Gesundheitsstandort Österreich: Unabhängigkeit macht sicher

10.11.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Die Österreichische Ärztekammer hat insbesondere während der Pandemie betont, wie wichtig eine Unabhängigkeit Europas bei der Medikamenten- und Medizinprodukteproduktion ist. Welche Rolle dabei der Standort Kundl in Tirol spielt, das hat sich die Spitze der Bundeskurie angestellte Ärzte bei einem Lokalaugenschein angesehen.

Thorsten Medwedeff

Rund 570 Medikamente sind laut Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) in Österreich aktuell nicht oder nur eingeschränkt in der jeweiligen, angeführten Packungsgröße verfügbar. Auf der ständig aktualisierten Liste stehen bekannte Medikamente, die man vielleicht auch schon selbst eingenommen hat – von Schmerzmitteln bis hin zu Impfstoffen, Magenschutz oder Antibiotika.

Am Ortsrand der Tiroler Kleinstadt Kundl steht eine der größten Produktionsstätten für Antibiotika. Weltweit betrachtet. Rund 200 Millionen Antibiotika-Packungen werden unweit von Kufstein, der zweitgrößten Stadt des Bundeslandes, jedes Jahr hergestellt. Die Kapazitäten würden theoretisch ausreichen, Gesamt-Europa mit Penicillin zu versorgen, heißt es seitens des Unternehmens Sandoz, dass das Werk in Tirol betreibt. Vom Wirkstoff bis zur Tablette werden in Kundl Antibiotika für den ganzen Globus weiterentwickelt und produziert. Somit kommt dem Standort eine Schlüsselfunktion bei der Antibiotika-Versorgung zu.

Und damit das so bleibt, wird am Standort Kundl weiter in die die Wettbewerbsfähigkeit investiert: Die geplante Gesamtinvestition beträgt über 150 Millionen Euro. Zusätzlich hat die österreichische Regierung öffentliche Mittel in Höhe von rund 50 Millionen Euro koordiniert. Die Anlage für eine neue Produktionstechnologie zur Herstellung von Amoxicillin-Wirkstoffen wird Anfang 2024 betriebsbereit sein. Die neue Technologie ist umweltschonender und weniger ressourcenintensiv. „Hier zeigt sich, wie man mit der europaweiten Krise in der Medikamentenversorgung richtig umgeht“, befindet Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte: „Der Standort wird gesichert, indem man investiert, anstatt nur zu hoffen, dass es von alleine besser wird. Jeder in unsere Gesundheitsversorgung gesteckte Euro amortisiert sich doppelt und dreifach.“

Europäisch denken

Der Schweizer Pharmakonzern mit seinem Produktionsstandort im Tiroler Unterland ist ein Best-Practice-Beispiel, wie sich Mayer die eigenständige Versorgung mit Medikamenten in Europa vorstellt. „Es geht darum, Unabhängigkeit von anderen Märkten zu schaffen – insbesondere von der Medikamentenproduktion in Asien.“ Leider habe die Europäische Union aus den Engpässen in der Corona-Pandemie nichts gelernt, so der BKAÄ-Obmann: „Wir dürfen uns in Österreich, aber auch in Europa, in keinerlei Abhängigkeiten begeben, was die Versorgung mit Medizinprodukten und Medikamenten betrifft – das hat uns allein schon die Corona-Pandemie drastisch aufgezeigt. Auch da war die Europäische Union, etwa bei der Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung, viel zu sehr von anderen Staaten abhängig. Ziel muss es sein, in diesem Bereich europaweit unabhängig zu werden und dafür konkrete Strategien zu entwickeln. Wir sparen wieder einmal am falschen Platz!“

Erst im Vorjahr hatte die österreichische Semperit AG Holding den Verkauf des eigenen Medizingeschäfts – dabei geht es hauptsächlich um Operations- und Untersuchungshandschuhe – an einen südostasiatischen Handschuhproduzenten mit Sitz in Singapur fixiert. „Wider jede Vernunft geraten wir durch derartige Schritte in Abhängigkeiten von ausländischen Produktionsstätten, die in Österreich, einem der reichsten Länder in Europa, einfach nicht sein dürfen – hier müsste man doch politisch gegensteuern können, um so etwas zu verhindern und den Wirtschaftsstandort Österreich und die eigenen Unternehmen – speziell in diesem Bereich – zu stärken“, befindet Mayer. „Wir fördern zu wenig vorausschauend und wundern uns dann, wenn sich ein Unternehmen verabschiedet. Hier fehlt mir jede gesundheitspolitische Weitsicht.“

Einen weiteren wichtigen Faktor, der helfen würde, nennt Wolfang Andiel (Lead Public Affairs bei Sandoz): „Man muss auch über faire Preise reden – wenn ein durchschnittliches flüssiges ‚Kinder‘-Medikament statt 5,5 Euro zum Beispiel sieben oder acht Euro kosten würde, würde sich die Industrie sehr viel leichter tun und mehr Unternehmen in den Markt kommen.“ Daher sollte, so Andiel, eine Diskussion über eine Indexanpassung oder zumindest Preisanpassung geführt werden.

