Essstörungen: Großteil nicht diagnostiziert

25.09.2023 | Medizin

Obwohl es typische Warnhinweise für Essstörungen gibt, wird die Erkrankungsgruppe bei drei Viertel aller Betroffenen nicht diagnostiziert. Der Grund:  Im Gegensatz zu lauten Störungen wie ADHS sind Essstörungen internalisierende Störungen, die das Umfeld nicht so stark stören.

Essstörungen sind immer das Resultat von verschiedenen Risikofaktoren: beginnend bei dispositionellen, sozialen und ideologischen bis hin zu psychologischen Variablen. In jedem Fall handelt es sich um schwere psychiatrische Erkrankungen,“ sagt Univ. Prof. Andreas Karwautz von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien. Und weiter: „Diese Erkrankungen entstehen im Jugendalter, das heißt, dass ein über 30-Jähriger typischerweise seltener an psychischen Störungen erkranken wird – ausgenommen Altersdemenz oder andere altersbedingte Krankheitsbilder.“ Es sei vor allem die „unglaubliche Dynamik der Adoleszenz“ und der Druck, in die Peergroup integriert sein zu wollen, die Jugendliche besonders anfällig für Dysbalancen ihrer seelischen Gesundheit mache, ergänzt Univ. Prof. Marguerite Dunitz-Scheer von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Graz. „Umso wichtiger ist es auch, herauszufinden, welche Bedeutung und Funktion das Nicht-Essen für Jugendliche hat. Ist es beispielsweise ein Versuch, zu imponieren oder den Selbstwert durch ungewöhnliches Verhalten zu stärken?“, so die Expertin.

Vorwiegend Mädchen betroffen

Die drei häufigsten Erscheinungsformen von Essstörungen sind Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-eating-Störungen. „Patienten mit Anorexia nervosa halten Diäten und vermeiden hochkalorische Speisen. Bulimia und Binge-eating wiederum werden durch unkontrollierte Heißhungerattacken charakterisiert. Allerdings wird nur bei der Bulimie das Erbrechen oder Abführen künstlich herbeigeführt“, berichtet Karwautz. Etwa vier Prozent der weiblichen Elf- bis 18-Jährigen und 0,3 Prozent der Burschen erkranken an einer Essstörung. Die Lebenszeitprävalenz für Anorexia nervosa beträgt bei Frauen etwa 0,9 Prozent. „Am häufigsten kommt sie bei Pubertierenden ab 13 Jahren vor. Mitunter kann sie aber auch bereits unter zehn Jahren auftreten“, erklärt Karwautz. Dunitz-Scheer bestätigt: „Teilweise beginnen anorektische Reaktionen bereits bei Sieben-, Acht- und Neunjährigen und werden als Early onset Anorexie bezeichnet.“ Sie verweist außerdem auf die spezifischen Charaktereigenschaften, die den jungen Patienten mit Anorexie in der Regel gemein sind: „Es sind immer sehr starke Persönlichkeiten, die zwanghaft und leistungsbetont sind. In der Regel sind es die exzellenten Schülerinnen.“

Drei Viertel nicht diagnostiziert

Trotz der typischen Faktoren und Warnhinweise scheint die Zahl der nicht-diagnostizierten Elf- bis 18-Jährigen unverändert hoch zu sein. Laut der Mental Health in Austrian Teenagers (MHAT)-Studie an 3.615 Jugendlichen werden drei Viertel der Jugendlichen mit Essstörung weder diagnostiziert noch adäquat therapiert. Karwautz dazu: „Laute Störungen wie ADHS oder aggressive Verhaltensstörungen werden öfter diagnostiziert und betreut, weil sie das Umfeld stören.“ Dem gegenüber stehen die internalisierenden Störungen wie Ess- oder Angststörungen; hier ist nur knapp jeder Fünfte in Behandlung. „Diese Störungen stören das Umfeld nicht so stark, im Gegensatz zum aggressiven Jugendlichen mit einer Verhaltensstörung“, führt Karwautz weiter aus.

