Porträt Kristin Tessmar-Raible: Photorezeptor als Inspiration

01.07.2022 | Politik

Ein Photorezeptor im marinen Borstenwurm hat die Neurobiologin Kristin Tessmar-Raible zur Beobachtung von lunaren Rhythmen inspiriert. Mit dessen Schlafverhalten und nicht zuletzt im Bereich der weiblichen Fruchtbarkeit mehren sich die wissenschaftlichen Hinweise, dass auch der Mensch dem Mond folgt.

Ursula Scholz

KristinTessmar-Raible, Professorin für Chronobiologie am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Wien, hat sich seit der Gründung ihrer Forschungsgruppe im Jahr 2008 den bisher noch wenig beachteten lunar gesteuerten biologischen Vorgängen verschrieben. Für ihre Arbeit auf dem Gebiet der molekularen und zellulären Chronobiologie erhielt sie kürzlich den ältesten Forschungspreis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: den Ignaz L. Lieben-Preis. Der von Tessmar-Raible bevorzugte Modellorganismus ist der marine Borstenwurm Platynereis dumerilii. Dieser besitzt mitten im Gehirn einen Photorezeptor, der Tessmar-Raible zur Beobachtung lunarer Rhythmen inspiriert hat.

Mond steuert Fruchtbarkeit

Korallen richten sich in ihrer Vermehrungszeit nach der Mondphase und auch die Fruchtbarkeit von anderen Meeresbewohner wie etwa von zahlreichen Fischen und selbst von einigen Meeresschildkröten wird vom Mond gesteuert. Daraus entstehe eine große ökologische Verantwortung für den Menschen, wie Tessmar-Raible betont. Mondlicht ist extrem schwach: bis zu 1.000.000-fach schwächer als die Sonne. Daher kann die nächtliche Lichtverschmutzung durch Küstenstädte und vielleicht auch durch vorbeifahrende Schiffe ein Korallenriff aus dem Takt bringen.

Auch terrestrische Organismen zeigen lunare Zyklen: Dachse und Gnus, aber auch Kühe haben ein inneres Mond-Uhrwerk. „Bei statistischen Untersuchungen der Geburtstage von Kühen haben japanische Kollegen eine Korrelation mit dem Mond festgestellt“, erzählt Tessmar-Raible.

Viele Gene, die der Borstenwurm besitzt, kommen auch im Menschen vor. Erkenntnisse über die Auswirkung von lunarer Rhythmik auf die Physiologie und das Verhalten des Borstenwurms können also möglicherweise auch zu Forschungsansätzen beim Menschen führen. Lange Zeit galt es fast als unwissenschaftlich, mögliche Korrelationen zwischen Mondphasen und menschlicher Biologie zu untersuchen. Mittlerweile mehren sich jedoch durch ernsthafte Studien (siehe Kasten) die Hinweise darauf, dass Mondphasen durchaus einen Einfluss auf bestimmte Aspekte der Humanbiologie haben – sei es auf das Schlafverhalten (längerer Schlaf bei zunehmendem Mond, späteres Schlafengehen bei Vollmond), auf den Menstruationszyklus oder auf die menschliche Psyche.

Mechanismen dahinter verstehen

Bezug zur Medizin hat Tessmar-Raible schon von klein auf: In ihrer Familie gibt es zahlreiche Ärzte. Es waren nicht die ärztlichen Nachtdienste, die die innere Uhr eines Menschen in empfindlichem Maß stören, die Kristin Tessmar-Raible davon abgehalten haben, selbst Ärztin zu werden. „Mich haben die Mechanismen hinter den physiologischen Vorgängen immer schon mehrinteressiert.“ Und so ging die 1977 in Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, geborene Forscherin nach dem Abitur und der Wende in den Westen, um an der Universität Heidelberg Biologie zu studieren, unterbrochen von Forschungsaufenthalten an der University of Cambridge und dem Massachusetts General Hospital der Harvard Medical School in Boston. Nach dem Doktorat an der Uni Marburg kehrte Tessmar-Raible wieder nach Heidelberg an das Europäische Molekularbiologische Labor (EMBL) zurück, bevor sie im Jahr 2008 nach Wien übersiedelte, um eine Forschungsgruppe an den Max Perutz Labs zu gründen. Von 2012 bis 2021 war sie Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW. 2015 wurde sie mit einer Berta Karlik-Professur ausgezeichnet und mit November 2017 zur ordentlichen Universitätsprofessorin für Chronobiologie ernannt.

