Long COVID: Soma­ti­sche Aspekte – Zumin­dest Anhaltspunkte

12.04.2023 | Medizin

Es gibt zumin­dest Anhalts­punkte bei der For­schung zu den Theo­rien der Patho­phy­sio­lo­gie von Long COVID. Für ein­zelne Erkran­kungs­fälle gibt es Erklä­rungs­an­sätze, für die Summe der Betrof­fe­nen jedoch bis jetzt keine sin­gu­läre Erklä­rung. Und auch wenn es Monate dau­ert: Mit der Zeit sind die Long COVID-Sym­ptome selbstlimitierend. 

Julia Fleiß

Zwi­schen zehn und 20 Pro­zent aller an COVID-19 Erkrank­ten lei­den in der Folge an einem Long COVID-Syn­drom. Seit die Omi­kron-Vari­ante domi­niert, liegt die Inzi­denz auf­grund des vor­wie­gend mil­de­ren Ver­laufs der Akut­in­fek­tion bei zwei bis drei Pro­zent. „Beim Long COVID-Syn­drom han­delt es sich um ein Multi-Organ­syn­drom und noch immer um eine Aus­schluss­dia­gnose“, betont Univ. Prof. Mari­ann Pavone-Gyön­gyösi von der kar­dio­lo­gi­schen Long-COVID Ambu­lanz am AKH Wien. Mit mehr als 200 mög­li­chen Sym­pto­men kann die Erkran­kung nur als Aus­schluss­dia­gnose fest­ge­stellt wer­den. Ein­zi­ger Fix­punkt ist eine vor­an­ge­gan­gene COVID-Infek­tion, deren Sym­ptome län­ger als vier Wochen andau­ern oder sich ver­schlech­tern. Dar­un­ter sind Abge­schla­gen­heit, Kurz­at­mig­keit, Kon­zen­tra­ti­ons­schwie­rig­kei­ten und Kopf­schmer­zen die häu­figs­ten Beschwer­den, die die Pati­en­ten ange­ben. Orga­nisch handle es sich vor allem um post-exer­tio­nale Malaise, ein pos­tu­ra­les Tachy­kar­die-Syn­drom sowie Pal­pi­ta­tio­nen, Brust­schmer­zen ebenso wie Fie­ber­schübe und anhal­tende Sub­fe­bri­li­tät. Auch das Auf­tre­ten von neuen Sym­pto­men nach vier Wochen ist mög­lich; meis­tens mani­fes­tiert sich eine chro­ni­sche Fatigue.

„Typisch gibt es in Bezug auf Long COVID nicht“, stellt Univ. Prof. Josef Nie­bauer von der Long COVID-Reha am Uni­kli­ni­kum Salz­burg klar. „Wir wer­den immer noch täg­lich über­rascht.“ Frus­trie­rend sei es, einem an COVID Erkrank­ten nicht sagen zu kön­nen, ob er Long COVID erkran­ken wird und falls ja, wie lange es dau­ern wird. Nie­bauer: „Die sicherste Methode, Long COVID zu ver­hin­dern, ist immer noch, geimpft zu sein oder das Virus nicht zu bekom­men“. Den­noch lie­ßen sich empi­risch Risi­ko­fak­to­ren ablei­ten: Adi­po­si­tas, Alter, weib­li­ches Geschlecht, Niko­tin- und Alko­hol­kon­sum, zu wenig Schlaf und Bewe­gung spre­chen eher für die Mani­fes­ta­tion eines Long COVID-Syndroms.

Die Pro­gnose ori­en­tiert sich ebenso an Wahr­schein­lich­kei­ten: Pati­en­ten, bei denen es auf­grund einer schwe­ren COVID-19- Erkran­kung zu Organ­schä­den gekom­men ist, erkran­ken eher an Long COVID. Auch geht man davon aus, dass die Sym­ptome län­ger andau­ern. Was jedoch laut Gyön­gyösi fest­steht: „Mit der Zeit sind die Long COVID-Sym­ptome selbst­li­mi­tie­rend – auch wenn es Monate dauert.“

Theo­rien zur Pathogenese 

Das „Tücki­sche“ an Long COVID sei den Aus­sa­gen der Exper­ten zufolge, dass die Betrof­fe­nen mit mas­siv ein­schrän­ken­den Beschwer­den in die Ordi­na­tion kom­men, die Befunde aber nega­tiv aus­fal­len. „Das heißt nur, dass wir das Limit der der­zeit ver­füg­ba­ren dia­gnos­ti­schen Mit­tel erreicht haben“, stellt Gyön­gyösi fest. Die Para­me­ter, die die Long COVID-Sym­pto­ma­tik ables­bar machen wür­den, kenne man noch nicht. Einer der Gründe dafür ist, dass sich Erklä­run­gen zur Patho­ge­nese für Long COVID aus­schließ­lich auf Theo­rien stüt­zen. Dazu die Exper­tin: „Alle Theo­rien basie­ren auf Unter­su­chun­gen im klei­nen Pati­en­ten­kol­lek­tiv und konn­ten im grö­ße­ren Set­ting nicht bestä­tigt wer­den“, erklärt Gyöngyösi.


