Hyper­urik­ämie und Gicht: Ernäh­rung senkt Harnsäurespiegel

24.03.2023 | Medizin

Liegt der Harn­säu­re­wert über 10 mg/​dl, kommt es bei 50 Pro­zent der Betrof­fe­nen in den kom­men­den drei bis fünf Jah­ren zu einem Gicht­an­fall. Neben der medi­ka­men­tö­sen Sen­kung in die­sem Sta­dium hat auch die Ernäh­rung gro­ßen Ein­fluss – immer­hin kann dadurch der Harn­säu­re­spie­gel um rund ein Fünf­tel gesenkt werden. 

Mar­tin Schiller

Ins­ge­samt 28 gene­ti­sche Risi­ko­fak­to­ren für erhöhte Harn­säu­re­spie­gel hat das inter­na­tio­nale Glo­bal Urate Gene­tics Con­sor­tium (GUCC) nach Ana­lyse des Genoms von mehr als 140.000 Per­so­nen ermit­telt. „Die Gene­tik ist ein star­ker Ein­fluss­fak­tor für die Ent­wick­lung einer Hyper­urik­ämie. Ihr Anteil liegt bei rund 80 Pro­zent“, sagt Rai­mund Lun­zer von der Abtei­lung für Innere Medi­zin am Kran­ken­haus der Barm­her­zi­gen Brü­der in Graz. Den­noch: Aktu­el­len Stu­dien zufolge kann man mit der Ernäh­rung den Harn­säu­re­spie­gel um 18 bis 20 Pro­zent sen­ken. Die Öster­rei­chi­sche Gesell­schaft für Rheu­ma­to­lo­gie und Reha­bi­li­ta­tion (ÖGR) hat die­ses Jahr ein Update mit Lebens­stil-Opti­mie­run­gen für Pati­en­ten mit Gicht und Hyper­urik­ämie erstellt.*

Die wesent­li­chen Maß­nah­men: Gewichts­ab­nahme bei bestehen­dem Über­ge­wicht, Reduk­tion von rotem Fleisch und ver­ar­bei­te­ten Fleisch­wa­ren sowie Ein­schrän­kun­gen bei Genuss von Mee­res­früch­ten und Alko­hol. „Man kann sich stark an den Grund­sät­zen der Mit­tel­meer­kost mit viel Gemüse, Obst, maß­vol­lem Fleisch­kon­sum und regel­mä­ßi­gem Ver­zehr von Fisch ohne Haut ori­en­tie­ren“, sagt Priv. Doz. Rudolf Puch­ner von der Danube Pri­vate Uni­ver­sity (DPU) Krems, der an der Erstel­lung des Updates betei­ligt war. Auch die DASH-Diet (Die­tary Approa­ches to Stop Hyper­ten­sion), die auf einem hohen Anteil von Voll­korn­pro­duk­ten, fett­ar­men Milch­er­zeug­nis­sen, Früch­ten und Nüs­sen sowie einem nied­ri­gen Anteil von Fleisch basiert, sei dies­be­züg­lich emp­feh­lens­wert. Lun­zer rät dazu, beim Kon­sum von Fleisch die­ses vor­her zu kochen, da Purine zu einem gro­ßen Teil ins Koch­was­ser übergehen.

Eine aktive Sen­kung des Harn­säu­re­sie­gels könne laut Puch­ner durch den täg­li­chen Kon­sum von fett­ar­men Milch­pro­duk­ten erzielt wer­den. Grü­nes Licht gibt es auch für den Kon­sum von Kaf­fee. „Regel­mä­ßi­ger Genuss von Kaf­fee kann hel­fen, den Harn­säu­re­spie­gel zu sen­ken – auch in Ergän­zung zu Diät und Medi­ka­men­ten – und ist daher zu befür­wor­ten. Der dies­be­züg­li­che Evi­denz­grad ist gut“, berich­tet Puch­ner. Lun­zer ver­weist auf den posi­ti­ven Effekt von Vit­amin C. „Die täg­li­che Ein­nahme von 500 mg senkt den Harn­säu­re­spie­gel inner­halb von zwei Mona­ten um 20 Pro­zent. Und auch Kirsch­ex­trakte kön­nen zur Sen­kung ein­ge­setzt wer­den.“ Das seien aber nur Beob­ach­tun­gen, denn: „Wie soll man eine Stu­di­en­gruppe ohne Kaf­fee und Vit­amin C etablieren?“

