Inter­view Edgar Wut­scher: „Gesun­des Mit­ein­an­der ist der Schlüssel“

26.04.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

In der Dis­kus­sion rund um die ideale Gesund­heits­ver­sor­gung müs­sen sowohl Ein­zelor­di­na­tio­nen als auch viel­sei­tige ärzt­li­che Zusam­men­ar­beits­for­men ihren Platz haben und nicht gegen­ein­an­der aus­ge­spielt wer­den, sagt Edgar Wut­scher, Vize­prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer und Kuri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte.

Sophie Nie­denzu

Das hei­mi­sche Gesund­heits­sys­tem hat laut einer aktu­el­len OECD-Stu­die Ver­bes­se­rungs­po­ten­tial (mehr dazu auf S. 13). Ärz­te­ver­tre­ter, Gesund­heits­exper­ten und Poli­ti­ker sind groß­teils einer Mei­nung darin, dass der Spi­tals­be­reich ent­las­tet und der nie­der­ge­las­sene Bereich gestärkt wer­den muss. Wie die­ses Ziel erreicht wer­den kann, dar­über gehen die Mei­nun­gen aus­ein­an­der. Wäh­rend Bun­des­kanz­ler Karl Neham­mer mit einer gesetz­li­chen Ver­pflich­tung zum ärzt­li­chen Tätig­wer­den den Man­gel bei Kas­sen­ärz­ten behe­ben möchte, sieht Gesund­heits­mi­nis­ter Johan­nes Rauch den Aus­bau des Pri­mär­ver­sor­gungs­ein­hei­ten als zen­tra­len Punkt. Jüngst fiel auch der stell­ver­tre­tende ÖGK-Obmann Andreas Huss mit sei­ner Aus­sage in den Medien auf, dass Ein­zelor­di­na­tio­nen bald der Ver­gan­gen­heit ange­hö­ren wür­den – bis auf einige wenige Aus­nah­men in ein­zel­nen Tälern. Viel­mehr seien Ver­sor­gungs­zen­tren die Zukunft, die mit län­ge­ren Öff­nungs­zei­ten und mehr Leis­tun­gen punk­ten wür­den. Die Reak­tio­nen auf seine Aus­sa­gen waren groß. Unter ande­rem kri­ti­sierte ÖÄK-Prä­si­dent Johan­nes Stein­hart, dass nicht alles über einen Kamm zu sche­ren sei und statt einem, wie von Huss gefor­der­ten, „kom­plet­ten Umbau“ des Gesund­heits­sys­tems die Lösung in einer grö­ße­ren Fle­xi­bi­li­tät zu fin­den sei. Auf die öffent­li­che Kri­tik der Ärz­te­ver­tre­ter und Ärzte reagierte Huss damit, dass seine Aus­sa­gen im Inter­view über­spitzt for­mu­liert wor­den seien. „Er ver­sucht offen­bar, einen win­zi­gen Rück­zie­her zu machen, um bei der nächs­ten Gele­gen­heit wie­der mit pole­mi­schen Aus­sa­gen auf­zu­fal­len, anstatt mit kon­kre­ten und kon­struk­ti­ven Lösungs­vor­schlä­gen“, sagt Edgar Wut­scher, ÖÄK-Vize­prä­si­dent und Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte. Im Inter­view spricht er über die Vor­schläge zur Ver­bes­se­rung des Gesund­heits­sys­tems, Her­aus­for­de­run­gen in der Kas­sen­me­di­zin und Gesundheitsvorsorge.