Long COVID: die häu­figs­ten Symptome*

Abge­schla­gen­heit und Müdig­keit: 65 Prozent
Kurz­at­mig­keit und Atem­not: 43 Prozent
Kon­zen­tra­ti­ons­schwie­rig­kei­ten: 33 Prozent
Kopf­schmer­zen: 30 Prozent
Post-Exer­tio­nal Malaise: 29 Prozent
Mus­kel­schmer­zen: 25 Prozent
Geschmacks- und Geruchs­ver­lust: 22 Prozent
Andere Sym­ptome: zehn Prozent

* laut einer Befra­gung von 102 Betrof­fe­nen im Rah­men des Aus­trian Corona Panel Pro­jects der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien im April 2022, die im Okto­ber 2022 ver­öf­fent­licht wurde.


Was die unter­schied­li­chen Ent­ste­hungs­theo­rien (siehe Kas­ten) anlangt, meint Nie­bauer: „Das Virus löst im Kör­per meh­rere Mecha­nis­men aus. Man kann bei ein­zel­nen Pati­en­ten bei der einen oder ande­ren Theo­rie anset­zen, aber für die Summe an Betrof­fe­nen gibt es bis dato keine sin­gu­läre Erklä­rung.“ Gyön­gyösi sieht in den Theo­rien zumin­dest ansatz­weise einen Fort­schritt: „Wir haben durch Erkennt­nisse aus klei­nen Pati­en­ten­kol­lek­ti­ven zumin­dest Anhalts­punkte, was wir unter­su­chen kön­nen. Zu Beginn der Pan­de­mie wuss­ten wir auch das nicht.“


Long COVID: Theo­rien zur Ursache

Die heute vor­herr­schen­den Theo­rien sind:

– Die Haupt­theo­rie: Viruspersistenz
Die Virus­in­fek­tion dau­ert sub­kli­nisch an, was die wei­ter­hin per­sis­tie­ren­den Sym­ptome erklärt. „Der Mecha­nis­mus ist ähn­lich dem Her­pes-Virus. Es per­sis­tiert im Kör­per und flammt bei den einen wie­der auf, bei ande­ren nicht“, ver­gleicht Niebauer.

– Ent­glei­sung des Immunsystems
„Das Virus akti­viert spe­zi­fi­sche Abwehr­zel­len, was ver­schie­dene orga­ni­sche Sym­ptome aus­löst“, erklärt Gyöngyösi.

– Eine über­schie­ßende anti-ent­zünd­li­che Reaktion
Diese mög­li­che Ursa­che wurde in einer Stu­die der Joint Meta­bo­lome Faci­lity der Uni­ver­si­tät Wien in Zusam­men­ar­beit mit der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien unter Betei­li­gung von Gyön­gyösi im Dezem­ber 2022 ermit­telt. Wäh­rend es bei einer Virus­in­fek­tion nor­ma­ler­weise zu einer star­ken Akti­vie­rung des Immun­sys­tems kommt, waren bei nahezu allen unter­such­ten Long COVID-Pati­en­ten Zyto­kine, Akut­phase-Pro­te­ine und Eicos­ano­ide kaum auf­find­bar. Hin­ge­gen konnte bei sym­ptom­los Gene­se­nen ein gewis­ser Rest an Ent­zün­dungs­re­ak­tio­nen nach­ge­wie­sen wer­den. Bei Long COVID-Pati­en­ten konn­ten anti-ent­zünd­lich wir­kende Pro­te­ine, Lipide und Meta­boli­ten gefun­den wer­den. Die Stu­die lie­fert den Hin­weis, dass eine erhöhte Infek­tio­si­tät des Virus durch einen Man­gel an Akut­phase-Pro­te­inen erklärt wer­den kann. Die anti- ent­zünd­li­chen Ver­bin­dun­gen Tau­rin und Hypa­pho­rin waren bei Long COVID-Pati­en­ten stark erhöht. Hypa­pho­rin kann in Tie­ren spon­tan Schlaf indu­zie­ren, was laut der Exper­tin einen unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang mit dem Erschöp­fungs­syn­drom nahelegt.

