Kas­sen­arzt­man­gel: Feuer am Dach

09.03.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

In der Kin­der- und Jugend­heil­kunde feh­len Kas­sen­ärzte. Wäh­rend die ÖGK auf Sti­pen­dien setzt und im Rah­men eines Pilot­pro­jekts Ärzte stun­den­weise für leer­ste­hende Kas­sen­or­di­na­tio­nen gewin­nen möchte, sieht der Kin­der­arzt Peter Voitl einen Teil der Lösung in einer zeit­ge­mä­ßen Honorierung. 

Sophie Nie­denzu

Die Zah­len wer­den nicht bes­ser: Zum Jah­res­be­ginn sind öster­reich­weit 300 Kas­sen­stel­len unbe­setzt: 176 Stel­len für All­ge­mein­me­di­zin, 124 Stel­len bei den Fach­ärz­ten. Bei Letz­te­ren zählt beson­ders das Fach für Kin­der- und Jugend­heil­kunde zu den größ­ten Sor­gen­kin­dern: 29 Kas­sen­stel­len sind offen. Die ÖGK hat zuletzt zwei Initia­ti­ven gestar­tet, um dem Man­gel ent­ge­gen­zu­wir­ken: Zum einen ver­gibt sie 50 Sti­pen­dien an Medi­zin­stu­die­rende: Sie erhal­ten bis zu drei­ein­halb Jahre monat­lich 923 Euro, im Gegen­zug ver­pflich­ten sie sich zu min­des­tens fünf Jah­ren Kas­sen­arzt­tä­tig­keit in einer Region, in der die ÖGK eine Kas­sen­stelle aus­ge­schrie­ben hat – und zwar in den Berei­chen All­ge­mein­me­di­zin, Kin­der- und Jugend­heil­kunde, Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie, Frau­en­heil­kunde und Geburts­hilfe sowie Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Medi­zin. Laut der ÖGK haben sich 60 Medi­zin­stu­die­rende für ein der­ar­ti­ges Sti­pen­dium bewor­ben. Ent­schei­dend für die Aus­wahl der Sti­pen­dia­ten sind etwa die Moti­va­tion, Voll­zeit als Arzt in den genann­ten Fächern in einer Bedarfs­re­gion der ÖGK zu arbei­ten, sozia­les Enga­ge­ment und der bis­he­rige Stu­di­en­erfolg. Die För­de­rung muss zurück­ge­zahlt wer­den, wenn der Stu­di­en­erfolg aus­bleibt, die Aus­bil­dung nicht abge­schlos­sen bzw. die kas­sen­ärzt­li­che Tätig­keit nicht recht­zei­tig auf­ge­nom­men oder nicht lang genug aus­ge­übt wird. Als kurz­fris­tige Reak­tion auf den Kas­sen­ärz­te­man­gel hat der ÖGK-Ver­wal­tungs­rat zudem das Pilot­pro­jekt „Ärz­te­be­reit­stel­lungs­ge­sell­schaft“ beschlos­sen, um ver­waiste Kas­sen­or­di­na­tio­nen in Wien und Nie­der­ös­ter­reich zu beset­zen. Ärzte sol­len stun­den­weise auf Werk­ver­trags­ba­sis Stand­orte betreuen, sie sind somit an kei­nen Stand­ort gebun­den und kön­nen ohne unter­neh­me­ri­sches Risiko als Kas­sen­arzt tätig sein. Ideen, wie Kas­sen­stel­len wie­der­be­setzt wer­den kön­nen, hat auch Peter Voitl, Obmann der Bun­des­fach­gruppe Kin­der- und Jugend­heil­kunde der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer. Er betreibt mit dem ers­ten Wie­ner Kin­der­ge­sund­heits­zen­trum Donau­stadt eine große Grup­pen­pra­xis, die an sie­ben Tagen ganz­jäh­rig geöff­net hat. Wie die Pra­xis sich im Laufe der Jahre suk­zes­sive wei­ter­ent­wi­ckelt hat und wel­che Rolle Wert­schät­zung und Rah­men­be­din­gun­gen für die Kas­sen­ärzte spie­len, erzählt Voitl im Interview.

