Masern: Durch­ge­hend Impflücken

26.04.2023 | Medizin

Ein in den 1960er und 1970er Jah­ren ein­ge­setz­ter Impf­stoff, der keine lebens­lange Immu­ni­tät bie­tet und die Umstel­lung des Impf­plans in den 1990er Jah­ren sind die Haupt­gründe für die Impflü­cken bei jun­gen Erwach­se­nen. Bei Kin­dern ist – Pan­de­mie-bedingt – die unge­nü­gende Durch­imp­fungs­rate wei­ter gestiegen.

Mar­tin Schiller

Die Corona-Pan­de­mie hat die in Öster­reich bereits bestehen­den Impflü­cken bei der Masern­imp­fung ver­grö­ßert. „Schon in der Prä-Corona-Zeit war die Situa­tion nicht opti­mal. Lock­downs und Beschrän­kun­gen des öffent­li­chen Lebens haben dann aber dazu geführt, dass not­wen­dige Imp­fun­gen auch gegen andere impf­prä­ven­ta­ble Erkran­kun­gen nicht in Anspruch genom­men wur­den“, sagt Univ. Prof. Ursula Wie­der­mann-Schmidt, Lei­te­rin des Zen­trums für Patho­phy­sio­lo­gie, Infek­tio­lo­gie und Immu­no­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Die erste MMR-Teil­imp­fung habe vor der Pan­de­mie zwar eine gute Akzep­tanz auf­ge­wie­sen – die Impf­quote lag bei fast 95 Pro­zent –, aber die zweite Teil­imp­fung wurde schon damals nur zu 85 bis 86 Pro­zent in Anspruch genom­men, so die Anga­ben des ECDC (Euro­pean Centre for Dise­ase Pre­ven­tion and Control).

Wie sind die aktu­el­len Zah­len über den Stand der Immu­ni­sie­rung? Im „Kurz­be­richt Masern 2021“ – her­aus­ge­ge­ben vom Gesund­heits­mi­nis­te­rium – ist fest­ge­hal­ten, dass die Durch­imp­fungs­rate bei Zwei­jäh­ri­gen für die erste Teil­imp­fung bei 84 Pro­zent und für die zweite Teil­imp­fung bei nur 74 Pro­zent liegt. Im aktu­el­len Natio­na­len Impf­plan wird eine Stei­ge­rung der Durch­imp­fungs­ra­ten bei der MMR-Imp­fung daher mit „hoher Prio­ri­tät“ ein­ge­stuft. Die MMR-Impflü­cke betrifft jedoch nicht nur Kin­der, wie Wie­der­mann-Schmidt betont: „Die von der WHO vor­ge­ge­bene Durch­imp­fungs­rate von 95 Pro­zent wird auch bei Erwach­se­nen nicht erreicht. Im Jahr 2021 haben nur 86 Pro­zent der 18- bis 30-Jäh­ri­gen über einen voll­stän­di­gen Impf­schutz ver­fügt.“ Außer­dem gebe es bei ein­zel­nen Jahr­gän­gen Auf­fäl­lig­kei­ten. So wei­sen knapp acht Pro­zent der im Jahr 2010 Gebo­re­nen kei­nen Impf­schutz gegen Masern auf.

Zu berück­sich­ti­gen sind auch Impflü­cken bei Per­so­nen, die Mitte bis Ende der 1990er Jahre gebo­ren wur­den. „Durch eine Umstel­lung des Impf­plans vom Volks­schul- auf das Klein­kind­al­ter blie­ben einige Kin­der damals unge­impft. Ihr Anteil macht bis zu acht Pro­zent aus“, erklärt Wie­der­mann-Schmidt. In eini­gen Fäl­len wurde auch die zweite Imp­fung ver­ges­sen. Als vul­nerable Gruppe ist dabei jene Gene­ra­tion ein­zu­stu­fen, bei der die erste Imp­fung in der Kind­heit, die zweite aber erst in der Puber­tät vor­ge­se­hen war. Ein wei­te­res Kol­lek­tiv mit unge­nü­gen­dem Schutz sind Per­so­nen, die den inak­ti­vier­ten Impf­stoff Quinto Vire­lon erhal­ten haben. Die­ser Impf­stoff, der in 1960er und 1970er Jah­ren ver­ab­reicht wurde, bie­tet keine lebens­lange Immu­ni­tät. „Das wis­sen viele der damals Geimpf­ten nicht. Eine Über­prü­fung des Ein­trags im Impf­pass ist daher emp­feh­lens­wert“, rät Wiedermann-Schmidt.