– Blo­ckade von ACE2-Rezeptoren
Diese Blo­ckade schwächt das Immun­sys­tem. Dabei han­delt es sich um poten­ti­elle Ein­tritts­stel­len des Virus in Organ­zel­len, die sich im gan­zen Kör­per fin­den, größ­ten­teils in Pul­mo­n­al­ge­fä­ßen. Gyön­gyösi dazu: „Der ACE2-Rezep­tor ist ein mit dem X‑Chro­mo­som- asso­zi­ier­ter Rezep­tor. Da diese bei Frauen wei­ter ver­brei­tet sind, würde man erwar­ten, dass Frauen von einer aku­ten Infek­tion mit dem Corona-Virus mehr betrof­fen sind als die Män­ner, was aber nicht der Fall ist.“ Ob ein Zusam­men­hang zwi­schen den wäh­rend der aku­ten Infek­tion Virus-beleg­ten ACE2-Rezep­to­ren und Long COVID-Syn­drom gibt, sei der­zeit nicht bekannt.

– Direkte Schä­di­gung von Endothelzellen
Infolge der Endo­thel­schä­di­gung kommt es zu Durch­blu­tungs­stö­run­gen, Throm­bo­sen, Embo­lien sowie zu Ent­zün­dun­gen von Gefä­ßen und Organen.


Bei Pal­pi­ta­tio­nen, Kurz­at­mig­keit oder all­ge­mei­ner Schwä­che wird ein umfas­sen­des Scree­ning durch­ge­führt, um wesent­li­che Organ­schä­den aus­zu­schlie­ßen. Das umfasst ein EKG, Labor, Lun­gen­funk­ti­ons­test und Lun­gen­rönt­gen. Zusätz­lich kön­nen wei­tere dia­gnos­ti­sche Unter­su­chun­gen wie Lang­zeit-EKG, CT der Lunge, Herz-Ultra­schall und Herz-MRT durch­ge­führt wer­den. „Kann eine orga­ni­sche Dia­gnose gestellt wer­den wie zum Bei­spiel eine abklin­gende Pneu­mo­nie oder eine Peri­myo­kar­di­tis, wird mit den übli­chen Medi­ka­men­ten behan­delt, und es ist keine Long COVID-Dia­gnose mehr“, erklärt Gyön­gyösi. Sind die Unter­su­chun­gen unauf­fäl­lig und liegt eine vor­an­ge­hende COVID-Infek­tion vor, wird die Dia­gnose „Long COVID-Syn­drom“ gestellt. Dann ori­en­tiert sich die Behand­lung an der Symptomatik.

Mul­ti­pro­fes­sio­nelle Rehabilitation

Im Anschluss an die akute COVID-19-Infek­tion zeige ein lang­fris­ti­ges ambu­lan­tes oder sta­tio­nä­res mul­ti­pro­fes­sio­nel­les Reha­bi­li­ta­ti­ons­pro­gramm die bes­ten Erfolge; im Mit­tel punkt stehe Aus­dauer- und Kraft­trai­ning. Dazu Nie­bauer: „Wir haben immer wie­der Pati­en­ten mit Atem­not, aber die Lun­gen­tests sind völ­lig nor­mal. Diese Pati­en­ten sind peri­pher erschöpft, aber meist aus mus­ku­lä­rer Ursa­che.“ Wich­tig sei das „Pacing“, wie der Experte betont: „Long COVID-Pati­en­ten lei­den häu­fig an post-exer­tio­nal Malaise. Sie füh­len sich nach zu viel Trai­ning schlech­ter als davor, gele­gent­lich auch nach gewöhn­li­chem Trai­ning“. Die post-exer­tio­nal Malaise gilt als die bei Long COVID typi­sche Belas­tungs­in­to­le­ranz. Daher gehe man in der Reha­bi­li­ta­tion struk­tu­riert und mit lang­sam stei­gern­der Akti­vi­tät vor. Dazu komme auch, dass sich die Pati­en­ten bei Bewe­gung unter ärzt­li­cher Auf­sicht siche­rer füh­len, erklärt Nie­bauer. Ganz gene­rell stellt die Modi­fi­ka­tion des Lebens­stils mit gesun­der Ernäh­rung, aus­rei­chend Flüs­sig­keits­zu­fuhr, Bewe­gung und Schlaf­hy­giene einen wich­ti­gen Fak­tor dar. „Da man auf keine spe­zi­elle Long COVID-The­ra­pie zurück­grei­fen kann, ver­sucht man, die Gesamt­ge­sund­heit des Pati­en­ten zu ver­bes­sern“, kon­sta­tiert Nie­bauer. Eine ein­zelne The­ra­pie oder ein Medi­ka­ment für Long COVID ist der­zeit nicht in Sicht. „Das ist für ein Multi-Organ­syn­drom auch schwer vor­stell­bar“, meint Gyön­gyösi, auch wenn es für die Zukunft nicht aus­ge­schlos­sen wer­den könne.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 7 /​10.04.2023