Dia­be­ti­sches Koma: Lebens­be­droh­li­cher Notfall

10.05.2023 | Medizin

In bis zu 90 Pro­zent aller Fälle wird ein dia­be­ti­sches Koma durch eine Keto­azi­dose auf­grund einer Hyper­glyk­ämie ver­ur­sacht. Ein typi­scher Feh­ler von Pati­en­ten ist es, auf die Insu­lin­gabe wäh­rend einer Erkran­kung zu ver­zich­ten, wenn sie kaum etwas essen. 

Julia Fleiß

Beim Coma­dia­be­ti­cum unter­schei­det man kli­nisch drei Ursa­chen: Wäh­rend bei der dia­be­ti­schen Keto­azi­dose und dem hyper­glyk­ämischen hyper­os­mo­la­ren Syn­drom der Glu­kose-Wert zu hoch wird, fällt er beim hypo­glyk­ämischen Koma unter 70 mg/​dl. Lebens­be­droh­lich kön­nen alle For­men sein, wenn auch das Mor­ta­li­täts­ri­siko beim hyper­glyk­ämischen hyper­os­mo­la­ren Syn­drom mit über zehn Pro­zent am höchs­ten ist.

Bereits Glu­kose-Werte von über 250 bis 300 mg/​dl kön­nen zur Keto­azi­dose füh­ren. „Ein rela­ti­ver oder abso­lu­ter Insu­lin­man­gel ent­steht vor­wie­gend bei Typ 1‑Diabetikern. Die Glu­kose gelangt nicht in die Kör­per­zel­len, die ihren Ener­gie­be­darf durch den ver­mehr­ten Abbau von Fett­re­ser­ven abde­cken“, erklärt Univ. Prof. Bern­hard Lud­vik von der Abtei­lung für Endo­kri­no­lo­gie und Dia­be­to­lo­gie an der Kli­nik Wien-Land­straße. Jedoch könne ein abso­lu­ter Insu­lin­man­gel laut Lars Ste­che­mes­ser von der Dia­be­tes-Ambu­lanz am Uni­kli­ni­kum Salz­burg „auch beim pan­kreo­pri­ven Typ 3c-Dia­be­tes ent­ste­hen zum Bei­spiel durch eine Pan­krea­ti­tis oder einen Tumor.“ Sym­ptome der Keto­azi­dose sind Poly­urie, Poly­dipsie und schließ­lich Exsik­kose, wodurch sich die Nie­ren­funk­tion ver­schlech­tern kann. Viele Betrof­fene kla­gen auch über gas­tro­in­testi­nale Beschwer­den. „Es wer­den Keton­kör­per gebil­det, die sich im Blut anrei­chern. Das führt zur Azi­dose, also einer Ver­min­de­rung des pH-Werts, und ist ein lebens­be­droh­li­cher Not­fall“, erklärt Ludvik.

In der Akut­si­tua­tion muss pri­mär der Glu­kose-Wert bestimmt wer­den. Ist er erhöht, folgt der Nach­weis von Keto­nen in Blut oder Harn. Schließ­lich sieht man in der Blut­gas­ana­lyse, ob der Pati­ent azi­do­tisch ist. „Kli­nisch lässt sich die Keto­azi­dose in mild, mit­tel oder schwer ein­tei­len. Danach fällt die Ent­schei­dung für eine ambu­lante The­ra­pie oder die Auf­nahme auf die Nor­mal- oder Inten­siv­sta­tion“, erklärt Stechemesser.

Die pri­märe Maß­nahme bei Keto­azi­dose ist die suf­fi­zi­ente Rehy­drie­rung des Pati­en­ten. Zusätz­lich wird Insu­lin intra­ve­nös ver­ab­reicht. Ste­che­mes­ser weist außer­dem auf die Kon­trolle des Kalium-Werts hin: „Kalium ist für die Zell­funk­tion wich­tig. Wenn der Kali­um­wert schwankt, steigt das Risiko für Herzrhythmusstörungen.“

