Ärztliche Zusammenarbeitsformen – Interview Klaus Schweitzer: „Massive Umstellungen“

10.05.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Eine aktuelle OECD-Studie hat bestätigt, dass die wohnortnahe Versorgung bei niedergelassenen Ärzten gestärkt werden müssen. Zu diesem Zweck möchte Gesundheitsminister Johannes Rauch die Zahl der Primärversorgungseinheiten bis 2025 auf 121 verdreifachen. Woran es in der Praxis scheitern kann, erzählt der Tiroler Allgemeinmediziner und Hausapotheken-Referent der Österreichischen Ärztekammer, Klaus Schweitzer im Interview.

Sie wollten sich mit anderen Ärzten in der Region zu einem Primärversorgungsnetzwerk zusammenschließen – woran ist es gescheitert? Wir, drei Allgemeinmediziner und eine Allgemeinmedizinerin, wären auch in unserer Region bereit gewesen, bei der Gründung von Primärversorgungseinheiten mitzuwirken und hatten die Intention, kein Zentrum, aber ein Netzwerk zu gründen – beides sind Unterformen von Primärversorgungseinheiten. Mit an Bord gewesen wäre eine diplomierte Krankenschwester, eine Diätberatung, eine Psychotherapie – medizinische Angebote, die wir in den Ordinationen teilweise jetzt schon, teils sogar schon im Haus, anbieten. Dabei läuft vieles auf Wahlarztbasis, gerade in der Psychotherapie ist es schwer, jemanden zu finden, der auf Kassenvertragsbasis Patienten behandelt. Seit sechs Jahren verhandeln wir mit der ÖGK, wir haben immer klar kommuniziert, dass wir in unserer Region ein Primärversorgungsnetzwerk mit dislozierten Arztpraxen als zielführender erachten als eine große Umstellung durch die Errichtung eines Zentrums. Mit einem Netzwerk kann jeder seine Praxis behalten, die wohnortnahe Versorgung in den Tälern ist sichergestellt, bei gleichzeitig intensivem Austausch und Zusammenarbeit mit anderen Ärzten. Wir hatten schon ausgemacht, wer wann zuständig ist, wie die Dienste unter der Woche und die Bereitschafts- und Wochenenddienste aussehen. Dann kamen aber die Hürden: Das beginnt bei der Honorierung. Ich hätte einen enormen Verlust gehabt.

Weswegen? Im Vorschlag der ÖGK für den Gesamtvertrag für die Primärversorgungseinheiten in Tirol gibt es eine Grundpauschale über 10.000 Euro pro Quartal, also 3.330 Euro pro Monat. Gleichzeitig regelt der PVE-Vertrag die Aufgaben und das Service für die Patienten, wie etwa die längeren Öffnungszeiten. Koordinierung der Versorgung, Gesundheitsförderung, Vorsorge – letztlich steht in dem Vertrag alles drin, was in einer Arztpraxis machbar ist. Die zusätzlich geforderten Aufgaben von PVE werden meiner Meinung nach durch die Grundpauschale nicht gedeckt. Zusätzlich gibt es eine Fallpauschale pro Alterskohorte, für ältere Patienten erhält man mehr, für jüngere weniger. Und dann gibt es noch den Einzelleistungskatalog, der inkludiert allerdings nur Grundleistungen wie Bereitschaftsdienste, Visiten, Notfallleistungen. Es gibt die Intention, Leistungen wie Verbandswechsel vom Spital in die Niederlassung zu verschieben. Das ist nachvollziehbar und in Ordnung, das machen wir grundsätzlich sehr gerne. Aber: Wenn ich einem Patienten wöchentlich den Verband wechsle, dann kommt er zehnmal im Quartal. Die Bezahlung mittels Fallpauschalen benachteiligt jene Ärzte, die sich intensiv mit Patienten beschäftigen. Darunter fallen beispielsweise auch Behandlungen wie Infusionstherapien oder auch die zeitaufwendige Betreuung von psychisch kranken Patienten. Ich sehe Patienten öfters im Quartal. Und das wird von der ÖGK durch diese Fallpauschale nicht honoriert. Für die Berechnung bei den PVE haben sie Durchschnittswerte genommen. Die Honorierung kann also für einen Arzt funktionieren, für einen anderen aber wiederum nicht. Auf meine Arbeitsintensität gerechnet, hätte ich bei einem Wechsel in eine PVE acht Prozent Honorarverlust erlitten. Trotz Einschränkungen, wenn man in eine PVE wechselt, bleiben die bekannten Limits im Honorierungssystem erhalten.

