Interview Reingard Glehr: Kassenmedizin – „Umgang mit Unsicherheit“

25.09.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Welche Bedeutung Vertretungsärzte haben, wie es ihr selbst bei der Praxisübernahme ergangen ist und welche Herausforderungen es für junge Ärzte in einer Niederlassung allgemein gibt, darüber spricht die Allgemeinmedizinerin Reingard Glehr im Interview mit Sophie Niedenzu.

Sie haben 2014 promoviert und 2018 dann die allgemeinmedizinische Praxis in Hartberg übernommen, damit waren Sie die jüngste Allgemeinmedizinerin mit einer eigenen Ordination in der Steiermark. Wie kam es dazu? In meinem Fall war es so, dass mein Vater mir immer vorgelebt hat, wie sinngebend und schön die Arbeit in der Allgemeinmedizin ist. Ich habe in Wien und Berlin studiert und im Anschluss meine Ausbildung zur Allgemeinmedizin in der Steiermark absolviert. Danach habe ich ein Jahr als Vertretungsärztin in mehreren Kassenordinationen gearbeitet, hatte eine Wahlarztpraxis und habe an der Medizinischen Universität Graz am Institut für Allgemeinmedizin mitgearbeitet. Dann wurde die Kassenpraxis von meinem Vater frei. Ich habe mich beworben und den Vertrag glücklicherweise auch bekommen. Das war eine kurze Zeitspanne und ein schneller Entschluss, weil sich die Chance ergeben hat und ich durch meinen Vater und die Zeit als Vertretungsärztin einen guten Einblick hatte. Mentoren zu haben ist wichtig.

Was macht Ihre Arbeit in einer Kleinstadt wie Hartberg aus? Der Ort ist ideal, weil er eine gute Infrastruktur bietet: es gibt die Krankenhäuser Hartberg und Oberwart in der Nähe, auch Graz und Wien sind nicht weit weg. Gleichzeitig hat man aber die Vielfalt der Landmedizin. Die Allgemeinmedizin ist erste Anlaufstelle für die allermeisten Probleme, vom Kind bis zum älteren Menschen.

Wieso sind Sie Kassenärztin? Die allgemeinmedizinische Kassenmedizin ist für mich die solidarischste Variante der Medizin. Hier erlebt man die volle Bandbreite der Gesundheits- und Lebensprobleme der Bevölkerung. In der Wahlarztpraxis ist es selektiver, das können sich nicht alle leisten. In der Zeit, in der ich in der Wahlarztpraxis gearbeitet habe, war ich auch eher spezialisiert, wie es häufig bei. Wahlärzten im allgemeinmedizinischen Bereich ist. Daher ist bei den Fachärzten im Wahlarztbereich die Versorgungswirksamkeit meist höher, weil der Versorgungsbedarf hoch ist und durch die Kassenstellen oft nicht ausreichend gedeckt werden kann. Zeit stellt dabei einen wichtigen Faktor dar, der in einer Kassenpraxis häufig nicht den Erwartungen der Patienten entspricht.

Gerade in der Allgemeinmedizin sind viele Kassenstellen unbesetzt. Wie sehr bemerken Sie das in Ihrer täglichen Arbeit? Grundsätzlich ist der Zulauf an Patienten sehr groß, weil umliegende Stellen in unserer Region nicht besetzt sind. Hinzu kommt, dass Spitäler Patienten früher entlassen, weil sie überlastet sind. Viel Abklärung und Versorgung wird dann in den niedergelassenen Bereich verlegt, das spüren wir. Wir nehmen aber jeden Patienten an, der keinen Hausarzt hat, also zugezogen ist oder seinen Hausarzt verloren hat. Dazu fühle ich mich im Sinn einer solidarischen Versorgung verpflichtet. Es gibt allerdings auch Kollegen, die sagen, dass es nicht mehr geht, weil die Kapazitäten erschöpft sind. Eine große Entlastung in meiner Ordination sind die zwei diplomierten Pflegekräfte, die medizinisch-technische Fachkraft und die Ordinationsassistentinnen. Wenn das Team gut funktioniert, dann fällt der Praxisalltag leichter, trotz hoher Patientenfrequenz.

Derzeit werden die Primärversorgungseinheiten ausgebaut – inwiefern haben Sie sich das als Option überlegt? Ich arbeite bereits jetzt sehr eng mit den vier Hausärzten in Hartberg zusammen und wir planen auch, ein Primärversorgungsnetzwerk zu gründen. Das war früher politisch nicht erwünscht, jetzt sind aber die Karten neu gemischt. Bereits jetzt funktioniert die Zusammenarbeit hervorragend, wir haben unsere Öffnungszeiten aneinander angepasst und können so gewährleisten, dass die Patienten von Montag, 7 Uhr, bis Samstag, 15 Uhr, bestens versorgt sind. Es ist schön zu wissen, dass die Vertretungen gut funktionieren. Der Vorteil eines Primärversorgungsnetzwerks wäre, dass wir weitere Berufsgruppen integrieren können. Wir haben beispielsweise einen Mangel an Sozialarbeitern im niedergelassenen Bereich. Mit einem Primärversorgungsnetzwerk könnten wir gemeinsam andere Berufsgruppen einstellen, die von einem Kassenvertrag nicht abgedeckt werden. Dies wird bei den PVEs von außen finanziell gefördert.