Da auch ihr Mann, Florian Raible, am Wurm forscht, war es durchaus eine Herausforderung, einen für beide idealen Forschungsstandort zu finden. „Wir hatten letztlich vier Möglichkeiten: eine in Frankreich, eine in Deutschland, eine in den USA und jene in Wien“, erzählt Tessmar-Raible. Das Gesamtpaket sei in Wien am  attraktivsten gewesen. Kulturschock habe sie nach dem Umzug nach Österreich keinen erlitten, vielmehr sei es „ein bisschen wie Nachhausekommen“ gewesen. Österreich, so Tessmar-Raible, liege wahrscheinlich durch seine Historie noch spürbar zwischen Ost und West.

Mit ihrem Mann bemüht sich Tessmar-Raible um eine gerechte Aufteilung der Zeit auf die wissenschaftliche wie familiäre Arbeit. Das Paar hat drei gemeinsame Kinder. „Wir haben beide chronisch zu wenig Zeit. Aber welches Leben ist perfekt?“ – kommentiert Tessmar-Raible die persönlichen Herausforderungen mit Gelassenheit. Der Vorteil der ähnlichen Forschungsarbeit (ihr Mann hat sich auf die Hormone des Platynereis dumerilii spezialisiert) bestehe darin, sich auch schon mal um drei Uhr in der Früh über wissenschaftliche Theorien austauschen zu können, erzählt Tessmar-Raible mit Amüsement. „Man macht ja als Wissenschafter das Hobby zum Beruf. Und wenn man das gemeinsam mit dem Partner ausleben kann, macht es richtig Spaß.“

Ein Merkmal der Grundlagenforschung sieht Tessmar-Raible darin, dass Erkenntnisse manchmal ganz unerwartet entstehen. „Große Entdeckungen kündigen sich bekannterweise meistens nicht mit einem lauten Heureka an, sondern mit dem Gedanken, dass da etwas Komisches stattfindet.“ Passe das Experiment nicht zur Hypothese, müsse man eben den Mut haben, die Hypothese umzuwerfen. Mit Widersprüchen umzugehen sei Teil der Wissenschaft.

Im Rhythmus bleiben

Tessmar-Raible selbst verweist immer wieder darauf, dass andere Kollegen intensiver zu circadianen Rhythmen forschen als sie selbst. Sie selbst befasst sich neben den lunaren auch mit den Tages- und Jahresrhythmen. Ein Leben gegen den inneren Rhythmus – immerhin gibt es zumindest im Bereich der Tages-Uhr verschiedene Chronotypen – vergleicht sie mit der Noxe des Rauchens: „Das Risiko, durch eine aus dem Takt geratene innere Uhr zu erkranken ist bei jedem Betroffenen erhöht. Es reagieren nur nicht alle gleich mit einer Erkrankung.“ Ob eine Störung reversibel ist, hänge vom Ausmaß des Schadens ab. Es sei aber – wie beim Rauchen – immer sinnvoll, sich auf ein gesundes Leben umzustellen. Generell, so Tessmar-Raible, zeige die Gesellschaft viel zu wenig Respekt und Dankbarkeit jenen Menschen gegenüber, die zum Wohle der anderen ihren inneren Rhythmus aus dem Gleichgewicht bringen: den Schichtarbeitern, Bäckern, Müllmännern, Pflegenden – und nicht zuletzt den Ärztinnen und Ärzten. Sie alle riskierten dafür ihre Gesundheit.

Tessmar-Raible selbst ist vor allem jenen Menschen dankbar, die ihr die wissenschaftliche Karriere ermöglicht haben: den Unterstützern im fachlichen wie familiären Bereich. Selbst wenn sie unbegrenzt Ressourcen zur Verfügung hätte, würde sie genau jene Forschung betreiben, der sie sich gerade widmet. „Ich würde nur die Experimente massiv ausbauen. Zu den lunaren Rhythmen gibt es ja noch so viele offene Fragen …“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2022