Allgemeinmedizin: Interview Edgar Wutscher und Naghme Kamaleyan-Schmied – „Mit Leib und Seele“

25.06.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Was den Reiz der Allgemeinmedizin ausmacht, welche Einschränkungen die Kassenverträge bringen und was sie sich von der Änderung der Ausbildungsordnung erwarten, darüber sprechen Edgar Wutscher, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, und Naghme Kamaleyan-Schmied, stellvertretende Bundeskurienobfrau der niedergelassenen Ärzte, im Interview mit Sophie Niedenzu.

Warum entscheiden sich so wenige Jungärzte für die Kassenmedizin? Wutscher: In der Allgemeinmedizin sind die Probleme so, dass viele junge Kolleginnen und Kollegen, die das Studium machen, keine Beziehung zur Allgemeinmedizin haben. Sie haben oft auch falsche Vorstellungen, das sehe ich etwa bei unseren Lehrpraktikanten. Erfreulicherweise klärt sich das dann immer wieder im kleinen Rahmen in der Lehrpraxis. Bei den Fachärzten – das ist unsere regionale Einschätzung aus Tirol – sind es oft jene in den operativen Fächern, die sagen, sie wollen dort auch weiterhin tätig sein, ob jetzt in der Gynäkologie, Chirurgie oder Orthopädie. Sie haben oft andere Vorstellungen von einer konservativen Kassenpraxis. Das kann ein Grund sein, dass die Kassenstellen unbesetzt bleiben. Fachärzte, die in den Spitälern operativ arbeiten, können sich nicht vorstellen, wie sie in einer Kassenordination arbeiten. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass man genauso viele erfüllende Aufgaben in der Kassenmedizin machen kann, das zeigen ja auch die Kassen-Fachärzte.

Kamaleyan­-Schmied: In unserer Ordination arbeiten auch immer wieder junge Kolleginnen und Kollegen, die am Anfang des Studiums sind. Wenn man sie fragt, was sie machen wollen, dann beziehen sie sich oft auf das Arztbild aus Serien. Spitäler kennt man und man kann sich vorstellen, wie es ist, dort zu arbeiten. Viele sagen, sie sind Arzt geworden, weil sie Patienten helfen wollen. Wenn man nachfragt, beschreiben sie oft die Tätigkeit eines Allgemeinmediziners. Das Problem ist: die Allgemeinmedizin ist im Studium kaum vorhanden. Und wenn man bereits im Spital arbeitet, dann bekommt man keinen Einblick in die Tätigkeit des Allgemeinmediziners. Ich kannte die Arbeit meines Vaters, darum war die Allgemeinmedizin auch eine spannende Alternative zur Spitalstätigkeit. Aber wenn man in der Arbeit im Spital drinnen ist und drumherum gar nichts anderes sieht außer das Spital, entsteht gar nicht die Idee, in eine Ordination zu gehen – schon gar nicht in die Allgemeinmedizin. Man verliert den Überblick – nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Wird der Facharzt für Allgemeinmedizin etwas ändern? Wutscher: Ich könnte mir vorstellen, dass der Facharzt die Situation ein wenig entspannt. Viel wichtiger ist aber die Änderung der Ausbildungsordnung und die Einführung von zwei Jahren Lehrpraxis. In dieser Zeit lernen die jungen Mediziner die tatsächliche Arbeit in Ordinationen. Die Institutionalisierung der Allgemeinmedizin im Studium ist aber ein sehr wesentlicher Aspekt. In Tirol haben wir einen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin bekommen und konnten ihn besetzen. Die Vorlesungen sind sehr gut besucht. Das alles sind gute Wege, um die Allgemeinmedizin wieder zu attraktivieren. Der Facharzt selbst kann etwas bewirken, aber wir würden uns täuschen, wenn wir denken, mit Jahreswechsel haben wir den Facharzt und dann gehen alle in die allgemeinmedizinische Praxis.

Kamaleyan-­Schmied: Der Facharzt für Allgemeinmedizin ist ein Zeichen der Wertschätzung. Im Spital kommt oft die Reaktion „Hast du kein Fach bekommen oder wieso machst du Allgemeinmedizin?“. Das kreist noch in vielen Köpfen, ich höre das immer wieder. Wir haben als Allgemeinmediziner ein breites Arbeitsfeld, allein, wenn ich daran denke, welche verschiedenen Medikamente wir als Allgemeinmediziner kennen müssen. Es ist an der Zeit, dass der Facharzt kommt, aber er wird nicht alle Probleme lösen.

Was halten Sie von Lösungsansätzen wie Landarztstipendien? Wutscher: Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das mag für einzelne Situationen eine Hilfe sein, aber im Großen und Ganzen kann das nicht die Lösung des Problems sein.

