Interview Edgar Wutscher: „Irgendwann war es genug“

25.01.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Edgar Wutscher, ÖÄK-Vizepräsident und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über Erfolge, Präventionsmedizin, Verbesserungen für niedergelassene Ärzte sowie mangelnde Flexibilität und den Kassenärztemangel.

 Der Mutter-Kind-Pass und die mögliche Aufkündigung der Verträge hat vergangenes Jahr für Wirbel gesorgt. Wie ist die Situation aktuell? Es ist traurig, aber man hat den Eindruck, dass der Ernst der Lage bei der Politik erst erkannt wurde, als wir damit gedroht haben, aus dem Vertrag auszusteigen. Das hätte dazu geführt, dass die Mutter-Kind-Pass Untersuchungen eine Privatleistung werden. Damit wären die jahrelangen Versäumnisse der Politik zulasten der Eltern gegangen. Glücklicherweise ist es nicht dazu gekommen. Aufgrund des Einlenkens der Politik haben wir Mitte Dezember in der Bundeskuriensitzung beschlossen, nicht aus dem Vertrag auszusteigen. In welchem Beruf werden die Leistungen drei Jahrzehnte lang nicht einmal an die Inflation angepasst? Die Ärzte haben lange Zeit auch trotz dieser Situation mitgemacht, weil sie ihre Patienten nicht im Regen stehen lassen wollten und sie vom Mutter-Kind-Pass als Erfolgsmodell überzeugt sind. Aber irgendwann, nach Jahren des Hinhaltens und der vergeblichen Proteste, war es einfach genug.

Wie ist der Stand der Verhandlungen? Wir befinden uns gerade mitten drin. Beim Mutter-Kind-Pass ist das finanziell etwas kompliziert. Denn die Valorisierung speist sich zu zwei Drittel aus dem Familienlastenausgleichsfond und zu einem Drittel aus der Sozialversicherung. Das heißt, Verhandlungen müssten hier über das Ministerium gehen. Das Familienministerium hat aber den Dachverband der Sozialversicherung damit beauftragt und gesagt: Verhandelt bitte! Aber dieser wusste am Anfang gar nicht, welche Summe verfügbar ist, also was die Basis der Verhandlungen sein wird. Das hat sich erst kurz vor Weihnachten geklärt und wir sind dabei, die Details zu klären.

Sie sprechen sehr stark immer wieder die Präventionsmedizin an. Was wäre hier ausbaufähig? Was den Mutter-Kind-Pass angeht, hat dieser die Gesundheit der angehenden Mütter und der Kinder deutlich verbessert. Wir haben bereits vor einigen Jahren einen „Jugendpass“, also die Erweiterung des Mutter-Kind-Passes bis zum 18. Lebensjahr, mit vielen wichtigen Vorsorgeuntersuchungen erarbeitet, das Konzept liegt fix und fertig in der Schublade. Vorsorge ist eine der wichtigsten Säulen in der Gesundheitsversorgung. Da spielen Bewegung, Ernährung, Lebensstil eine wichtige Rolle – und auch Suchtprobleme bei Jugendlichen. Da würde ich mir mehr ärztliche Begleitung wünschen, um frühzeitig gegenlenken zu können.

Zur Vorsorge gehört auch das Impfen. Wie ist hier die Situation? Da ist die Erweiterung der kostenlosen HPV-Impfung bis zum 21. Lebensjahr sehr zu begrüßen, immerhin ist diese Impfung für Erwachsene sehr teuer. Die HPV-Impfung wird bei den Hausärzten sowie je nach Bundesland in zusätzlichen Impfstellen erhältlich sein, zudem für alle Wehrdiener beim Bundesheer bis zum Alter von 20 Jahren. Auch der vom Ministerium ab der Wintersaison 2023 geplante Ausbau des Influenza-Impfprogramms österreichweit ist ein wichtiger Schritt in der Prävention. Aus unserer Sicht wäre es hier erstrebenswert, wenn die Influenza-Impfung genauso wie die Covid-Impfung in der Ordination bereits gelagert ist und der Patient damit direkt geimpft werden kann. Das ist eine win-win-Situation: Der Patient muss nicht dazwischen noch in die Apotheke und wieder zum Arzt zurück, der Arzt kann nach dem durchgeführten Check des Impfpasses und einem Beratungs- und Aufklärungsgespräch sofort die für den Patienten individuell sinnvollen und notwendigen Impfungen verabreichen.

