Niedergelassene Ärzte: Interview Edgar Wutscher: „Zwingend notwendig“

14.07.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Edgar Wutscher, Vizepräsident und Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte der Österreichischen Ärztekammer, spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über die Bedeutung der Vorsorgemedizin, die Folgen der starren Kassenverträge und warum das Honorarsystem reformiert werden muss.

Was verstehen Sie unter „lebensphasengerechte Arbeitszeitmodelle für Kassenvertragsärzte“, die in der Resolution gefordert werden? Die Kasse ist, wenn man so will, wie eine unbewegliche Firma, die sich sehr schwer auf individuelle Bedürfnisse umstellen kann. Je nach Alter der Ärzte und nach Lebensphase können manche problemlos die Bedingungen der Kassenverträge erfüllen – andere aber nicht. Und die Folge der nicht vorhandenen Flexibilität ist, dass Kassenstellen nicht besetzt werden und viele Ärzte lieber eine Wahlarztordination eröffnen, die besser mit der Lebensphase vereinbar ist. Jungärzte mit Familie werden beispielweise leichter Vormittagsordinationen anbieten können, gerade die Nachmittage sind mancherorts mit einer Kinderbetreuung beispielsweise schwer abzudecken. Andere Ärzte wiederum könnten aufgrund ihrer Lebenssituation vielleicht stärker an den Nachmittagen ordinieren und dafür die Vormittage nicht arbeiten. Oder ein Spitalsarzt möchte gerne ein paar Stunden in der Praxis arbeiten, aber schafft keine, wie von der Kasse vorgegeben, 22 Stunden – sondern würde weniger Stunden in der Niederlassung zusätzlich arbeiten. Ärztliche Zusammenarbeitsformen müssen außerdem einfacher und unbürokratischer werden. Auch Primärversorgungseinheiten, die gerade in Ballungsgebieten sehr zu begrüßen sind, haben teilweise Bestimmungen, die nach wie vor sehr starr sind. Ich bin aber optimistisch und hoffe, dass die Kasse einsieht, dass neue Wege beschritten werden müssen.

Sie haben immer wieder betont, dass die Kassenmedizin dringend flexible Kassenverträge und ein reformiertes Honorarsystem braucht. Die ÖÄK fordert unter anderem die Abschaffung von Deckelungen und Degressionen. Das ist ein wichtiger Punkt, um dem Kassenärztemangel entgegenzuwirken. In der Allgemeinmedizin beispielsweise sind die Einführung des Facharztes und die Verbesserung der Arztausbildung zwei wichtige Erfolge der Verhandlungen gewesen. Aber natürlich ist die Honorarordnung ein weiterer Grund, warum wir zu wenig Allgemeinmediziner haben. Das Diagnose- und Therapiegespräch ist beispielsweise ein zentraler Punkt in der Arzt-Patienten-Beziehung, der aber – je nach Kasse – mit circa 15 Euro vergütet wird. Allerdings wird aufgrund der genannten Deckelungen nur ein Bruchteil der geführten Patientengespräche tatsächlich von der Kasse bezahlt. Daher fordern wir als Österreichische Ärztekammer, dass die sogenannte Gesprächsmedizin gestärkt wird.

Neben der Allgemeinmedizin gibt es auch in der Kinder- und Jugendheilkunde und in der Gynäkologie große Lücken in der kassenmedizinischen Versorgung. Das ist natürlich keine Überraschung, denn genau in diesen Fächern sind der persönliche Kontakt und die individuelle Beratung extrem wichtig. Die Honorarordnung befeuert aber nur die „Fünf-Minuten-Medizin“. Die Geringschätzung der Arztgespräch sieht man beispielsweise daran, dass ein frauenärztliches Beratungsgespräch, bei dem unter anderem mit den jungen Patientinnen über Verhütungsmöglichkeiten gesprochen wird, bei der BVAEB beispielsweise mit etwa 15 Euro vergütet wird. Dieser Betrag ist aber auch gedeckelt und außerdem nicht bei jeder Kasse eine ärztliche Leistung. Anderes Beispiel: Gesunde Ernährung und die entsprechende Beratung beginnt schon im Kindesalter – aber das spiegelt sich kaum in der Honorarordnung wider. Für die ärztliche Erstellung eines individuellen Ernährungsplans mit Beratung werden, je nach Versicherungsträger, 20 Euro vergütet. Ein Entwicklungstest inklusive Dokumentation wird beim Versicherungsträger BVAEB mit etwa 20 Euro vergütet und das nur in acht Prozent der Fälle. Die Beispiele zeigen ganz klar: eine Reform der Leistungen ist zwingend notwendig. Individuelle Beratung, Gesprächsmedizin und die Vorsorge müssen endlich aufgewertet werden.

A propos Vorsorge: Auch diese wird in der Resolution als Grundpfeiler genannt. Die SVS hat mit dem Vorsorgebonus erreicht, dass mehr Patienten diese Leistung in Anspruch nehmen. Die SVS ist ein Paradebeispiel, wie sich eine Kasse der Präventionsmedizin sinnvoll widmet. Anreizsysteme sind nämlich der Weg, den wir gehen müssen. Das mag zwar am Anfang für die Sozialversicherung teurer werden, aber langfristig rechnet es sich, wenn Erkrankungen frühzeitig erkannt und entsprechend medizinisch gegengesteuert werden kann. Da geht es nicht nur um die gesunden Lebensjahre jedes Einzelnen, sondern auch um wirtschaftliche Aspekte. Jeder Arbeitgeber hat mehr von einem gesunden Arbeitnehmer, und jedes Gesundheitssystem profitiert davon, weil die Kosten für teure Medikamente und teure medizinische Therapien aufgrund von sinnvollen Vorsorgeprogrammen geringer ausfallen. In Summe gewinnt also jeder Einzelne, wenn die Vorsorge viel stärker in den Fokus der Gesundheitsversorgung rückt.

Anreize statt Verbote und Verpflichtungen sind demnach das Schräubchen, an dem gedreht werden sollte? Das, was für die Vorsorge gilt, gilt auch für die Kassenmedizin: Anreize wie flexible Verträge und eine Weiterentwicklung des Honorarsystems sind zielführender, als umgekehrt Studienabsolventen verpflichten zu wollen, in Österreich zu arbeiten oder Spitalsärzten die Nebenbeschäftigung als Wahlarzt zu verbieten. Zwänge und Verpflichtungen werden das Kassensystem nicht attraktiver machen. Es ist ein völlig falscher Ansatz, beispielsweise die Wahlärzte einschränken zu wollen und dort über Deckelungen nachzudenken. Der Gesundheitsminister hat jüngst betont, dass die Arbeitsbedingungen in der Kassenmedizin verbessert werden müssen – ich hoffe, dass hier auch entsprechende Taten folgen werden. Es ist nämlich nicht überall selbstverständlich, dass jeder alles haben kann, unabhängig vom sozialen Status und vom Alter. Wir haben in Österreich ein sehr gutes Sozialsystem und das sollte man mit allen Mitteln auch erhalten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2023