Ent­glei­sun­gen im Kin­des- und Jugendalter

Warum kommt es über­haupt zur dia­be­ti­schen Keto­azi­dose? „Am häu­figs­ten tritt sie ein, bevor ein Pati­ent die Dia­gnose Dia­be­tes mel­li­tus erhal­ten hat“, weiß Lud­vik aus der Pra­xis. „Beson­ders im Kin­des- und Jugend­al­ter ent­glei­sen Pati­en­ten mit Typ 1‑Diabetes rela­tiv häu­fig im Rah­men der Erst­ma­ni­fes­ta­tion keto­azi­do­tisch“, warnt Ste­che­mes­ser. Er rät, bei Pati­en­ten mit typi­schen Sym­pto­men wie Gewichts­ab­nahme, all­ge­mei­ner Müdig­keit, Poly­urie und Poly­dipsie immer an die Kon­trolle der Glu­kose zu den­ken, um „einen mög­li­chen Dia­be­tes mel­li­tus zu dia­gnos­ti­zie­ren, schon bevor es zur Keto­azi­dose kommt.“ Aber auch Pati­en­ten unter einer Insu­lin­the­ra­pie kön­nen eine Stoff­wech­sel­ent­glei­sung erfah­ren – etwa, wenn sich ein Infekt dazu­ge­sellt. „Ein klas­si­scher Feh­ler von Dia­be­tes-Pati­en­ten ist es, Insu­lin bei einer Erkran­kung aus­zu­las­sen, weil sie kaum etwas essen“, warnt Lud­vik. Auch Hitze, ein Defekt des Insu­lin­pens, der Pen-Nadel oder der Insu­lin­pumpe sowie Medi­ka­mente, die die Insu­lin­emp­find­lich­keit beein­flus­sen, kom­men als Ursa­chen in Frage.

Unter 250 mg/​dl Glu­kose ist eine Keto­azi­dose beim insu­lin­pflich­ti­gen Dia­be­tes­pa­ti­en­ten zwar nicht zu erwar­ten, aber den­noch mög­lich. Ste­che­mes­ser dazu: „Nimmt der Pati­ent SGLT2-Inhi­bi­to­ren ein, kann er im Zusam­men­spiel mit Insu­lin­man­gel eine euglyk­ämische Keto­azi­dose ent­wi­ckeln.“ Da Typ 1‑Diabetiker die­ses Medi­ka­ment übli­cher­weise nicht ein­neh­men, han­delt es sich um eine Son­der­form. Bei sol­chen Wer­ten müsse man laut Ste­che­mes­ser „dif­fe­ren­ti­al­dia­gnos­tisch andere Ursa­chen für die Azi­dose bezie­hungs­weise das Koma abklären.“

Keto­azi­dose sel­ten bei Typ 2‑Diabetes

Typ 2‑Diabetiker kön­nen in der Regel zumin­dest geringe Men­gen an Insu­lin selbst pro­du­zie­ren, sodass eine dia­be­ti­sche Keto­azi­dose bei ihnen sel­te­ner auf­tritt. Dafür kann es – eben­falls sel­ten – zu einem hyper­glyk­ämischen hyper­os­mo­la­ren Syn­drom kom­men. Typisch sind extreme Blut­zu­cker­werte von >600 mg/​dl und bis zu über 1.000 mg/​dl. „Es kommt nicht zur Lipo­lyse oder Keton­bil­dung, aber durch die Exsik­kose ent­wi­ckeln die Betrof­fe­nen letzt­end­lich auf­grund von Hyper­os­mo­la­ri­tät ein neu­ro­lo­gi­sches Pro­blem“, erklärt Ste­che­mes­ser. Die Sym­pto­ma­tik ist ähn­lich der bei der dia­be­ti­schen Keto­azi­dose, auch wenn die gas­tro­in­testi­na­len Sym­ptome übli­cher­weise nicht auf­tre­ten. Gefähr­det, ein hyper­os­mo­la­res Koma zu erlei­den, sind vor allem ältere Men­schen. Aus­lö­ser sind – ähn­lich wie bei der Keto­azi­dose – Infek­tio­nen, Durch­fall und Erbre­chen oder akute Herz-Kreis­lauf-Ereig­nisse. „Als Sofort­maß­nahme muss in ers­ter Linie viel Flüs­sig­keit ver­ab­reicht wer­den“, erklärt Lud­vik. Die Ent­wick­lung die­ser Stoff­wech­sel­ent­glei­sung geht lang­sa­mer. Dadurch ist der Zeit­raum, in dem der Glu­ko­se­spie­gel regu­liert wer­den kann, län­ger. Die Kor­rek­tur mit kurz­wirk­sa­mem Insu­lin kann auch vom Pati­en­ten selbst erfol­gen, sofern er dafür geschult ist. „Die Mor­ta­li­tät die­ser Ent­glei­sung liegt bei über zehn Pro­zent. Das liegt auch daran, dass es häu­fig ältere Men­schen betrifft, die Kom­or­bi­di­tä­ten haben“, erklärt Stechemesser.

