cke ein.

Die Dauer einer Panik­at­ta­cke vari­iert zwi­schen eini­gen Minu­ten bis zu durch­schnitt­lich einer hal­ben Stunde; sie kann aber auch bis zu zwei Stun­den anhal­ten. Dazu Univ. Prof. Wolf­gang Aich­horn von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie, Psy­cho­the­ra­pie und Psy­cho­so­ma­tik in Salz­burg: „Angst oder Panik ist als bio­lo­gisch ange­leg­tes Reak­ti­ons­mus­ter die Vor­aus­set­zung für das Über­le­ben des Men­schen“. Dadurch wer­den vor allem Hilf­lo­sig­keit und Kon­troll­ver­lust her­vor­ge­ru­fen. Eine Panik­at­ta­cke bleibt unbe­han­delt sel­ten ein ein­ma­li­ges Ereig­nis. Erst bei epi­so­disch par­oxys­ma­ler Angst spricht man von einer Panik­stö­rung. „Es gibt auch Men­schen, bei denen Panik­at­ta­cken mehr­mals täg­lich auf­tre­ten“, weiß Priv. Doz. Tho­mas Vanicek von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Er weist außer­dem dar­auf hin, dass zwi­schen dem ers­ten Auf­tre­ten von Sym­pto­men und der Dia­gnose „Jahre lie­gen kön­nen“. Stan­dar­di­sierte Scree­ning­tools wie die Panic Dis­or­der Seve­rity Scale (PDSS) kön­nen bei Ver­dacht auf eine Panik­stö­rung ver­wen­det werden.

Sym­pto­ma­tik tritt punk­tu­ell auf 

Es komme „nicht sel­ten“ vor, dass ein Pati­ent mit einer aku­ten Panik­at­ta­cke in der Not­fall­am­bu­lanz mit Ver­dacht auf Myo­kard­in­farkt auf­ge­nom­men wird. Soma­ti­sche Ursa­chen wie Schild­drü­sen­funk­ti­ons­stö­rung, Lun­gen­em­bo­lie oder kar­diale Erkran­kun­gen sind mit­tels Labor­be­fund, bild­ge­ben­der Dia­gnos­tik und EKG aus­zu­schlie­ßen. Aich­horn dazu: „Man geht im Sinn der Schich­ten­re­gel von Karl Jas­pers vor“. Gemäß die­ser Regel sind psy­chi­sche Erkran­kun­gen von orga­ni­schen über affek­tive Stö­run­gen bis hin zu Neu­ro­sen in Schich­ten ange­ord­net. Jede „tie­fer lie­gende“ Erkran­kung könne das Erschei­nungs­bild der dar­über lie­gen­den anneh­men. Den­noch gebe es laut Aich­horn ein­deu­tige Hin­weise auf die Dia­gnose: „Ist die Panik­at­ta­cke akut, bes­sern sich die Sym­ptome meist inner­halb von 30 Minu­ten allein durch die Anwe­sen­heit eines ande­ren Men­schen.“ Kommt der Betrof­fene erst nach dem Durch­le­ben einer Panik­at­ta­cke in die Ordi­na­tion, „liegt die Sym­pto­ma­tik im Gespräch nicht vor. Die Betrof­fe­nen beschrei­ben das Erlebte aber ganz klas­sisch.“ Was sie dabei als so erschre­ckend emp­fin­den: „Durch die Tachy­kar­die wird die Kon­trolle des prä­fron­ta­len Cor­tex aus­ge­schal­tet.“ Cha­rak­te­ris­tisch für die Panik­at­ta­cke ist die Dis­so­nanz zwi­schen Situa­tion und kör­per­li­cher Reak­tion. Es kommt zu einer wei­te­ren Über­sti­mu­la­tion, die bei den Betrof­fe­nen zu Kon­troll­ver­lust und Hilf­lo­sig­keit bis hin zu Todes­angst führt.

Stellt sich her­aus, dass die Panik­at­ta­cke eine psy­chi­sche Genese hat, wer­den im Akut­fall Ben­zo­dia­ze­pine ein­ge­setzt. Hier raten jedoch beide Exper­ten zur Vor­sicht. „Auf dem kurz­fris­ti­gen Erfolg die­ser Maß­nahme sollte man sich nicht aus­ru­hen, weil eine fort­dau­ernde Ein­nahme eher zu Pro­ble­men als zu einer Ver­bes­se­rung führt“, warnt Vanicek vor einem Gewöh­nungs­ef­fekt und dem Sucht­po­ten­tial. Vor einer psy­cho­the­ra­peu­ti­schen und/​oder phar­ma­ko­lo­gi­schen The­ra­pie müs­sen bei Panik­at­ta­cken und der Panik­stö­rung Kom­or­bi­di­tä­ten abge­klärt wer­den. „Im kli­ni­schen Kon­text tre­ten Panik­at­ta­cken nicht sel­ten in Kom­bi­na­tion mit Ago­ra­pho­bie, einer gene­ra­li­sier­ten Angst­stö­rung, Depres­sion oder einer Sucht­er­kran­kung auf“, erklärt Aich­horn, was die Behand­lung „kom­ple­xer“ mache.