Kamaleyan­-Schmied: Ich empfinde das auch etwas als Degradierung der Allgemeinmedizin, im Sinne von: „Ich zahle dir etwas, damit du diesen fürchterlichen Job machst.“ Ich arbeite ja sehr gerne mit den jungen Kolleginnen und Kollegen zusammen, und oft erhalte ich die Reaktion, dass die Arbeit an sich einfach schön ist. Und das sollte die Motivation sein. Nicht die Frage: Was bekommst du für einen Patientenkontakt bezahlt? Natürlich hat man als Wahlarzt Freiheiten, die einem als Kassenarzt fehlen. Ich bin in einen Gesamtvertrag gebunden. Ich habe alle Pflichten eines Selbstständigen, aber nicht alle Rechte ebendieser, beispielsweise eine freie Wahl der Ordinationszeiten, Urlaubszeiten, Zusammenarbeitsformen. Aber um ehrlich zu sein: Ohne Bürokratie ist die Arbeit als Allgemeinmedizinerin per se das Schönste, was es gibt.

Aus Ihrer persönlichen Sicht: Was macht die Allgemeinmedizin aus? Wutscher: In der Allgemeinmedizin haben wir die Möglichkeit, einen Menschen von der Geburt an zu betreuen, ebenso die ganze Familie. Das ist etwas Wunderbares. Die Allgemeinmedizin deckt ein breites Spektrum ab, sie ist abwechslungsreich und vielseitig. Ich möchte das nicht missen und ich bereue keine Sekunde, den Facharzt für Anästhesie nicht abgeschlossen zu haben. Mir haben nur vier Monate gefehlt, aber ich wäre unabhängig davon so oder so Allgemeinmediziner geworden – aber natürlich hilft mir die Facharztausbildung bis heute. Das war eine Bereicherung. Die Arbeit freut mich bis heute, auch trotz der Belastungen und der Ecken und Kanten im Kassenbereich. Ich bin ein mit Leib und Seele überzeugter Allgemeinmediziner und es ist eine wunderschöne und lohnende Aufgabe, Patienten, ganze Familien, in allen Lebenslagen zu begleiten.

Kamaleyan­-Schmied: Als mein Vorgänger in Pension gegangen ist, sind noch drei Jahre lang Patienten zu mir gekommen, die das sehr bedauert haben, dass er nicht mehr ordiniert. Unsere Arbeit ist total spannend, wir haben jung, alt, klein, groß und Mann und Frau. Wir sehen den Patienten ab der Diagnosestellung und betreuen den Patienten über längere Zeiträume. Das gibt einem so viel.

Der Kassenvertrag gibt gewisse Richtlinien wie die Öffnungszeiten genau vor. Wie funktioniert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Kamaleyan-Schmied: Meine beiden Kinder waren noch sehr klein, als ich die Ordination übernommen haben. Ich hatte eine kleine Ordination und durfte dreimal vormittags und „nur“! zweimal nachmittags pro Woche ordinieren. Die Nachmittagsordinationen waren bezüglich Kinderbetreuung sehr schwierig zu besetzen. Glücklicherweise habe ich ein sehr gutes Netzwerk mit den Großeltern. Das hat funktioniert – es war nicht leicht, aber es hat funktioniert. Aber wenn man kein familiäres Netzwerk in der Nähe hat, oder keinen Partner, ist es fast unmöglich. Es sind vor allem die Randzeiten ab 17 Uhr, die eine Herausforderung sind, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen, nachdem viele Institutionen nach 17 Uhr keine Kinderbetreuung mehr anbieten. Eine Kollegin beispielsweise hat drei Kinder, die Kinderbetreuung über ihre Familie ist ihr leider weggefallen, sie kann die Ordination am Nachmittag nicht mehr führen und überlegt jetzt, Wahlärztin zu werden. Damit verlieren wir wieder unnötigerweise eine Ärztin mehr im öffentlichen System. Da muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass die Kollegin die Ordinationszeiten auf vormittags verschiebt und eine „Vormittagsordination“ anbietet.

Wutscher: Meine Tochter hat seit drei Jahren eine allgemeinmedizinische Kassenpraxis. Sie hat zwei Kinder, die vormittags in der Schule sind. Nachmittags ist es dann schwierig, die Betreuung zu organisieren – das geht letztendlich nur mit einem funktionierenden familiären Netzwerk. Meine Frau springt oft bei der Betreuung ein und ich unterstütze nachmittags in der Ordination. Ich bewundere jede Frau, jede Ärztin, die Familie plus Ordination vereint. Das ist eine Wahnsinnsaufgabe.

Kamaleyan-Schmied: Kinder zu bekommen ist eine gemeinsame Familienentscheidung und darum wehre ich mich dagegen, dass Kinderbetreuung als reines Frauenthema dargestellt wird. Kindererziehung und Kinderbetreuung sind Familienthemen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2023