Flüs­sig­keits­zu­fuhr entscheidend
Eine wich­tige Rolle in den Emp­feh­lun­gen spielt die Flüs­sig­keits­zu­fuhr. „Bei Dehy­drie­rung ist die Harn­säu­re­kon­zen­tra­tion höher. Damit steigt auch das Risiko für eine Gicht­at­ta­cke. Daher wird emp­foh­len, alters­ad­ap­tiert täg­lich min­des­tens ein­ein­halb bis zwei Liter Was­ser oder Tee zu trin­ken“, erklärt Puch­ner. Pati­en­ten mit Hyper­urik­ämie und Gicht soll­ten vor allem Frucht­säfte mei­den – spe­zi­ell Oran­gen­saft – und mit Frucht­zu­cker gesüßte Geträn­ken, da der Abbau von Fruk­tose zum Anstieg des Harn­säu­re­spie­gels führt. Lun­zer warnt beson­ders vor dem Inhalts­stoff High Fruc­tose Corn Syrup (HFCS): „Diese künst­li­che Fruk­tose stei­gert den Harn­säu­re­spie­gel um das Vier- bis Acht­fa­che. Außer­dem för­dert sie die Ent­ste­hung einer nicht­al­ko­ho­li­schen Fett­le­ber.“ Den selbst gepress­ten Frucht­saft sieht er „als das gerin­gere Pro­blem an“. Als risi­ko­frei gel­ten Light-Getränke ohne Fruktose.

Alko­hol­kon­sum im Fokus
Im Fokus der Lebens­stil­the­ra­pie steht auch das Thema Alko­hol­kon­sum. „Alko­ho­li­sche Getränke füh­ren dazu, dass die Harn­säu­re­aus­schei­dung gehemmt wird. Bier ist beson­ders pro­ble­ma­tisch, denn hier kommt noch ein Fak­tor dazu, der zur Erhö­hung des Harn­säu­re­spie­gels bei­trägt: die Hefe. Das bedeu­tet wie­derum, dass auch alko­hol­freies Bier mit Vor­sicht zu genie­ßen ist“, erklärt Puch­ner. Lun­zer ergänzt: „Es gibt indi­vi­du­ell unter­schied­li­che Poten­tiale für die Aus­schei­dung von Harn­säure. Sie lie­gen zwi­schen 400 und 800 mg/​dl pro Tag. Die durch einen hal­ben Liter Bier zuge­führ­ten Harn­säu­re­äqui­va­lente über­tref­fen die­ses Poten­tial aller­dings bereits.“

Bis vor eini­gen Jah­ren wurde Pati­en­ten mit Hyper­urik­ämie und Gicht emp­foh­len, den Kon­sum von Hül­sen­früch­ten ein­zu­schrän­ken. Aktu­ell wird von Boh­nen, Lin­sen oder Soja jedoch nicht mehr abge­ra­ten – im Gegen­teil: „Purin­rei­ches Gemüse wird expli­zit emp­foh­len“, sagt Puch­ner und führt wei­ter aus: „Die aktu­elle Daten­lage zeigt, dass pflanz­li­che Purine kei­nen nega­ti­ven Ein­fluss auf den Harn­säu­re­spie­gel haben.“