Der Allgemeinmediziner dirigiert quasi die Patienten – nicht nur in der Vorsorge – durch das System. Was erwarten Sie sich durch die Einführung des Facharztes für Allgemein-und Familienmedizin? Damit ist eine jahrelange Forderung der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte erfüllt worden. Der neue Facharzt wird auch inhaltlich weiterentwickelt. Die Ausbildung wird schrittweise von drei auf fünf Jahre verlängert, wobei die zwei zusätzlichen Jahre in einer Lehrpraxis und überwiegend im niedergelassenen Bereich absolviert werden sollen, zudem sollen beispielsweise Kompetenzen in den Bereichen Geriatrie, Palliativmedizin, Psychosomatik und Schmerztherapie erworben werden. Weitere Gespräche sind noch offen, da für die Umsetzung Änderungen im Ärztegesetz durchgeführt werden müssen. Sobald die Gespräche mit dem Ministerium abgeschlossen sind und die Änderung des Ärztegesetzes im Parlament beschlossen ist, kann bei der Österreichischen Ärztekammer der Antrag auf Facharztzuerkennung gestellt werden. Der neue Facharzt kann dazu beitragen, dem Kassenärztemangel entgegenzuwirken. Derzeit sind österreichweit 159 Kassenstellen in der Allgemeinmedizin unbesetzt.

Im Zusammenhang mit dem Kassenärztemangel kritisieren Sie immer wieder die fehlende Flexibilität. Erwarten Sie sich für 2023 Änderungen? Ich bin hier leider wenig optimistisch, würde mich aber freuen, wenn ich mich irre. Aber ich denke eher, dass die Herausforderungen im Kassensystem zunehmen werden, weil noch keine Zeichen in Sicht sind, tatsächlich mehr auf die individuellen Bedürfnisse von Ärzten einzugehen. Die Rahmenbedingungen durch die Kassenverträge mit Deckelungen und der „Fünf-Minuten-Medizin“ müssten sich hier dringend ändern, ebenso die Rahmenbedingungen für Gruppenpraxen, Job Sharing etc. Auch die Richtlinien für Hausapotheken schrecken viele davor ab, eine Praxis zu eröffnen, diese wären aber ein zentraler Faktor für die Infrastruktur einer Gemeinde. Sie sichern die Gesundheitsversorgung und sind ein gewichtiges Argument gegen Abwanderung und weitere Ausdünnung ländlicher Gemeinden. Die anachronistische Kilometerregelung verhindert das faire duale System von Hausapotheken und öffentlichen Apotheken. Das wäre aber erstrebenswert: ein kundenfreundliches Neben- und Miteinander von öffentlichen Apotheken und ärztlichen Hausapotheken.

Was die mangelnde Flexibilität angeht: die EU-Gelder für die Attraktivierung und Förderung der Primärversorgung erhalten in Österreich nur Primärversorgungszentren. Wie sollten die Fördermittel besser verteilt werden? Primärversorgungszentren sind ein wichtiger Baustein der Versorgung, aber kein Allheilmittel. Primärversorgung geht weit über Primärversorgungszentren hinaus und umfasst die gesamte niederschwellige und wohnortnahe Gesundheitsversorgung, egal ob sie in einer Einzelordination, einer Gruppenpraxis oder einer Primärversorgungseinrichtung stattfindet. Diese EU-Mittel sollten daher der gesamten Primärversorgung zugutekommen. In diesem Milliardenpaket, das die EU 2021 geschnürt hat, sind 100 Millionen Euro für die österreichische Primärversorgung vorgesehen, aktuell können sich aber nur PVE um eine entsprechende Förderung bewerben. Das ist für mich zu kurz gedacht, eine Änderung der Förderrichtlinien ist daher für mich unabdingbar. Primärversorgungszentren sollten nicht über einen Kamm geschert werden, sondern auch die geografischen Begebenheiten berücksichtigen.

Was kann noch helfen, dass Ärzte sich für die Kassenmedizin entscheiden? Ein wesentlicher Faktor ist der Abbau von Bürokratie. Diese raubt Ärzten die Zeit, die sie dringend für ihre Patienten brauchen. Ein Beispiel, das auf der Hand liegt, ist die Abschaffung der Chefarztpflicht bei der Arzneimittelbewilligung. Diese wurde zu Beginn der COVID-19-Pandemie ausgesetzt. Hier ist es zwingend notwendig, dass dieses überflüssige Instrument nicht mehr zurückkehrt. Denn das große Ziel im Kassenbereich muss es sein, die Wartezeiten zu verkürzen und Aufnahmestopps möglichst zu vermeiden. Zum Thema Aufnahmestopps eine Klarstellung: In den Gesamtverträgen ist üblicherweise eine Behandlungspflicht für Vertragsärzte gegenüber den Versicherten festgehalten. In begründeten Fällen kann allerdings die Behandlung auch abgelehnt werden, sofern es sich um keinen Notfall handelt. Für die ÖÄK ist ein begründeter Fall gegeben, wenn etwa die Kapazitäten einer Ordination überlastet sind, damit keine ordnungsgemäße Betreuung der übrigen Patienten mehr möglich wäre und es so zu einem Qualitätsverlust käme.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 /25.01.2023