Was hal­ten Sie von den aktu­el­len Dis­kus­sio­nen rund um die Gesund­heits­ver­sor­gung? Wo viele Men­schen mit­re­den, wer­den viele Stand­punkte ver­tre­ten. Die Ent­schei­dungs­trä­ger und Exper­ten im Gesund­heits­be­reich sind sich immer­hin alle in einem Punkt einig: es gibt Schwä­chen in der Gesund­heits­ver­sor­gung. Wir haben einen Man­gel im kas­sen­ärzt­li­chen Bereich, wir haben über­füllte Ambu­lan­zen und ein Finan­zie­rungs­mo­dell, das refor­miert wer­den sollte. Die Lösung kann aber nicht sein, dass man die indi­vi­du­el­len Bedürf­nisse sowohl der Ärz­te­schaft als auch der Pati­en­ten igno­riert und bei­spiels­weise glaubt, dass Zen­tren die Lösung für alles sind. Ein Bei­spiel: Ein chro­nisch kran­ker Pati­ent geht seit vie­len Jah­ren zu sei­nem Haus­arzt, der in der Nähe seine Ordi­na­tion führt. Nun wird in der Region eine PVE auf­ge­baut, wodurch län­gere Öff­nungs­zei­ten gewähr­leis­tet sind. Ers­tens hat der lang­jäh­rige Pati­ent jetzt eine län­gere Weg­stre­cke und zwei­tens sind ihm die län­ge­ren Öff­nungs­zei­ten egal, weil er bevor­zugt, die Behand­lung beim Arzt sei­nes Ver­trau­ens fort­zu­füh­ren. Die beste Pri­mär­ver­sor­gung ist kein Haus oder Zen­trum, son­dern die wohn­ort­nahe, nie­der­schwel­lige Betreu­ung der Pati­en­ten – hier geht es um das Ver­trau­ens­ver­hält­nis Arzt-Pati­ent, vor allem bei älte­ren Pati­en­ten, und weni­ger um For­mal­kri­te­rien. Ein wei­te­res Bei­spiel: Eine hoch­be­tagte Pati­en­tin liegt mit einer fiber­haf­ten Infek­tion im Bett, der Besuch einer weit ent­fern­ten PVE ist ihr nicht mög­lich, ebenso ist es den Ärz­ten der PVE nicht mög­lich, einen Haus­be­such zu machen. Kann das eine Lösung sein?

Die Ärz­te­kam­mer hat auch zuletzt in einer Aus­sendung für eine höhere Fle­xi­bi­li­tät gewor­ben, um Kas­sen­ärzte zu gewin­nen. Wie könnte das in der Pra­xis aus­se­hen? Es gibt nicht das All­heil­mit­tel, son­dern der Schlüs­sel ist ein gesun­des Mit­ein­an­der von Zen­tren, Grup­pen­pra­xen, Ein­zelor­di­na­tio­nen – aber auch von neuen Pra­xis­for­men. Es geht um ein brei­tes Ange­bot, das auf die geo­gra­fi­schen Beson­der­hei­ten und die indi­vi­du­el­len Bedürf­nisse Rück­sicht nimmt. Pri­mär­ver­sor­gungs­ein­hei­ten sind Teil einer Lösung und die Ärz­te­kam­mer steht dem sehr posi­tiv unter­stüt­zend gegen­über. Aber in kei­nem Wirt­schafts­zweig wer­den drei Unbe­kannte gemein­sam eine Firma grün­den. Dies muss schritt­weise erfolgen.

Unse­rer Erfah­rung nach ent­ste­hen Pri­mär­ver­sor­gungs­ein­hei­ten oft aus Grup­pen­pra­xen her­aus, die sich schon jah­re­lang bewährt haben. Das ist dann eine natür­li­che Ent­wick­lung. Aber von jetzt auf gleich alle Ärzte in Zen­tren zwin­gen zu wol­len, das kann nicht funk­tio­nie­ren. Man­che Ärzte moch­ten auch wei­ter­hin alleine eine Pra­xis füh­ren, sowohl in der Stadt als auch am Land. Daher hat Andreas Huss in der Ärz­te­schaft für viel Auf­ruhr gesorgt, als er in einem Inter­view davon gespro­chen hat, dass Ein­zelor­di­na­tio­nen in Zukunft die Aus­nahme sein wer­den. Die ÖGK sollte aber im Sinne ihrer Bei­trags­zah­ler sowohl Ein­zelor­di­na­tio­nen, als auch fle­xi­ble Grup­pen­zu­sam­men­ar­beits­for­men unter­stüt­zen – und nicht gegen­ein­an­der ausspielen.

