Erektile Dysfunktion: Explosion der Prävalenz

09.03.2023 | Medizin

Rund 20 Prozent der Männer leiden an einer Form der erektilen Dysfunktion mit einer regelrechten Explosion der Prävalenz im Alter. Bei den unter 40-Jährigen steckt oft die Performance Anxiety dahinter: einerseits falsche Erwartungen und andererseits psychosoziale Aspekte wie beispielsweise Überforderung und auch zwischenmenschliche Faktoren.

Martin Schiller

Rund ein Fünftel aller Männer leiden an einer Form der erektilen Dysfunktion, wie in Meta-Analysen gezeigt wurde. In der Massachusetts Male Ageing Study zeigte sich eine Prävalenz von zehn Prozent zwischen 40 und 49 Jahren, 16 Prozent zwischen 50 und 59 Jahren, 34 Prozent im Alter von 60 bis 69 und 53 Prozent ab 70 Jahren. „Das sind hohe Prozentsätze und eine regelrechte Explosion der Prävalenz im Alter. Aber gleichzeitig haben wir es immer noch mit einem Tabuthema zu tun“, sagt Univ. Prof. Shahrokh F. Shariat von der Universitäts-Klinik für Urologie am AKH Wien. Seiner Ansicht nach sollte die erektile Dysfunktion stets im Kontext verschiedener Männergesundheitsthemen betrachtet werden: „Die Penis-Erektion ist ein komplexer physiologischer Prozess mit neuronalen Komponenten, vaskulären Komponenten und endokrinen Einflüssen. Genauso umfassend muss die Diagnostik einer erektilen Dysfunktion erfolgen.“ Wichtig sei aber auch, Libidostörungen und die erektile Dysfunktion auseinanderzuhalten. „Die erektile Dysfunktion ist laut Definition eine persistierende Unfähigkeit, eine Erektion zu bekommen oder diese lange genug zu halten“, sagt Shariat.

Die Ursachen für eine erektile Dysfunktion:

  • Vaskuläre Pathologie
  • Metabolisches Syndrom
  • Diabetes mellitus (Mikroangiopathie, Makroangiopathie und Neuropathie)
  • Systemerkrankungen wie chronische Nieren- und Lebererkrankungen, Hyperurikämie, COPD, rheumatische Erkrankungen und obstruktives Schlafapnoesyndrom
  • Endokrin: Testosteronmangel, Hyperthyreose, Hyper- und Hypokortisolismus (M. Cushing)
  • Neurogen:

– Läsionen des Zentralnervensystems: Multiple Sklerose, M. Alzheimer, M. Parkinson
– Spinale Läsionen wie Rückenmarksverletzungen
– Periphere Nervenläsionen: zum Beispiel durch Alkoholismus oder Prostatektomie

  • Psychogen: Depressionen, Angststörungen oder psychotische Erkrankungen sowie die damit einhergehende Medikation
  • Prostatakarzinom, benigne Prostatahyperplasie
  • Schwellkörpererkrankungen wie die erworbene Penisverkrümmung (Induratio penis plastica)
  • Arzneimitteleinnahme (siehe Kasten)

Mit der Verteilung auf primär organische Ursachen und primär psychogene Auslöser befassten sich Pozzi et al. im Rahmen einer im Oktober 2022 publizierten Arbeit. Demnach lag in 86,2 Prozent der Fälle eine organische Ursache zugrunde und 13,8 Prozent der Fälle hatten einen psychogenen Auslöser. Als häufigste Risikofaktoren wurden Hypertonie, Rauchen und Alkoholkonsum ermittelt.