Suizidrisiko stark erhöht

Wegen des 200-fach erhöhten Suizidrisikos gegenüber der Normalbevölkerung stellt Anorexia nervosa aufgrund ihrer zahlreichen psychiatrischen Komorbiditäten wie Zwangsstörungen, Angststörungen oder Depressionen laut den Aussagen des Experten die „gefährlichste“ psychiatrische Erkrankung dar. „Die Weichen für die Früherkennung und folglich das Management von Essstörungen stellen Allgemein- und Schulärzte, da sie die Anorexie sehr oft als körperliche Erkrankung verstehen“, weiß Karwautz. Unerkannt blieben jedoch die „spezifischen Symptome der Anorexie“. Der Erkrankung liege immer eine Familiendynamik zugrunde, macht Dunitz-Scheer auf die Rolle des jugendlichen Umfeldes aufmerksam, denn „wenn eine 13-Jährige zu hungern beginnt und nach drei abgenommenen Kilos nicht wieder damit aufhört, dann muss beispielsweise die Mutter die Autorität haben, das Kind zum Arzt zu bringen“. Was Dunitz-Scheer jedoch beobachtet: Zu häufig kapitulieren die Erziehungsberechtigten vor den Jugendlichen aus Hilflosigkeit und Scham.

Neurologische und kardiale Komplikationen

Im Laufe einer Anorexia nervosa treten zunehmend Komplikationen auf. „So überlastet die ständige motorische Hyperaktivität den Organismus des ohnehin bereits Unterernährten. Auch mit kardialen und neurologischen Folgen ist aufgrund des Erbrechens und des Laxantienabusus zu rechnen“, bestätigt Karwautz. Weiters kann es aufgrund des Östrogenmangels zum Ausbleiben der Regelblutung kommen; die niedrigen FHS- und LH-Spiegel beeinflussen die Fertilität negativ. „Obstipationen, Bauchschmerzen und verlangsamte Magenentleerung sowie die Symptome eines auf Energiesparen eingestellten Organismus wie Frieren oder Trockenheit der Haut treten ebenfalls regelhaft auf.“ Als Folge der Anorexie sei auch eine Osteoporose möglich, deren Behandlung „langwierig“ sei.

Vor jedem Therapiekonzept stehe für den Allgemeinmediziner die Regel „Ernstnehmen und Dranbleiben – zumindest einen Monat lang beobachten“, skizziert Dunitz-Scheer die Rolle des Allgemeinmediziners im Rahmen des interdisziplinären Behandlungsteams. Dazu gehören weiters Pädiater, Psychologen, Diätologen und Physiotherapeuten. Verhärtet sich der Verdacht, wird im Rahmen der multimodalen und multidisziplinären Behandlung das Ziel verfolgt, den kachektischen Patienten mit Anorexia nervosa wieder dazu zu bringen, „Nahrung zu sich zu nehmen“, wie  Dunitz-Scheer ausführt. Dabei liegt der Fokus darauf, ein iatrogenes Refeeding-Syndrom zu verhindern. „Dieses Syndrom wird von Herzinsuffizienz, neurologischen Komplikationen und peripheren Ödemen begleitet“, fasst Karwautz zusammen. Daher sollte in den ersten Wochen auch eine zu Kohlenhydrat-lastige Kost vermieden werden. Beim Betroffenen müssen in weiterer Folge regelmäßig Laborparameter wie Kalium oder Phosphat und Magnesium kontrolliert werden. Obligat sind Anamnese, körperliche und neurologische Untersuchungen sowie die wöchentliche Gewichtskontrolle, EKG und Knochendichtemessung. Dennoch: Trotz einer individualisierten etwa zwei Jahre dauernden Therapie kann nur etwa die Hälfte der Patienten geheilt werden. Bei weiteren 30 Prozent komme es zu einer Verbesserung; bei einem Fünftel chronifiziert die Erkrankung, weiß Karwautz: „Manche Patienten leiden unabhängig von der Therapie lebenslang an einer Essstörung.“ (MCW)


Auf einen Blick

1) Essstörungen sind immer das Resultat von verschiedenen Risikofaktoren. Vor allem unter 30-Jährige sind betroffen.
2) Etwa vier Prozent der weiblichen Elf- bis 18-Jährigen und 0,3 Prozent der Burschen erkranken an einer Essstörung. Die Lebenszeitprävalenz für Anorexia nervosa beträgt bei Frauen etwa 0,9 Prozent.
3) Die häufigsten Essstörungen sind Anorexia nervosa (Diäten, keine hochkalorische Kost); Bulimia nervosa (Heißhungerattacken mit Erbrechen) und das Binge-eating-Syndrom (Heißhungerattacken ohne Erbrechen).
4) Im Lauf der Anorexia nervosa kommt es zu kardialen und neurologischen Komplikationen; ebenso kann die Regelblutung ausbleiben und es kann zur Beeinträchtigung der Fertilität kommen.
5) Rund drei Viertel der Jugendlichen mit Essstörung werden weder diagnostiziert noch adäquat therapiert.
6) Bei Verdacht auf eine Essstörung sollte der Betroffene zunächst zumindest ein Monat lang beobachtet werden.
7) Die Behandlung ist multimodal und multidisziplinär.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 /25.09.2023