Kommentar: Mythos MedAT

10.09.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Der Medizinstudium-Aufnahmetest wurde dieses Mal um weitere Fragen zur sozialen Kompetenz erweitert – so mussten die Prüflinge „soziale Dilemmata“ lösen, Emotionen erkennen und richtig darauf reagieren. Ob diese Fragen dazu beitragen, die besten künftigen Ärzte zu finden, bleibt offen.

Thorsten Medwedeff*

Rund 7.537 Interessierte hatten sich für den MedAT in Wien angemeldet, 5.851 nahmen tatsächlich teil: Das ergibt eine Drop-Out-Quote von mehr als 23 Prozent, bevor überhaupt eine Antwort angekreuzt wurde. Der Einlass und der Weg zur großen Halle A, Platz 1796, verläuft reibungslos. Der organisatorische Aufwand ist enorm – aber die gestaffelten Einlasszeiten und der Plan, die Bewerber über verschiedene Eingänge zu schleusen, funktioniert.

Bis es losgeht, dauert es noch eine Stunde. Die Teilnehmer kommen fast durchwegs direkt von der Matura, eine junge Wienerin zeigt sich zielstrebig. Sie wolle unbedingt Ärztin werden, habe monatelang gelernt und rechnet sich ständig ihre Chancen aus, zu den 760 Auserwählten zu gehören, die im Oktober an der MedUni Wien einen der Studienplätze bekommen. Zu den 23 Prozent „No-Show“ kommen nach Einschätzung eines jungen Mannes aus Vöcklabruck auch noch jene 30 Prozent, die so denken würden wie er und einfach „spekuliert“ haben – ganz ohne spezifische Vorbereitung.

Rädchen rattern

Nach den vielen Erläuterungen der Spielregeln, der Zählung der Teilnehmer sowie der Verteilung der Unterlagen und Antwortbögen, geht es um 10:20 Uhr endgültig los. An jeder Ecke der Halle A, die in elf Sektoren eingeteilt ist, hängen Uhren. Sie sind das sichtbare Zeichen des latenten Zeitdrucks – eigene Zeitmessgeräte jeder Art sind verboten.

Mit dem Teil „Basiskenntnisse Medizinische Studien“ (BMS) wird gestartet: zuerst Biologie, dann Chemie. Vorgänge und Mechanismen im menschlichen Körper stehen im Fokus, das Überthema Medizin ist spürbar. Das wird danach bei Physik und Mathematik schon deutlich weniger. Das Niveau ist hoch, wer „direkt“ von der Matura kommt, ist wohl im Vorteil. Man kann die konzentrierte Energie in der Halle, in der es angenehm kühl ist, „greifen“ und die synaptische Plastizität, die Grundlage von Lernen und Gedächtnis, geradezu „hören“. Alle Rädchen im Kopf rattern.


Neue Wege zulassen

Der Test selbst ist als klassischer Intelligenztest konzipiert. Dennoch wünscht man sich bei der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) insbesondere beim Teil der sozialen Kompetenzen mehr Praxisnähe: „Was wir suchen, sind die besten Ärztinnen und Ärzte für unser Land und für unsere Patienten und wie wir diese treffsicherer herausfiltern – und nicht nur gute Studenten. Das muss sich unserer Ansicht noch stärker widerspiegeln“, wiederholt Harald Mayer, ÖÄK-Vizepräsident und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte, eine Forderung bei der Ausrichtung des Testverfahrens. Dabei könne es aus Sicht der ÖÄK ruhig bei den sozialen Fragestellungen mehr in Richtung ärztlichem Gespür im praktischen Alltag gehen, mit mehr Problemstellungen dazu.

Neue Wege könne man auch bei den Zulassungskriterien für einen Studienplatz andenken. Mayer hob die Idee hervor, dass man etwa besonderes soziales Engagement berücksichtigen könne – hier stehe man bereits in regem Diskurs mit den Rektoren der Medizin-Unis: „Man könnte manche Plätze zum Beispiel für diese Schiene vorsehen.“ Aber auch bei der Gewichtung der Testteile könnte man ansetzen: „Vielleicht könnte man zum Beispiel den Besten der Besten beim Teil der sozialen Kompetenz ohne Einbeziehung der ‚technischen‘ Teile sozusagen eine ‚Wildcard‘ geben?“ Dieser Bereich müsse noch mehr bei der Gewichtung für das Gesamtergebnis angehoben werden.