Shariat verweist auch auf Untersuchungen, wonach Radfahren durch den Druck und die dadurch folgenden Sensibilitätsstörungen zu einer erektilen Dysfunktion führen kann: „Die Daten sind zwar schwach, aber im Zuge einer umfassenden Abklärung der Ursachen nicht unrelevant.“ Außerdem müsse man vor allem bei jungen Männern auch auf Drogenmissbrauch als möglichen Auslöser achten. Ob COVID-19 eine Rolle bei der Entstehung spielt, wie fallweise berichtet wurde, ist laut Shariat derzeit offen: „Das kann erst über längere Zeiträume eruiert werden. Nicht auszuschließen ist ein Einfluss auf die Entwicklung einer psychogenen erektilen Dysfunktion.“

Marker für koronare Gefäßprobleme

„Aus guten und soliden epidemiologischen Daten geht hervor, dass die erektile Dysfunktion ein frühes Anzeichen von koronaren Gefäßproblemen ist“, erklärt Shariat. Berichtet ein Patient also über eine persistierende erektile Dysfunktion, sollte auf der Basis von standardisierten Fragebögen auch eine umfassende kardiologische Untersuchung durchgeführt werden.“ Germar-Michael Pinggera von der Innsbrucker Universitätsklinik für Urologie verweist auf eine Publikation von Montorsi et al., in der die erektile Dysfunktion als Primärsymptom einer beginnenden vaskulären Pathologie genannt wird. „In dieser Studie war das Symptom bei 67 Prozent der Patienten schon vor der Manifestation einer kardiovaskulären Erkrankung klinisch relevant. Der Zeitraum zwischen dem Auftreten der erektilen Dysfunktion und der kardiovaskulären Erkrankung lag im Mittel bei knapp dreieinhalb Jahren.“

Wie aber erklärt man sich eine persistierende erektile Dysfunktion bei einem jungen Mann ohne neurologische Problematik, ohne anatomische Auffälligkeit und mit gesunden Gefäßen? Vor allem bei den unter 40-jährigen spiele die psychosoziale Komponente eine wesentliche Rolle, betonen beide Experten. „Überforderung, Angst oder vermindertes Selbstwertgefühl führen zu einer Sympathikus-Überaktivität während des Geschlechtsverkehrs und in der Folge zu einer erschwerten Erektion“, erklärt Pinggera die dahinterstehenden Mechanismen. Ebenso könnten zwischenmenschliche Faktoren wie etwa Konflikte in einer Beziehung die sexuelle Erregung beeinträchtigen. Shariat nennt die wichtigsten Fragen an den Betroffenen: „Gibt es besondere Stressoren im Leben? Bestehen Beziehungsprobleme? Erzeugt die Symptomatik Stress?“ Oftmals stecke auch eine ‚Performance Anxiety‘ dahinter: „Wir haben es mit einem soziokulturellen Phänomen zu tun. Dabei geht es um die Frage, wie sehr die Erektion ein Symbol der Männlichkeit ist. Es geht auch um falsche Erwartungen an die ‚Performance‘, die sich zum Teil aus Darstellungen aus Filmen entwickeln“, erklärt Shariat. Dies könne beim jungen Mann zur Frage führen: „Warum performe ich nicht entsprechend?“ Auch der Druck der Familie, Kinder zu zeugen, sei ein wesentlicher Aspekt. Sowohl bei der Diagnose als auch in die Therapie müsse aus diesen Gründen stets auch die Partnerin eingebunden werden.

Zunächst Verhaltensmodifikationen

Therapie der ersten Wahl bei erektiler Dysfunktion sind zunächst Verhaltensmodifikationen und dann PDE-5-Hemmer. „Durch Hemmung des Enzyms Phosphodiesterase-5 kommt es zu einer Erhöhung des Second Messengers cGMP. Dieser führt zu einer vermehrten Vasodilatation und vermehrten Relaxation der glatten Muskulatur und erhöht damit den Bluteinstrom in das Corpus cavernosum. Die Erektion nimmt zu“, erklärt Pinggera das Wirkprinzip. Zur Wahl stehen die vier Wirkstoffe Sildenafil, Tadalafil, Vardenafil und Avanafil. Die Auswahl erfolge – so der Experte – je nach Frequenz des Geschlechtsverkehrs und nach dem Nebenwirkungsprofil. Bei unzureichender Wirksamkeit der oralen Therapie oder Kontraindikation für PDE-5-Hemmer (hohes kardiovaskuläres Risiko, arterielle Hypertonie > 170/110 mmHg, arterielle Hypotonie mit Blutdruckwerten < 90/50 mmHg) kann die Schwellkörper-Autoinjektion (SKAT) zum Einsatz kommen. „Dabei wird Prostaglandin PGE1 in das Corpus cavernosum injiziert. Diese Injektion bewirkt die Relaxation der glatten Muskulatur und löst eine Vasodilatation aus“, berichtet Pinggera. Bei der Schwellkörper-Autoinjektion wird der Patient im Vorfeld eingeschult. Im Fall einer insuffizienten Response kann eine Kombinationstherapie mit verschiedenen anderen vasoaktiven Substanzen – die Trimix-Therapie – durchgeführt werden. Kommt die Schwellkörper-Autoinjektion beim Patienten – wegen der Angst vor Injektionen – nicht in Betracht, erfolgt die transurethrale Gabe von Prostaglandin. Lokale Hilfsmittel wie Vakuumpumpen ergänzen die therapeutischen Möglichkeiten.