„Pati­en­ten, die kurz­wirk­sa­mes Insu­lin zum Essen sprit­zen, haben ein höhe­res Hypo­glyk­ämie-Risiko als jene, die lang­wirk­sa­mes Insu­lin sprit­zen“, erklärt Ste­che­mes­ser. Wenn das Ver­hält­nis zwi­schen Insu­lin­wir­kung und Koh­len­hy­drat­auf­nahme nicht stimmt, kann es zur Hypo­glyk­ämie kom­men, die bis ins Koma führt, wenn die Warn­si­gnale nicht recht­zei­tig bemerkt wer­den. „Es kommt zur Sym­pa­thi­kus­ak­ti­vie­rung mit Zit­tern, Schwit­zen und Heiß­hun­ger bis zur Neu­ro­glu­ko­pe­nie“, berich­tet Lud­vik. Diese extreme Unter­zu­cke­rung kann bis zum Hirn­tod füh­ren, beson­ders, wenn sie unbe­merkt – etwa nachts – auf­tritt. „Es kommt sel­ten aber trotz­dem immer wie­der zum ‚Dead-in-bed‘ auf­grund eines unbe­merk­ten hypo­glyk­ämischen Komas“, warnt Ludvik.

Auch wenn der Betrof­fene bei Bewusst­sein ist, kann die Unter­zu­cke­rung über­se­hen wer­den. Exper­ten spre­chen dann von Hypo­glyk­ämie-Una­wa­re­ness. Lud­vik dazu: „Wenn ein Pati­ent oft Hypo­glyk­ämien hat, erkennt er diese immer spä­ter, sodass die typi­schen Warn­sym­ptome feh­len und er in ein hypo­glyk­ämi­sches Koma fällt.“ Insu­lin kann aber auch tage­weise schwan­ken und im sub­ku­ta­nen Fett­ge­webe unter­schied­lich auf­ge­nom­men wer­den. „Hat der Pati­ent mehr Insu­lin als nötig gespritzt, weil er weni­ger geges­sen oder mehr Sport gemacht hat als gedacht, kommt es auf­grund des Glu­ko­se­man­gels zur Bewusst­seins­ein­trü­bung, die bis hin zum Koma gehen kann“, beschreibt Stechemesser.

Sofern der Betrof­fene bei Bewusst­sein ist, stellt die Zufuhr von Koh­len­hy­dra­ten die erste Maß­nahme dar. Ist der Pati­ent bewusst­los, muss man ihn in die sta­bile Sei­ten­lage brin­gen und ihm intra­na­sal Glu­kagon-Spray ver­ab­rei­chen. „Die­sen Spray sollte jeder Dia­be­tes-Pati­ent für Not­fälle bei sich tra­gen. Inner­halb von Minu­ten tritt hier die Wir­kung ein. Sta­tio­när muss dann die Zufuhr von Glu­kose intra­ve­nös fol­gen“, schil­dert Ludvik.

Durch die kon­ti­nu­ier­li­che Glu­ko­se­mes­sung kann der auf Insu­lin­the­ra­pie ein­ge­stellte Pati­ent einer Hypo­glyk­ämie in den meis­ten Fäl­len vor­beu­gen. „Pas­siert es den­noch, muss der behan­delnde Arzt bei­spiels­weise Gren­zen ein­zie­hen, sodass ab einem bestimm­ten Wert ein Alarm ein­setzt“, erklärt Ste­che­mes­ser. Auch wenn die gute Schu­lung eines Pati­en­ten und regel­mä­ßige Kon­trol­len einem Coma dia­be­ti­cum vor­beu­gen kön­nen: „Zu 100 Pro­zent ver­mei­den kann man es aber nicht“, weiß Lud­vik aus der Praxis.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2023