Liegt der Harn­säu­re­wert über 10 mg/​dl, kommt es laut Lun­zer bei 50 Pro­zent der Betrof­fe­nen in den kom­men­den drei bis fünf Jah­ren zu einem Gicht­an­fall. „Daher ist die medi­ka­men­töse Sen­kung der Harn­säure in die­sem Sta­dium eine ernst­hafte Über­le­gung.“ Bei einer (gesi­cher­ten) Gicht­at­ta­cke emp­fiehlt Lun­zer fol­gende Vor­gangs­weise: „Erst­li­ni­en­the­ra­pie ist die sofor­tige Gabe von 1 mg Col­chi­cin. Nach einer Stunde wird eine wei­tere Tablette ein­ge­nom­men. Eine spä­tere Ein­nahme hat keine Rele­vanz, weil das Col­chi­cin nur in der ers­ten Stunde wirkt.“ Auch NSAR kön­nen in der Akut­phase genom­men wer­den, aller­dings müsse der Ein­satz gegen das Risiko, dass bestehende Nie­ren­er­kran­kun­gen und eine Hyper­to­nie sich dadurch in die­ser Phase der Ent­zün­dung ver­schlech­tern kön­nen, abge­wo­gen wer­den. Als bes­sere Option sieht Lun­zer die Ver­ab­rei­chung von Kor­ti­son: „Ich emp­fehle drei Tage lang 25 mg oral oder intra­mus­ku­läre Injek­tio­nen. Wenn das nicht aus­reicht, ist die Lokal­the­ra­pie des betrof­fe­nen Gelenks Gold­stan­dard. Dabei wird einer­seits Flüs­sig­keit aus dem betrof­fe­nen Gelenk punk­tiert, ande­rer­seits Kor­ti­son ins Gelenk inji­ziert.“ In beson­de­ren Fäl­len – etwa bei Kar­zi­nom­pa­ti­en­ten, St. p. Myo­kard­in­farkt oder auch schwe­rem Dia­be­tes mel­li­tus – setzt Lun­zer Inter­leu­kin1-Inhi­bi­to­ren ein. „Sie set­zen genau am Ent­zün­dungs­me­cha­nis­mus der Gicht an und inner­halb von 24 Stun­den sind die Pati­en­ten beschwerdefrei.“

Nach einem Gicht­an­fall sollte die Harn­säure geschlechts­un­ab­hän­gig auf einen Ziel­wert von 6,5 mg/​dl gesenkt wer­den. Als The­ra­pie der ers­ten Wahl steht hierzu Allo­pu­ri­nol zu Ver­fü­gung. „Die Ein­nahme sollte aber stets in Kom­bi­na­tion mit Ernäh­rungs­maß­nah­men erfol­gen“, sagt Lun­zer. „Man kann mit Allo­pu­ri­nol sofort begin­nen. Eine frü­here These, wonach bei sofor­ti­ger Gabe die Harn­säu­re­de­pots aus­ge­wa­schen wer­den und sich die Atta­cke dadurch ver­län­gert, wurde in einer US-Stu­die ein­deu­tig fal­si­fi­ziert.“ Als unters­ten Wert für die Sen­kung nennt er 3 mg/​dl. Wei­ter sen­ken sollte man nicht, denn die Harn­säure habe auch eine Schutz­funk­tion. „Sie ist ein Radi­kal­fän­ger, bie­tet Oxi­da­ti­ons­schutz und weist auch neu­ro­lo­gi­sche Schutz­funk­tio­nen auf. Letz­te­res wurde aus Stu­dien abge­lei­tet, in denen man fest­ge­stellt hat, dass Demenz-Pati­en­ten und Per­so­nen mit Mul­ti­pler Skle­rose oft nur Werte von rund 2 mg/​dl haben.“

Auch wenn die Harn­säure medi­ka­men­tös zügig gesenkt wird, müs­sen die Betrof­fe­nen mit wei­te­ren Anfäl­len rech­nen. „Mit 88-pro­zen­ti­ger Wahr­schein­lich­keit tritt in den fol­gen­den zwölf Mona­ten wie­der eine Atta­cke auf, mit 76-pro­zen­ti­ger Wahr­schein­lich­keit im zwei­ten Jahr danach“, sagt Lun­zer. Man gehe davon aus, dass die Harn­säu­re­de­pots erst nach fünf Jah­ren leer­ge­wa­schen sind, „sofern die Lebens­stil­vor­ga­ben kon­se­quent umge­setzt werden.“

Lei­det ein Pati­ent seit Mona­ten unter wie­der­keh­ren­den Gicht­an­fäl­len, besteht laut Lun­zer auch die Mög­lich­keit, Col­chi­cin für drei bis sechs Monate pro­phy­lak­tisch zu geben, um wei­tere Anfälle zu ver­hin­dern. „Dies ist auch aus kar­dio­lo­gi­schen Grün­den sinn­voll, weil Col­chi­cin ent­zün­dungs­hem­mend wirkt.“ Wich­tig sei dabei aber, dass es sich um einen com­pli­an­ten Pati­en­ten handle.