Wel­che Rah­men­be­din­gun­gen müss­ten ange­bo­ten wer­den? Ärzte, die gerne eigen­stän­dig arbei­ten, aber die Pati­en­ten­ver­sor­gung durch Kon­takt mit ande­ren Ärz­ten ver­bes­sern wol­len, wür­den bei­spiels­weise auch Pri­mär­ver­sor­gungs­netz­werke grün­den – da stellt sich aber in man­chen Fäl­len die Gesund­heits­kasse quer, weil sie nach For­mal­kri­te­rien han­delt. Bei­spiels­weise besteht sie dar­auf, dass eine GmbH gegrün­det wird und diese fir­miert dann als Ver­trags­part­ner. Hier gibt es wesent­lich unbü­ro­kra­ti­schere Mög­lich­kei­ten, eine Part­ner­schaft zu grün­den. Eine wei­tere Mög­lich­keit, um Kas­sen­ärzte zu fin­den, wäre, dass sowohl Pri­mär­ver­sor­gungs­ein­hei­ten in ent­spre­chen­den Gebie­ten aber natür­lich auch Ein­zel­pra­xen im Sinne einer opti­ma­len Pati­en­ten­ver­sor­gung mit Haus­apo­the­ken aus­ge­stat­tet wer­den. Das kann in länd­li­chen Regio­nen auch ein Attrak­ti­vi­täts­boos­ter sein. Haus­apo­the­ken sichern die Gesund­heits­ver­sor­gung und sind ein gewich­ti­ges Argu­ment gegen Abwan­de­rung und wei­tere Aus­dün­nung länd­li­cher Gemein­den. Erstre­bens­wert wäre ein Neben- und Mit­ein­an­der von öffent­li­chen Apo­the­ken und ärzt­li­chen Haus­apo­the­ken. Neue Arbeits­zeit­mo­delle, wie etwa Job Sha­ring, sind not­wen­dig, ebenso sollte man dar­über dis­ku­tie­ren kön­nen, ob es mög­lich ist, in spe­zi­el­len Situa­tio­nen als Kran­ken­haus­arzt und Ver­trags­arzt par­al­lel tätig zu sein Die opti­male Ver­sor­gung der Pati­en­ten muss das Haupt­ziel sein.

Wie kann die Kas­sen­me­di­zin noch gestärkt wer­den? Es sollte nicht um Zwänge und Ver­pflich­tun­gen gehen, son­dern um Frei­wil­lig­keit und Ver­bes­se­run­gen der Rah­men­be­din­gun­gen. Land­arzt­sti­pen­dien, wie sie die ÖGK der­zeit ver­gibt, sind eine Mög­lich­keit. Die Stär­kung der wohn­ort­na­hen Ver­sor­gung kann durch eine Mischung aus Maß­nah­men erreicht wer­den: Zuerst ein­mal muss die ärzt­li­che Aus­bil­dung im Spi­tal qua­li­ta­tiv so hoch­wer­tig sein, dass sie auch mit dem kon­kur­rie­ren­den Aus­land mit­hal­ten kann. Zusätz­lich kön­nen die Ein­füh­rung des Dis­pen­sier­rech­tes auf frei­wil­li­ger Basis, Haus­apo­the­ken sowie eine zeit­ge­mäße Hono­rie­rung und fle­xi­ble Kas­sen­ver­träge bei den Arbeits­zei­ten hel­fen, Ärz­tin­nen und Ärzte für die öffent­li­che Gesund­heit zu begeis­tern. Die Kas­sen­ver­träge mit den Decke­lun­gen för­dern eine „Fünf-Minu­ten-Medi­zin“, die viele Ärzte nicht mehr wol­len. Wir Ärzte erbrin­gen viele Leis­tun­gen, die im der­zei­ti­gen Leis­tungs­ka­ta­log gar nicht abge­bil­det sind, unter ande­rem die Zuwen­dungs­me­di­zin mit inten­si­ven Arzt­ge­sprä­chen und ‑bera­tun­gen. Außer­dem muss eine zeit­ge­mäße Hono­rie­rung die Prä­ven­ti­ons­me­di­zin viel stär­ker ein­schlie­ßen – denn die Vor­sor­ge­me­di­zin hinkt in Öster­reich der Repa­ra­tur­me­di­zin lei­der noch hin­ten nach. Wenn diese Leis­tun­gen aner­kannt wer­den, dann wer­den sich auch mehr Ärzte für einen Kas­sen­ver­trag entscheiden.

Was sagen Sie zu der Aus­sage des stell­ver­tre­tende ÖGK-Obmann Andreas Huss, dass die Medi­zin weib­lich wird und statt einer Stelle nun bis zu drei Stel­len benö­tigt wer­den? Meine große Hoch­ach­tung gilt den Ärz­tin­nen, wel­che auch neben der Fami­lie, beson­ders den Kin­dern, ihre Kas­sen­stelle voll betreuen und für ihre Pati­en­ten da sind. Aus die­sem Grund sind die oben ange­führ­ten Aus­sa­gen unnot­wen­dig. Es wäre sehr hilf­reich, wenn man sich zuerst seriös infor­miert. Mit Ver­un­glimp­fun­gen ist nichts zu erreichen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 8 /​25.04.2023