Regelmäßige körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, Normalgewicht, Rauchverzicht sowie die Beschränkung des Alkoholkonsums auf moderate Mengen können sich positiv bei erektiler Dysfunktion auswirken. Pinggera schränkt aber ein: „Bei fortgeschrittenen Gefäßveränderungen im Rahmen einer manifesten erektilen Dysfunktion führt eine Lebensstil-Optimierung nicht bei allen Patienten zu einer Verbesserung.“ Dennoch solle eine Umstellung der Lebensgewohnheiten allen Patienten empfohlen werden, da dadurch auch die Wirksamkeit von PDE-5-Hemmern gesteigert werde.

Testosteron beteiligt

Testosteron ist an der Regulation aller Schritte der sexuellen Reaktion beteiligt und scheint auch in der erektilen Funktion des Schwellkörpers eine Rolle zu spielen. „Pathomorphologische Veränderungen der Schwellkörperarchitektur stehen mit einem Testosteronmangel in Zusammenhang. Diese Veränderungen scheinen aber reversibel zu sein“, sagt Pinggera. Zu bedenken sei allerdings, dass ein Testosteronmangel in den seltensten Fällen die einzige Ursache für eine erektile Dysfunktion ist. Sinnvoll sei die Testosterontherapie bei Patienten mit Hypogonadismus beziehungsweise mit Symptomen eines Late Onset Hypogonadism (Altershypogonadismus) wie verminderter Libido, Antriebslosigkeit, Osteoporose und viszeraler Fetteinlagerung. „Außerdem kann die Ansprechrate auf PDE-5-Antagonisten erhöht werden, vor allem bei Patienten mit komplexen Komorbiditäten wie Diabetes mellitus, generalisierter Atherosklerose und dem Metabolischen Syndrom oder auch bei einer insuffizient gewordenen Therapie mit PDE-5-Hemmern“, erklärt Pinggera.

Ein Testosterondefizit besteht häufig bei Menschen mit Typ 2-Diabetes und bei älteren Männern. „Bei jüngeren Männern ist eine Messung des Testosteronspiegels daher ohne klinische beziehungsweise anatomische Verdachtsmomente nicht zielführend“, sagt Shariat. Die Messung selbst sollte morgens und in nüchternem Zustand erfolgen. Bestimmt werden solle laut Shariat nicht nur das Gesamttestosteron, sondern auch stets das freie Testosteron, da dieses „eine große Aussagekraft hat“.


Arzneimittel als Auslöser

Folgende Arzneimittel beziehungsweise Arzneimittelgruppen können Auslöser einer erektilen Dysfunktion sein:

  • Antihypertensiva: Thiazid-Diuretika und Beta-Blocker mit Ausnahme von Nebivolol. „ACE-Hemmer, Kalziumkanalblocker und Angiotension-Rezeptor-Blocker stehen nicht im Zusammenhang mit einer erektilen Dysfunktion“, sagt Pinggera.
  • Antidepressiva: „Hier sind vor allem trizyklische Antidepressiva und MAO-Hemmer als Auslöser zu nennen. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer führen hauptsächlich zu einer verzögerten Ejakulation, können aber auch eine erektile Dysfunktion verursachen“, berichtet Shariat.
  • Antiandrogene, die zum Teil bei der Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms eingesetzt werden.
  • Antipsychotika
  • Hypnotika

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2023