Wie hat sich Ihre Pra­xis hin zur Grup­pen­pra­xis ent­wi­ckelt? Das ist schritt­weise pas­siert. Ich habe im Wie­ner Donau­spi­tal die Kin­der­in­ten­siv­sta­tion gelei­tet und neben­bei eine Pri­vat­pra­xis geführt. Ich wollte eigent­lich nicht weg vom Spi­tal. Die Kom­bi­na­tion Spi­tals­tä­tig­keit und Wahl­arzt­pra­xis neben­bei war dann zu auf­wän­dig und ich habe beschlos­sen, eine Kas­sen­arzt­pra­xis zu eröff­nen. Die Admi­nis­tra­tion nahm zu, das Pati­en­ten­vo­lu­men auch – und dann wurde aus der Ein­zel­pra­xis eine Grup­pen­or­di­na­tion. Bei uns arbei­ten Ärzte mit ver­schie­de­nen Schwer­punk­ten, bei­spiels­weise in der Kar­dio­lo­gie: Schwer herz­kranke Kin­der zu betreuen, ist ein wich­ti­ger Schwer­punkt, ebenso der Bereich der Pul­mo­lo­gie, All­er­go­lo­gie, Uro­lo­gie und Gas­tro­en­te­ro­lo­gie. Wir holen die Spe­zia­lis­ten zu uns in die Ordi­na­tion und sie betreuen die Pati­en­ten vor Ort, damit blei­ben den Fami­lien viele Wege erspart und wir haben den Über­blick über das Krankheitsgeschehen.

Wie sehr ver­mis­sen Sie die Tätig­keit im Spi­tal? Eigent­lich tat­säch­lich gar nicht. Wir haben durch unser gro­ßes Team ein sehr brei­tes medi­zi­ni­sches Ange­bot, die Pati­en­ten erhal­ten sofort spe­zi­fi­sche qua­li­fi­zierte Hilfe. Die Team­ar­beit wie im Spi­tal haben wir dadurch hier auch. Und das Schöne in der Ordi­na­tion ist, dass wir hier selbst gestal­ten kön­nen, zudem gibt es keine Nacht­dienste. Außer­dem sind wir als Lehr­pra­xis aner­kannt und arbei­ten viel mit Stu­die­ren­den, damit kön­nen wir auch ausbilden.

Wie sehr bemer­ken Sie den star­ken Kas­sen­kin­der­arzt­man­gel? Der Man­gel ist lei­der dra­ma­tisch. Am Land ist es teil­weise so, dass All­ge­mein­me­di­zi­ner die Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen über­neh­men, weil es keine Kas­sen­kin­der­ärzte in der Umge­bung gibt. All­ge­mein­me­di­zi­ner haben in ihrer Aus­bil­dung drei Monate im Fach Kin­der- und Jugend­heil­kunde inte­griert – das reicht natür­lich für Rou­ti­ne­un­ter­su­chun­gen oder Ernäh­rungs­be­ra­tung. Aber bei medi­zi­ni­schen Her­aus­for­de­run­gen wie bei­spiels­weise den gesund­heit­li­chen Fol­gen bei klei­nen Früh­ge­bo­re­nen, dafür braucht es einen Kin­der­arzt. Wir haben in der Grup­pen­pra­xis auf den ver­stärk­ten Pati­en­ten­an­drang mit einem Aus­bau unse­rer Kapa­zi­tä­ten reagiert. Das geht natür­lich nur mit einem grö­ße­ren Team. Glück­li­cher­weise haben wir auch Ver­tre­tungs­ärzte. Der Schlüs­sel ist, attrak­tive Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen, dann kom­men die Ärzte gern. Es ist wich­tig, dass das soli­da­ri­sche nie­der­schwel­lige Gesund­heits­sys­tem funk­tio­niert: Eine Wahl­arzt­pra­xis ist immer sozial selek­tiv. Meine Medi­zin ist es, Pati­en­ten nach Not­wen­dig­keit zu behan­deln – und nicht nach Einkommen.