Welche Einschränkungen gibt es sonst noch? Es sind einige Punkte, die massive Umstellungen bedeuten. Das beginnt bei einem gemeinsamen Telefon- und Computersystem. Zudem muss ein täglich dokumentierter und strukturierter Austausch der Patientendokumentation stattfinden. Das bedeutet wieder zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Außerdem muss an den Bereitschaftsdiensten auch an Wochentagen teilgenommen werden. Grundsätzlich sind viele Verpflichtungen mit einem PVE verbunden, etwa die Teilnahme an einer begleitenden Evaluierung inklusive Verpflichtung zur Offenlegung von einvernehmlich festgelegten Daten der Betriebs- und Finanzgebarung zum Nachweis der widmungsgemäßen Mittelverwendung, die Verpflichtung zur Teilnahme an verschiedenen Disease Management Programmen, die Verpflichtung zur Diabetes-schulung einmal im Quartal und die Verpflichtung zur Abhaltung von jährlich zwei Veranstaltungen zur Gesundheits-förderung für Patienten. Regelmäßige Fortbildungen sind schon jetzt gesetzlich vorgeschrieben, was auch zu begrüßen ist, aber ich lasse mir ungern vorschreiben, welche Fortbildung für mich sinnvoll und notwendig ist.

Inwiefern sind ärztliche Hausapotheken ein Knackpunkt? Für mich als ÖÄK-Referent für Hausapotheken der Österreichischen Ärztekammer war es enorm wichtig, die ärztliche Hausapotheke speziell in den Primärversorgungsnetzwerken zu erhalten. Das geht grundsätzlich auch. In anderen Bundesländern gibt es Primärversorgungsnetzwerke mit ärztlichen Hausapotheken. Ist eine Ordinationsübergabe inklusive Hausapotheke geplant, müsste um einen neuen ärztlichen Hausapothekenvertrag angesucht werden. Für eine Genehmigung ist, laut Gesetz, ein §2 Kassenvertrag notwendig. Will die ÖGK bei einer PVE als übergeordnete Organisation einen Verein oder eine Gesellschaft, so muss der Arzt oder die Ärztin mit dem Verein oder der Gesellschaft abrechnen und nicht mehr mit der ÖGK. Es kann sein, dass ein Neuantrag nicht angenommen wird. Um diese Unsicherheit im Gesetz zu beseitigen, habe ich gebeten, das Apothekengesetz so zu ergänzen, dass es heißt: „§2 Kassenvertrag oder Gleichwertiges.“ Das ist allerdings nicht geschehen. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, die ärztliche Hausapotheke zu verlieren, daher kommt ein Netzwerk derzeit für mich nicht in Frage, solange dieses Problem nicht gelöst ist.

Unabhängig von einer PVE arbeiten Sie in ihrer Ordination in Tulfes in Tirol jetzt schon interdisziplinär, wie wird das Angebot angenommen? Wir haben eine Physiotherapie im Haus, die allerdings eine Wahlarztpraxis ist. Die Physiotherapeuten haben kein Interesse, zu Kassentarifen zu arbeiten. Die Zwei-Klassen-Medizin ist die Realität – der eine bekommt die Leistung im Haus und zahlt zusätzlich, der andere wird zu einer Therapie auf Kassenbasis, aber eben weiter weg, überwiesen. Die Leistungen sind auch unterschiedlich, bei den Wahlphysiotherapeuten im Haus dauert eine Einheit eine Stunde. Grundsätzlich wird das Angebot sehr gerne angenommen. Bei uns scheint es kein finanzielles Thema zu sein, denn die Patienten zahlen für die Wahlphysiotherapie und sind zufrieden mit der Leistung.

Welche Erfolge gab es durch das lange Verhandeln mit der ÖGK Landesstelle Tirol? Das PVE-Gesetz, das nun für Tirol gilt, wurde etwas angepasst. Die Fallpauschale wurde geringfügig angehoben, die Verpflichtung zu Bereitschaftsdiensten auch an Wochentagen und eine ursprünglich geplante Zuverdienstgrenze für die Ärzte über 20 Prozent wurde in Tirol gestrichen. Das ist auch gut so, denn Arzt ist ein freier Beruf und wieviel ich neben dem Kassenvertrag zusätzlich leisten will, bleibt mir überlassen – so etwas sollte nicht von einer Krankenkasse vorgeschrieben oder gar eingeschränkt werden. Da jetzt keine weiteren Verhandlungen mehr Erfolg versprechen, wird dem Vertrag für Tirol von der Tiroler Ärztekammerseite zugestimmt. Ich bin schon davon überzeugt, dass man den ein oder anderen Arzt für eine PVE findet. Wenn etwa die Räumlichkeiten schon stehen, mit einer Infrastruktur, dann wird das schon funktionieren. Schwieriger wird es für Ärzte, die vom jetzigen System in eine PVE wechseln. Es wird viel reglementiert. Interessierte Kolleginnen und Kollegen sollten daher genauestens informiert werden, welche Vor- und Nachteile es gibt. Letztendlich muss jeder für sich selbst entscheiden, ob die Bedingungen für einen selbst passen oder nicht.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2023