Zwei Ebe­nen eines Problems

Die Exper­tin sieht daher ins­ge­samt zwei Ebe­nen des Pro­blems: „Wir haben eine unge­nü­gende Durch­imp­fungs­rate bei Kin­dern und zu wenig Acht­sam­keit für die Impflü­cken in der erwach­se­nen Bevöl­ke­rung.“ Die redu­zierte Awa­re­ness für Imp­fun­gen abseits von COVID-19 würde ihr Übri­ges dazu bei­tra­gen. „Die WHO hat schon früh­zei­tig davor gewarnt, trotz pan­de­mi­scher Ein­schrän­kun­gen nicht auf Imp­fun­gen zu ver­ges­sen. Die Aus­wir­kun­gen die­ser zusätz­lich ent­stan­de­nen Lücken wer­den nun immer mehr spür­bar, da es wie­der viel mehr per­sön­li­che Kon­takte gibt.“ Ähn­li­ches berich­tet Priv. Doz. Lukas Weses­lindt­ner vom Zen­trum für Viro­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Anfang 2020 hätte man noch Masern­fälle regis­triert. Mit dem Anstieg der SARS-CoV-2-Infek­tio­nen und den dadurch beding­ten glo­ba­len Maß­nah­men sei die Zir­ku­la­tion des Masern­vi­rus jedoch „extrem ein­ge­bremst wor­den. Nach­dem es jetzt aber keine Corona-Maß­nah­men mehr gibt, gehen die Zah­len wie­der nach oben“, kon­sta­tiert der Experte. Beson­ders der Masern­aus­bruch, der im Februar 2023 in der Stei­er­mark regis­triert wurde, und ein „beun­ru­hi­gen­des Aus­maß“ (Weses­lindt­ner) erreicht hat, zeige den Ernst der Situa­tion ist. „Die Pan­de­mie hat wohl auch die Impf­mo­ral unter­gra­ben. Viele Eltern haben den Arzt­be­such mit ihren Kin­dern auf­ge­scho­ben.“ Mitt­ler­weile gäbe es auch Stu­dien, die welt­weit ein gro­ßes Aus­maß an MMR-Impflü­cken durch die Pan­de­mie zeig­ten. Berück­sich­ti­gen müsse man auch spe­zi­fi­sche Pro­bleme in bestimm­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen. So könn­ten etwa Sprach­bar­rie­ren und sozio­kul­tu­relle Aspekte zu Impflü­cken füh­ren. „In eth­ni­schen, reli­giö­sen oder gesell­schaft­li­chen Grup­pen kommt es jeden­falls oft auf ‚Opi­nion-Lea­der‘ an. Der Bil­dungs­grad allein bestimmt dabei nicht, ob jemand ein Impf­skep­ti­ker ist“, kon­sta­tiert Weseslindtner.

Wie dra­ma­tisch die Aus­wir­kun­gen von Masern sind, wurde in den ver­gan­ge­nen Jah­ren in Stu­dien doku­men­tiert. „Das Masern­vi­rus kann prak­tisch alle Zel­len infi­zie­ren, auch immu­no­lo­gi­sche Zel­len wie zum Bei­spiel Mono­zy­ten, Makro­pha­gen und Lym­pho­zy­ten und hier im Spe­zi­el­len die Gedächt­nis­zel­len“, erläu­tert Weses­lindt­ner. Im Rah­men der Virus­ver­meh­rung gehen diese Zel­len zugrunde. „Das bedeu­tet, das Masern­vi­rus löscht das immu­no­lo­gi­sche Gedächt­nis. Man ver­liert damit auch Immu­ni­tät, die man gegen andere Erkran­kun­gen auf­ge­baut hat, auch einen beträcht­li­chen Teil der Anti­kör­per, die man bereits besitzt“, führt der Experte wei­ter aus. Um das Virus unter Kon­trolle zu brin­gen, benö­tige der Orga­nis­mus einen gro­ßen Teil des T- und B‑Zell-Reser­voirs. Dadurch sinkt die Diver­si­tät der vor­han­de­nen Anti­kör­per und die Wahr­schein­lich­keit für andere Infek­tio­nen steigt. All dies lasse sich durch die Masern­imp­fung ver­hin­dern, deren Wirk­sam­keits­grad sehr hoch sei, wie Weses­lindt­ner betont: „Die Wahr­schein­lich­keit der voll­stän­di­gen Imp­fung liegt bei 95 Pro­zent, dass Immu­ni­tät indu­ziert wird. Hat eine Per­son jedoch nur eine der bei­den erfor­der­li­chen Imp­fun­gen erhal­ten und das Virus zir­ku­liert sehr breit wie beim Gesche­hen in der Stei­er­mark, dann kön­nen Impf­durch­brü­che auf­tre­ten.“ (siehe Kasten)