Wel­che Maß­nah­men könn­ten hel­fen, mehr Kas­sen­kin­der­ärzte zu gewin­nen? Sti­pen­dien, wie die ÖGK sie nun ver­gibt, sind zwar eine nette Idee, aber die Wir­kung sehen wir erst in über zehn Jah­ren. Kurz­fris­tig muss sich finan­zi­ell und orga­ni­sa­to­risch etwas tun: Das Hono­rar­sys­tem ist natür­lich auch Aus­druck der Wert­schät­zung. Dass seit bald 30 Jah­ren die Leis­tun­gen bei den Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen nicht ein­mal an die Infla­tion ange­passt wur­den, emp­fin­den viele Kol­le­gen als Gering­schät­zung, nach dem Motto: Die Ärzte machen die Arbeit sowieso, wieso soll­ten wir sie bes­ser bezah­len? Die Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen machen in etwa 20 Pro­zent der Arbeit der Kin­der­ärzte aus. Natür­lich ist es ver­lo­ckend, als Wahl­arzt 100 Euro für eine ent­spre­chende Unter­su­chung zu ver­lan­gen, für die die Kasse der­zeit knapp 21 Euro zahlt. Wir brau­chen aber Kin­der­ärzte im soli­da­ri­schen Gesund­heits­sys­tem, die müs­sen ent­spre­chend aner­kannt wer­den. Dazu gehört auch eine zeit­ge­mäße Leis­tungs­an­pas­sung. Auch die Umset­zung von kin­der­ärzt­li­chen Ver­sor­gungs­ein­hei­ten ist im Gespräch und sollte heuer umge­setzt wer­den. Ansons­ten fürchte ich, dass das Sys­tem kol­la­biert. Zwangs­mo­delle, um Ärzte wie­der in den Kas­sen­be­reich zu bekom­men, sind jeden­falls kein Lösungs­an­satz, das funk­tio­niert nicht.

In wel­chen Berei­chen soll­ten die Leis­tun­gen ange­passt wer­den? Der Hono­rar­ka­ta­log ist schon lange nicht mehr state-of-the-art und in vie­len Berei­chen über­holt. Wir betreuen wesent­lich mehr Früh­ge­bo­rene, die ohne den medi­zi­ni­schen Fort­schritt nicht über­le­ben wür­den. Hier ist die Nach­sorge beson­ders wich­tig, um mög­li­che Stö­run­gen in der Kin­des­ent­wick­lung früh­zei­tig zu erken­nen. Das wird im Leis­tungs­ka­ta­log zum Bei­spiel nicht abge­bil­det. Oder auch die Bera­tung im Bereich der Gewalt­prä­ven­tion, oder auch zeit­ge­mäße Unter­su­chungs­tech­ni­ken wie etwa das FeNO für Kin­der mit Asthma. Auch Auf­klä­rungs­ge­sprä­che mit Eltern sind jetzt zeit­in­ten­si­ver und die Gesprächs­me­di­zin ist für die Kas­sen lei­der immer noch ein Fremd­wort. Wir haben zusätz­lich auch die psy­cho­lo­gi­schen Fol­gen durch die Pan­de­mie, das so genannte Long-Covid oder Post-Lock­down-Syn­drom bei Kin­dern. Ich habe als Reak­tion drei Psy­cho­lo­gen ange­stellt, die auf mei­ner Gehalts­liste ste­hen, aber dem Pati­en­ten kos­ten­frei zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Das ist für mich ein Minus­ge­schäft, aber ich habe schlicht die Zeit nicht und bevor­zuge es, pro­fes­sio­nell Aus­ge­bil­dete in dem Bereich anzu­stel­len – dafür bekomme ich aber von der Kasse nichts. Für Kin­der-EEGs gibt es zu wenig Anlauf­stel­len, wir haben uns das Gerät selbst ange­schafft und der Neu­ro­lo­gie sieht sich das vor Ort an. Ich sehe es als meine Ver­pflich­tung an, den Ver­sor­gungs­auftag für meine Pati­en­ten auch wirk­lich zu über­neh­men, aber: Das ist natür­lich kein Zukunfts­mo­dell, dass Ärzte aus idea­lis­ti­schen Grün­den Leis­tun­gen selbst bezah­len und gra­tis anbie­ten, um den Ver­sor­gungs­auf­trag zu erfüllen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2023