Wie sind die Rahmenbedingungen als Kassenärztin? Grundsätzlich ist vieles besser geworden. Das Arbeiten in multiprofessionellen Teams ist einfacher, es gibt Möglichkeiten von Jobsharing, Anstellungen von Ärzten bei Ärzten, Gruppenpraxen und Primärversorgungseinheiten. Die Sozialversicherung ist in der Regel sehr entgegenkommend. Eine Frage ist immer die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier spielt – wie in jedem selbstständigen Beruf – ein gutes privates Betreuungsnetzwerk eine wesentliche Rolle. Wichtig ist auch, sich um Vertretungen für die Praxis zu kümmern. Das geht momentan oft über Mundpropaganda, auch hier gibt es aber Hilfestellungen durch die Ärztekammer. Wünschenswert wäre, die Vertretungstätigkeit als attraktive Möglichkeit für Jungärzte noch stärker in den Fokus zu rücken. Es ist ein guter Einstieg, um den Praxisalltag kennen und leben zu lernen. Ich habe eine fast dreijährige Tochter und habe eine Dauervertretung zwei Tage die Woche. Das funktioniert sehr gut und wird von der Sozialversicherung problemlos akzeptiert.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass besonders in der Allgemeinmedizin viele Kassenstellen unbesetzt sind? Ein Punkt ist sicher die Angst vor dem Umgang mit Unsicherheit. Wir erleben viele Krankheiten in einer frühen Phase, wo es darum geht, Bedrohlichkeit und Dringlichkeit richtig einzuschätzen. Im Spitalsbetrieb gibt es dazu viel mehr diagnostische Möglichkeiten. Wir Allgemeinmediziner müssen lernen, entscheidungsfreudig zu sein und die Alarmstufe richtig zu beurteilen. Diese Entscheidungen sind am Anfang bei der medizinischen Vielfalt, mit der wir täglich konfrontiert sind, schwierig. Ein weiterer Punkt, der aber jeden Gang in die Selbstständigkeit betrifft, ist sicher auch die wirtschaftliche Unsicherheit, die man bis zu einem gewissen Grad meistern muss. In der Ausbildung bekommt man wenig unternehmerisches Wissen vermittelt. Aber es gibt gute Hilfestellungen von der Ärztekammer im Rahmen von Praxisgründungsseminaren. Da sind auch Steuerberater dabei, die einem wichtiges Know-how vermitteln. Sie bleiben auch wichtige Ansprechpartner, wenn man als Kassenarzt tätig ist. Ich hatte durch meinen Vater als Mentor auch sehr viel Unterstützung. Letztendlich hatte ich viel mehr Respekt vor der Praxisübernahme als notwendig gewesen wäre. Es ist alles gut machbar. Der Vertrag mit der Sozialversicherung bietet auch mehr wirtschaftliche Sicherheit als das Wahlarztsystem. Die Managementfunktion gehört in der Niederlassung einfach dazu. Es macht aber Spaß, wenn man sieht, dass es funktioniert und gut läuft.

Wie kann die Allgemeinmedizin gestärkt werden? Die Gleichstellung der Generalisten durch den „Facharzt für Allgemeinmedizin“ ist ein wichtiger Punkt, damit Allgemeinmediziner als Fachärzte wertgeschätzt werden – natürlich bei gleichzeitiger Anhebung der Qualität in der Ausbildung. Ein wichtiger Pfeiler ist außerdem die Lehrpraxis. Dort haben angehende Allgemeinmediziner die Chance, Spaß an der Arbeit in der Niederlassung zu entwickeln und entsprechende Fähigkeiten zu erlernen. Auch ich habe derzeit eine Lehrpraktikantin und erachte es für beide Seiten als sehr wertvoll. Einerseits, weil es auch entlastet, andererseits weil es Spaß macht, sein eigenes Wissen weiterzugeben, die eigene Arbeit zu reflektieren und neuen Input zu bekommen. Durch die Studentinnen und Studenten, die wir immer wieder in der Ordination haben, haben wir auch immer Lebendigkeit im Team. Darüber hinaus ist eine Anstellung von Ärzten bei Ärzten eine gute Möglichkeit, in den Beruf hineinzuwachsen. Auch die Vertretungstätigkeit hilft, Sicherheit zu bekommen. Das sollte wie gesagt auch stärker propagiert werden. Und natürlich gibt es bei den Honoraren Luft nach oben, Stichwort ist die Angleichung der Tarife zwischen den Bundesländern.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2023