Vorbildliche Schlüsselfunktion

Umso erfreulicher ist daher die Investitionsbereitschaft in Kundl zu bewerten: „Das alles ist ein wesentlicher Beitrag zur Versorgungssicherheit der Österreicher in Zeiten der Medikamenteneng-pässe – aber auch für die gesamteuropäische Antibiotika-Versorgung. Hier nimmt das Unternehmen in Kundl eine Schlüsselfunktion ein, die vorbildlich ist“, betont Harald Mayer.

Es geht aber nicht nur um die Sicherung des Standorts mit 2.500 Mitarbeitern (in Österreich sind es insgesamt 2.700), sondern auch um eine Stärkung der medizinischen Infrastruktur. Seit 1948 wird in Kundl Penicillin erzeugt, 1952 wurde dort das erste säurestabile Penicillin entwickelt. 71 Jahre später steht hier eine der größten Antibiotika-Fabriken weltweit. Der Ausbau zeigt, wo es hingehen soll: Nachhaltige Stärkung der medizinischen Versorgung und nachhaltige Absicherung des Standortes sowie der Arbeitsplätze.

In der Produktion hat man vor allem mit den gestiegenen Rohstoff- und Energiepreisen zu kämpfen. Für die Penicillin-Produktion wird sehr viel Energie für die Fermentation der Pilze benötigt. Weiters verschlingt die Antibiotika-Herstellung große Mengen an Zucker, die für die Kultivierung der Mikroorganismen notwendig sind. Kultiviert werden diese Mikroorganismen in großen Stahlbehältern mit sterilisierten Nährlösungen aus Vitaminen, Spurenelementen, Zucker sowie gefilterter Luft. Dafür werden nachhaltige und regionale Prozesse genutzt, so wird als wichtiges Substrat bei der Penicillin-Herstellung Lactose-Permeat aus einer nur acht Kilometer entfernten Molkerei bezogen und verwendet. „Es gibt laufend Verfahren, kostengünstiger zu werden, aber auch weniger umweltbelastend zu sein“, unterstreicht Stephanie Jedner, Standortleiterin der Wirkstoffproduktion Kundl und Geschäftsführerin der Sandoz GmbH Austria. So wird zumindest teilweise schon jetzt mit Abwärme geheizt.

Gemeinsame Strategie? – Fehlanzeige

Standortsicherungen in den einzelnen Ländern sind eine wichtige Säule, zusätzlich braucht es aber auch eine gesamteuropäische Strategie: „Abhängigkeiten von Medikamenten-Lieferungen aus Asien sind brandgefährlich“, warnt Mayer. „Wenn uns etwa China die Antibiotika-Lieferungen abdrehen würde, wäre Europas Gesundheitsversorgung schwer getroffen. Dieses Horrorszenario – es hat bis vor kurzem auch keiner gedacht, dass es mit Erdgas aus Russland Probleme geben könnte – müssen wir mit unabhängigen Lösungen innerhalb der EU abwenden. Dazu brauchen wir aber eine einheitliche, abgestimmte Strategie – diese fehlt leider noch immer.“

Dazu müsse man, so Mayer, auch Geld in die Hand nehmen. „Gesundheit und damit auch Medikamente und deren Produktion müssen uns etwas wert sein. Ständige Engpässe sind für die betroffenen Patienten eine Zumutung und dürfen mitten in Europa eigentlich nicht stattfinden! Medizinprodukte und Medikamente für die EU müssen in der EU produziert werden, um das Risiko von Abhängigkeiten zu minimieren. Insbesondere in Krisenzeiten wie jetzt. Die Politik muss hier neue Wege aufzeichnen, damit die gesundheitliche Versorgung jederzeit und autonom gewährleistet ist. Man hatte während der Corona-Pandemie zwar die Idee, innerhalb Europas autark zu werden. Allerdings ist seitdem nichts in diese Richtung geschehen und das Thema ist wieder verpufft“, resümiert Mayer.

Man sei weiterhin abhängig von Rohstoffen aus Drittstaaten: „Eine einheitliche EU-Linie für eine gemeinsame Versorgung mit Medizinprodukten, oder meinetwegen eine gemeinsam mit den USA und Großbritannien, wurde nicht gestartet oder geschweige denn umgesetzt – und ist auch kurzfristig leider nicht in Sicht. Hier besteht dringender Handlungsbedarf!“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2023