Aktu­el­ler Masernausbruch

Im Februar die­ses Jah­res hat ein Rei­sen­der bei der Rück­kehr nach Öster­reich das Masern­vi­rus ein­ge­schleppt. Bei der Teil­nahme an einem inter­na­tio­na­len sport­li­chen Wett­kampf in Graz wur­den andere Per­so­nen infi­ziert. Die infi­zierte Per­son, die das Virus nach Öster­reich ein­ge­schleppt hat, hat kurz dar­auf an einer gro­ßen Hoch­zeit teil­ge­nom­men, bei der die meis­ten Gäste nicht über einen Masern-Impf­schutz ver­füg­ten. Dabei infi­zier­ten sich 22 Per­so­nen, dar­un­ter auch Kin­der. Diese haben das Virus in Ordi­na­tio­nen, Schu­len und Kin­der­gär­ten ver­brei­tet. Sechs Kin­der muss­ten in die­ser ers­ten Welle auf­grund eines schwe­ren Ver­lau­fes hos­pi­ta­li­siert wer­den. Das Zen­trum für Viro­lo­gie in Wien iden­ti­fi­zierte den Geno­typ D8-5963. So konn­ten die Infek­ti­ons­wege nach­voll­zo­gen wer­den. Aktu­ell (Stand 5. April) wur­den laut AGES ins­ge­samt 104 Fälle regis­triert; davon 95 in der Stei­er­mark, fünf in Ober­ös­ter­reich, drei in Wien und einer in Kärn­ten. Die Geno­ty­pi­sie­run­gen zeig­ten, dass alle Fälle in Kärn­ten und Ober­ös­ter­reich mit dem Aus­bruch in der Stei­er­mark zusam­men­hän­gen. Für die Wie­ner Fälle gilt dies nur für zwei der drei Fälle. Beim drit­ten Fall han­delte es sich um einen ande­ren Geno­typ, der auch auf einem ande­ren Weg ein­ge­schleppt wurde. Der Aus­bruch ist mitt­ler­weile in der sechs­ten Generation.


PCR für Dia­gnose notwendig

Weses­lindt­ner betont, dass die Labor­dia­gnose der Masern nicht so sim­pel ist, wie viel­fach ange­nom­men: „Eine Blut­probe, die nega­tiv auf IgM-Anti­kör­per ist, kann ein trü­ge­ri­sches Bild ablie­fern. Stu­dien zei­gen näm­lich, dass die Sen­si­ti­vi­tät die­ses Tests bei wei­tem nicht 100 Pro­zent erreicht, eher 70 bis 80 Pro­zent – auch wenn bereits ein makul­o­pa­pu­lö­ses Exan­them vor­liegt.“ Dies habe sich auch beim Masern­aus­bruch in der Stei­er­mark wie­der gezeigt. Weses­lindt­ner wei­ter: „Wir müs­sen die Patho­phy­sio­lo­gie der Krank­heit stär­ker berück­sich­ti­gen. Es ist eine PCR-Probe not­wen­dig, um zu ermit­teln, ob sich das Virus bereits im Kör­per ver­brei­tet, bevor Anti­kör­per gebil­det werden.“

Eben­falls eine Folge der Pan­de­mie ist die gestei­gerte Impf­skep­sis im All­ge­mei­nen. „Die The­ma­tik der SARS-CoV-2-Schutz­imp­fung hat sich auf die Com­pli­ance bei ande­ren Imp­fun­gen nie­der­ge­schla­gen“, ana­ly­siert Wie­der­mann-Schmidt. Der Anteil der zum Imp­fen nega­tiv ein­ge­stell­ten Per­so­nen liege mitt­ler­weile bei rund 20 Pro­zent. „Wir müs­sen hier inten­siv daran arbei­ten und wie­der Ver trauen auf­bauen“, betont die Exper­tin. Dazu seien auch neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men und Tools not­wen­dig. Wie­der­mann-Schmidt sieht hier „alle Insti­tu­tio­nen in der Pflicht.“ Weses­lindt­ner appel­liert, jeden Pati­en­ten­kon­takt zu nüt­zen, um eine Über­prü­fung des Masern-Impf­sta­tus durch­zu­füh­ren. Eine zen­trale Auf­gabe komme dabei auch den Schul­ärz­ten zu. Mög­lich­kei­ten sieht der Experte außer­dem beim Fach­arzt für Gynä­ko­lo­gie und nennt ein Bei­spiel: „Wenn eine Frau schwan­ger gewor­den ist, geht sie unab­hän­gig von ihrer sozio­öko­no­mi­schen Her­kunft zum Arzt, auch wenn sie nicht krank ist. Das bie­tet die Chance, den Impf­sta­tus zu che­cken. Auch wenn eine Masern­imp­fung in der Schwan­ger­schaft nicht mög­lich ist, kann man immer­hin eine feh­lende Immu­ni­tät auf­de­cken und bereits eine Imp­fung für die Zeit nach der Schwan­ger­schaft einplanen.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 8 /​25.04.2023