Laut Aich­horn gibt es eine gute Evi­denz dafür, dass das sero­to­n­erge Sys­tem mit der Ent­ste­hung von Angst zusam­men­hängt. Daher wer­den beson­ders bei der Panik­stö­rung für die Lang­zeit­the­ra­pie SSRIs ein­ge­setzt, die auch angst­lö­send wir­ken, oder SNRIs. Den sin­gu­lä­ren phar­ma­ko­lo­gi­schen Ansatz hält Aich­horn aber für pro­ble­ma­tisch: „Bei allen Erkran­kun­gen aus dem Angst­for­men­kreis sollte eine Kom­bi­na­tion aus psy­cho­the­ra­peu­ti­schen und wenn not­wen­dig phar­ma­ko­lo­gi­schen Behand­lun­gen erfol­gen.“ Vanicek spricht sich für eine mög­lichst nied­rige Dosis im Sinn von „start low – go slow“ aus. Beide Exper­ten bezeich­nen Psy­cho­edu­ka­tion als ent­schei­den­den The­ra­pie­fak­tor. „Der Betrof­fene muss wis­sen, dass eine Panik­at­ta­cke keine orga­ni­schen Schä­den nach sich zieht und nicht zum Tod führt“, sagt Vanicek. Es gebe gute evi­denz­ba­sierte Daten, dass sich ein theo­re­ti­scher Lern­hin­ter­grund im Sinne der Kon­di­tio­nie­rung posi­tiv aus­wirke. „Der Betrof­fene soll ver­ste­hen, was im Kör­per pas­siert: was ist Ver­hal­ten, was ist Den­ken, was sind kör­per­li­che Sym­ptome“, erklärt Aichhorn.


Panik­at­ta­cken: die Details
Die Lebens­zeit­prä­va­lenz von Panik­at­ta­cken bezie­hungs­weise iso­lier­ten Panik­stö­run­gen liegt bei einem bis zwei Pro­zent. Am wei­tes­ten ver­brei­tet im For­men­kreis der Angst­stö­run­gen sind soziale Pho­bie sowie spe­zi­fi­sche Pho­bien. Danach fol­gen zah­len­mä­ßig die Ago­ra­pho­bie und die gene­ra­li­sierte Angst­stö­rung – oft auch als Kom­or­bi­di­tät der Panik­at­ta­cke. Ganz gene­rell sind Frauen häu­fi­ger betroffen.

Phar­ma­ko­lo­gi­sche Therapie
SSRIs: Sert­ra­lin, Escitalopram
SNRIs: Ven­la­fa­xin, Dulo­xe­tin, Milnacipran

Eine Latenz­zeit von zwei bis vier Wochen ist zu berück­sich­ti­gen. Ebenso wie bei der Behand­lung der Depres­sion wird auch nach einer Remis­sion die The­ra­pie für sechs bis zwölf Monate fort­ge­setzt, bis ein Aus­lass­ver­such erfolgt.

Panik­at­ta­cke und kör­per­li­che Mechanismen
Angst und Panik sind bio­lo­gisch ange­legte Reak­ti­ons­mus­ter, die bei einer Panik­at­ta­cke plötz­lich und ohne direk­ten Aus­lö­ser auf­tre­ten, um den Kör­per auf Flucht oder Angriff vor­zu­be­rei­ten (Flight-or-fight-response).

Ein Alarm­si­gnal oder Trig­ger akti­viert über Boten­stoffe das lim­bi­sche Sys­tem. Über Amyg­dala und Hypo­tha­la­mus ver­an­lasst kommt es zur Aus­schüt­tung von Adre­na­lin und Nor­ad­re­na­lin im Neben­nie­ren­mark. Via Sym­pa­thi­kus und Blut erfolgt bin­nen kür­zes­ter Zeit die Umstel­lung des Kör­pers auf die phy­sio­lo­gi­schen Bedürf­nisse einer Alarm­re­ak­tion: Anstieg von Puls, Blut­druck, Mus­kel­to­nus und Zucker­spie­gel, Beschleu­ni­gung der Atemfrequenz.


Bei der Ver­hal­tens­the­ra­pie geht man dem zugrun­de­lie­gen­den Aus­lö­ser der Panik­at­ta­cke nach. Panik­at­ta­cken kön­nen – müs­sen aber nicht – einen lange zurück­lie­gen­den Aus­lö­ser haben, wie Aich­horn aus der Pra­xis berich­tet. Auch trau­ma­ti­sche Erleb­nisse aus der Kind­heit, die durch ein aktu­el­les Ereig­nis getrig­gert wer­den, kom­men in Frage. Vanicek sieht in kogni­ti­ven The­ra­pie­ver­fah­ren und der Reat­tri­bu­tion der kör­per­li­chen Miss­emp­fin­dun­gen die the­ra­peu­ti­sche Lösung. Kon­kret wer­den Kör­per­pro­zesse wie stei­gende Herz­fre­quenz oder Tran­spi­ra­tion durch kör­per­li­che Betä­ti­gung her­vor­ge­ru­fen und als nicht kata­stro­phie­rend ein­ge­stuft. „Man kann sich gezielt in Situa­tio­nen brin­gen, in denen der Kör­per mobi­li­siert wird, ohne dass es zu nega­ti­ven Bewer­tun­gen oder Panik kommt.“ So wer­den laut Vanicek „kör­per­li­che Pro­zesse als nor­male Reak­tio­nen neu abgespeichert.“

Beide Spe­zia­lis­ten wei­sen auf die Bedeu­tung von Ent­span­nungs­trai­ning hin. „Das Ziel ist gene­relle Stress­re­duk­tion“, betont Vanicek. Denn „je mehr Stress man aus­ge­setzt ist, umso eher kommt es zu unan­ge­neh­men Reak­ti­ons­mus­tern mit Störungscharakter.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2023