Was aber auf keinen Fall angehoben werden darf, ist die Anzahl der Studienplätze für Medizin in Österreich. Da sind sich die Universitäten und die ÖÄK ohnehin einig: „Ein Mehr an Studienplätzen, wovon manche Politiker phantasieren, löst unsere Probleme im Kampf gegen den Ärztemangel sicher nicht. Nach wie muss die Verbesserung der Rahmenbedingungen fürs Arbeiten als Arzt absolute Priorität haben.“


Ein Schuss Vinaigrette

Am Ende des Vormittags geht es um das Verstehen von Texten – hier verlässt der MedAT völlig den medizinischen Kontext und kehrt auch dorthin nicht mehr zurück. Die Texte handeln von der Entstehung von Polarlichtern, wie sie aussehen und wo es sie gibt, vom Klimawandel und was die Welt, und insbesondere Österreich, faktisch besser machen könnte und – als seltsamer Höhepunkt – von der Entstehung der Grundsaucen in der französischen Haute Cuisine und wie man eine Sauce Vinaigrette anrührt. Kognitive Fähigkeiten abzufragen mag richtig sein – aber es mutet abwegig an, Texte zum exakten Mischverhältnis von Öl und Essig verstehen zu müssen, aber keinen einzigen Text mit medizinischem Background.

Am Nachmittag geht es um Kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten (KFF) mit dem Ableiten von Implikationen, dem Zusammensetzen von Figurenteilen zu einem Ganzen, dem Lösen von Anagrammen, mathematischen Zahlenfolgen, dem Auswendiglernen von zig Daten auf Allergieausweisen sowie um den erweiterten Bereich der sozial-emotionalen Kompetenzen. Der neu hinzu gefügte Testteil „Emotionen regulieren“ basiere laut MedUni Wien auf neuesten psychologischen Erkenntnissen. Es geht einerseits darum, einzuschätzen, welche Emotionen in einer beschriebenen Person in der jeweiligen Lebenssituation vorherrschen – etwa in einer Prüfungssituation auf der Uni oder im Arbeitsalltag (im direkten Umgang mit Kollegen), aber auch im Urlaub nach einem erfolgreich beendeten Projekt. Fühlt sie sich entspannt – oder sogar schuldig?

Andererseits soll man von 1 (sehr wichtig) bis 5 (unwichtig) priorisieren, welche emotionale Frage sich eine Person stellen sollte, um eine schwere Entscheidung zu treffen. Da geht es zum Beispiel darum, einzuschätzen, ob sich – anhand von Alltagsbeispielen veranschaulicht – die bedingungslose Ehrlichkeit unter Freunden immer auszahlt oder ob man auch mal zur Rettung der Freundschaft auch mal „lügen“ dürfe und was die Konsequenzen sein könnten oder ob man trotz Zeit und Karrieredruck immer hilfsbereit gegenüber Mitmenschen und Kollegen sein soll und was die Konsequenzen des eigenen Handelns sein könnten. Aber was ist schon richtig, wenn man die individuellen Hintergründe und Zwänge der beschriebenen Personen nicht kennt?

Die Kronenzeitung fragte sich übrigens in ihrer Ausgabe am Tag nach dem Test, am 8. Juli, warum die jungen Menschen mit derartigen „Blödelfragen“ gequält werden und ob diese ein guter Indikator wären, ob jemand ein guter Arzt wird – oder nicht.

Nicht einmal eine Handvoll der gestellten Aufgaben beschäftigt sich mit dem Verhältnis Arzt-Patient: Es gibt ein Fallbeispiel, bei dem es bei einer Zwillingsgeburt trotz aller Vorkehrungen zu Komplikationen und Folgeschäden gekommen ist und wie man emotional am besten mit dieser Situation als Team und auch persönlich umgehen könnte. Oder jenen Fall, bei dem sich ein Mann, der für eine Impfung in eine Ordination gekommen ist, dem Arzt gegenüber schlecht verhält und diesen wütend macht. Soll man den Patienten beruhigen oder heimschicken? Die Wut runterschlucken – oder rauslassen? Oder etwas ganz Anderes tun?

Überragende Motivation

Um 16:24 Uhr ist es geschafft, nach über acht Stunden in der Halle, nach rund fünfeinhalb Stunden Netto-Testzeit. Der allgemeine Druck weicht der Entspannung. Antworten werden verglichen, viele wollen nur noch raus.

Was aber zu spüren ist, ist die überragende Motivation der meisten Probanden – sie wollen Arzt werden, sie wollen diesen MedAT überstehen und brennen für dieses Ziel. Der Oberösterreicher hinter mir ist sich sicher, dass er es dieses Mal nicht schaffen wird, trotzdem ist er um vier Uhr früh aufgestanden und erst gegen 22 Uhr wird er wieder zuhause sein. Ein langer Tag. Im nächsten Jahr will er wiederkommen, wenn es wirklich nicht geklappt hat. Jetzt macht er erstmal den Zivildienst in einer sozialen Einrichtung. Dort wird er sehr viel lernen, nicht explizit für den Test, aber für das spätere tatsächliche Arbeiten im Solidarsystem – egal ob als Arzt oder in einem anderen Beruf.

* Mag. Thorsten Medwedeff ist Senior PR Consultant in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Österreichischen Ärztekammer und hat am MedAT teilgenommen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17/ 10.09.2023