Risiko für Myo­kard­in­farkt und Insult
Men­schen, die an Gicht lei­den, haben ein deut­lich erhöh­tes Risiko, einen Myo­kard­in­farkt oder einen Insult zu erlei­den. Lun­zer dazu: „Die­ses Risiko beträgt inner­halb von drei Jah­ren zwi­schen zehn und 20 Pro­zent.“ Das liegt nicht so sehr am erhöh­ten Harn­säu­re­wert, son­dern viel­mehr an der Gefäß­ent­zün­dung, die durch Gicht aus­ge­löst wird. Gicht­to­phi lagern sich in allen Gefä­ßen ab. „Außer­dem ist Gicht nahezu immer mit Hyper­to­nie, Dia­be­tes mel­li­tus, Hyper­li­pi­dä­mie oder Über­ge­wicht asso­zi­iert, wor­aus sich eine zusätz­li­che Belas­tung des Gefäß­sys­tems ergibt“, betont der Experte.


Dia­gnos­tik mit CT
Schwillt ein Groß­ze­hen­grund­ge­lenk über Nacht stark an, muss laut Rai­mund Lun­zer nicht veri­fi­ziert wer­den, dass es sich um einen Gicht­an­fall han­delt. Für die Dar­stel­lung von Harn­säu­re­de­pots und Abla­ge­run­gen der Kris­talle in den Gelen­ken – auch in der Wir­bel­säule – steht mit Dual-SPECT-CT eine Com­pu­ter­to­mo­gra­fie­tech­nik zur Ver­fü­gung. Wobei ledig­lich zwei Ein­schrän­kun­gen bestehen, wie Lun­zer erklärt: „Nach der ers­ten Gicht­at­ta­cke sind die Gicht­kris­talle noch nicht aus­ge­fal­len, daher ist die Aus­sage der Unter­su­chung nicht zuver­läs­sig. Sie ist außer­dem nicht für Per­so­nen mit einem Kör­per­ge­wicht von über 120 Kilo­gramm geeignet.“


Aus Sicht von Puch­ner sind die Kom­or­bi­di­tä­ten eine Indi­ka­tion für die Opti­mie­rung der Ernäh­rung. „Beher­zigt man die Grund­re­geln von gesun­den Kost­for­men, erreicht man eine Sen­kung des Harn­säu­re­spie­gels und leis­tet einen guten Bei­trag zur Gewichts­re­duk­tion, für die Nor­ma­li­sie­rung des Blut­drucks und für die Gefäß­ge­sund­heit im All­ge­mei­nen.“ Glei­ches gelte für Aus­dau­er­be­we­gung und kar­dio­me­ta­bo­li­sches Trai­ning: „Sie sind wich­tig, um das Risiko für Kom­or­bi­di­tä­ten zu sen­ken und die Gewichts­kon­trolle zu unter­stüt­zen.“ „Sport hat auch einen sen­ken­den Effekt auf den Harn­säu­re­spie­gel, da im Rah­men der ange­sto­ße­nen Stoff­wech­sel­pro­zesse ein ver­mehr­ter Abbau erfolgt“, resü­miert Lunzer

* Saut­ner J, Eich­bauer-Sturm, Gru­ber J, Lun­zer R, Puch­ner RJ: 2022 update of the Aus­trian Society of Rheu­ma­to­logy and Reha­bi­li­ta­tion nut­ri­tion and life­style recom­men­da­ti­ons for pati­ents with gout and hyper­urice­mia. Wien Klin Wochen­schr (2022) 134;546–554

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 6 /​25.03.2023