Ärztetage Grado 2023: Autismus – Kompensierte Störung

12.04.2023 | Medizin

Wenn Autismus-Spektrum-Störungen nur gering ausgeprägt sind, kann der Betroffene die Erkrankung bis ins Erwachsenenalter kompensieren. Kommt es zu Transitionen im Leben, sind diese Kompensationsmechanismen in Gefahr und andere psychische Erkrankungen treten in den Vordergrund. Bei den Ärztetagen in Grado widmet sich ein Workshop diesem Thema.

Julia Fleiß

Während man bis zum Ende des 20. Jahrhunderts davon ausgegangen ist, dass die Prävalenz von Autismus in der Bevölkerung bei einem Promille liegt, liegen Autismus-Spektrum-Störungen bei rund einem Prozent der Bevölkerung vor. Der Grund dafür: Die Diagnostik hat sich grundlegend verändert. Die frühere Einteilung in Kanner-Autismus (frühkindlich), Asperger-Syndrom und hochfunktionellen Autismus finde keine Anwendung mehr, wie Univ. Prof. Hans Rittmannsberger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in Linz, erklärt: „Man spricht heute von Autismus-Spektrum-Störungen, da diese Unterteilungen zu wenig trennscharf waren.“ Die Ausprä-gungsarten der Erkrankung variieren laut dem Experten stark. Durch die neue Definition habe sich die Wahrnehmung in der Gesellschaft verändert. Es gäbe ein Bewusstsein dafür, dass es auch Menschen gibt, die nicht dem typischen Bild des Autisten entsprechen, aber trotzdem einen Leidenszustand durch autistische Züge haben.

Dass die Erkrankung erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird, kann einerseits mit einer geringen Ausprägung zusammenhängen, andererseits mit Intelligenz. „Je intelligenter der Betroffene ist, umso größer ist die Chance, diese emotionalen Beeinträchtigungen verstecken und kompensieren zu können und undiagnostiziert leben zu können“, weiß Rittmannsberger. Auch familiäre Unterstützung ermögliche einen besseren Umgang mit der Störung. Erst in Situationen der Transition sind diese Kompensationsmechanismen in Gefahr. Zunächst treten oft andere psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen in den Vordergrund – und zwar als Folge, mit dieser Veränderung umzugehen. „Oft geht es darum, hinter der vordergründigen psychischen Symptomatik die Autismus-Spektrum-Störungen zu erkennen“, betont der Experte.

Soziale Defizite vorhanden

Menschen, die an einer Autismus-Spektrum-Störung leiden, weisen soziale Defizite wie vermindertes Verständnis für nonverbale Kommunikation sowie fehlendes Interesse an sozioemotionalen Aspekten von Beziehungen auf. Rittmannsberger führt aus: „Menschen sind für sie nicht als lebende Wesen bedeutend, sondern sie erfüllen funktionelle Rollen.“ Während andere Menschen sich intuitiv in ihr Gegenüber einfühlen können, fehlt autistischen Menschen die „theory of mind“. Typische Symptome sind außerdem repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten sowie das Festhalten an Ritualen. Fixierte Interessen und ungewöhnliche Beschäftigungen wie etwa exzessive Sammelleidenschaften können auftreten. Dazu kommt eine Hyper- oder Hyposensibilität gegen Sinnesreize.

Als einfaches Screeningtool zur Erfassung von Autismus-Spektrum-Störungen hat sich der Autismus-Quotient (AQ) etabliert. Rittmannsberger gibt aber zu denken: „Nur ein negatives Ergebnis ist verlässlich. Ein Score im positiven Bereich beweist die Diagnose noch nicht.“ In diesem Fall ist die Abklärung durch einen Facharzt anzuraten.

„Eine medikamentöse Behandlung der Kernsymptomatik des Autismus ist nicht möglich“, konstatiert Rittmannsberger. Die primäre Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen liegt daher in spezialisierter Psychotherapie, die meist verhaltenstherapeutisch aufgebaut ist. Man orientiert sich dabei an Techniken, die auch bei betroffenen Kindern angewandt werden und dort gute Erfolge zeigen. „Betroffene lernen dabei, das fehlende emotionale Verständnis rational zu kompensieren“, erklärt der Experte. Bei Erwachsenen stehe man hier wissenschaftlich noch am Beginn. Da die traditionelle Medizin pharmakologisch „nichts anzubieten hat“, wurden in der Vergangenheit verschiedenste alternative Behandlungsmethoden propagiert. Diese sind jedoch „alle erwiesenermaßen nicht hilfreich oder teilweise sogar schädlich“, wie Rittmannsberger zusammenfasst. Und er verweist darauf, dass in der aktuellen S3-Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ vor speziellen Ernährungsformen oder Nahrungssupplementierungen als Behandlungsversuch sogar gewarnt wird.

Unterschiedlich ausgeprägte Intelligenz

Die Intelligenz kann bei von Autismus Betroffenen ganz unterschiedlich ausgeprägt sein; schwergradige Autismus-Spektrum-Störungen sind mit einer Intelligenzminderung verbunden. Bei einer weniger ausgeprägten Störung kann die Intelligenz durchschnittlich sein; gelegentlich auch überdurchschnittlich sein. Hochbegabungen in sehr speziellen Bereichen mit wenig praktischem Nutzen können auftreten. „Dem zugrunde liegt die Theorie der fehlenden Kohärenz“, veranschaulicht Rittmannsberger. Unter zentraler Kohärenz versteht man ein übergeordnetes richtungsweisendes Zusammenspiel der Untersysteme im Gehirn, die verschiedene Funktionen erfüllen. Menschen, die an Autismus-Spektrum-Störungen leiden, fehlt diese übergeordnete Organisation. Dadurch stehen mehr Kapazitäten für Subfunktionen zur Verfügung. „Das könnte eine Erklärung für ungewöhnliche Begabungen einzelner Betroffener sein“, vermutet der Experte.

Psychopathologie von ADHS

Eine weitere Beeinträchtigung, bei der Betroffene laut Rittmannsberger heutzutage vermehrt bei Ärztinnen und Ärzten Unterstützung suchen, ist ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) , das oft zusammen mit Autismus auftritt. Sie beginnt meist in der frühen Kindheit, bleibt aber bei etwa der Hälfte der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter bestehen. Die typische Psychopathologie vereint Aufmerk-samkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität, die nicht isoliert, sondern in mehreren Lebenssituationen nachweisbar sein müssen.


Details zum Kongress

32. Ärztetage in Grado
14. bis 20. Mai 2023

Medizinische Fortbildung „ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter“

Montag, 15. Mai bis Mittwoch 17. Mai jeweils 8.30–10 Uhr.
17. Mai: Autismus-Spektrum-Störungen: Entwicklung des

Störungskonzepts, hochfunktionaler Autismus, Diagnose und klinische Merkmale, Komorbiditäten, Behandlungs- und Hilfsangebote

Information und Anmeldung:
www.arztakademie.at/aerztetage/2023-aerztetage-grado/


Die Medikation und Psychotherapie sowie Komorbiditäten und Behandlungsführung der ADHS sind ebenfalls Thema des Workshops in Grado. Das begründet Rittmannsberger wie folgt: „In diesem Bereich gibt es mehr aktiven Handlungsbedarf für den Allgemeinmediziner selbst“. Im Unterschied zur Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen werden bei ADHS erfolgreich Medikamente eingesetzt. Im Rahmen eines multimodalen therapeutischen Behandlungsplans gelten zusätzlich zur kognitiven Verhaltenstherapie Präparate mit dem Wirkstoff Methylphenidat als Goldstandard. Sie führen zu einer deutlichen Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2023