Nahrungsmangel in den USA – Die Krise in der Krise

25.05.2022 | Politik

Rund zehn Prozent aller Haushalte in den USA konnten schon vor der Corona-Pandemie ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln nicht decken. Durch die Pandemie hat sich die Lage dramatisch zugespitzt: Nun ist es fast ein Viertel aller Haushalte. Vor allem Kinder sind betroffen. Die Regierung steuert mit Hilfsprogrammen dagegen.

Nora Schmitt-Sausen

In den ersten Monaten der Corona-Pandemie sah man in den USA Bilder, die sich eingeprägt haben: lange Menschenschlangen vor den Türen von Food Banks – Hilfsorganisationen, die Bürger mit kostenlosem Essen versorgen. Überproportional betroffen waren jene, die ohnehin schon unter Hunger gelitten hatten: Afro-Amerikaner, Angehörige von Minderheiten, Familien mit Kindern, Studenten, Senioren. Doch in die Hilfesuchenden reihten sich Menschen ein, die in ihrem Leben noch nie zuvor um Lebensmittel bitten mussten. Der Grund: Die Pandemie kostete im Frühjahr 2020 innerhalb kürzester Zeit 14 Millionen Amerikaner ihre Jobs. Teilweise waren sie von einem auf den anderen Tag ohne Einkommen – und nicht mehr in der Lage, sich und ihre Familien zu versorgen.

Schon vor Corona war die Zahl derer, die nicht genügend Essen hatten, um ein gesundes Leben zu führen, hoch: Im Jahr 2019 verfügten laut des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) 10,5 Prozent aller US-amerikanischen Haushalte – mehr als 35 Millionen Menschen – nicht über ausreichend Lebensmittel, um ihren täglichen Bedarf zu decken. Mit Beginn der Pandemie spitzte sich die Lage dramatisch zu. Laut einer Untersuchung der Northwestern University betrafen Ernährungssorgen in den ersten Pandemie-Monaten im Jahr 2020 fast ein Viertel aller US-amerikanischen Haushalte. Feeding America, die größte Hilfsorganisation, die sich des Themas Hunger in den USA annimmt, prognostizierte zwischenzeitlich sogar, dass mehr als 50 Millionen US-Amerikaner nicht genug Essen auf dem Tisch haben werden. Vor allem davon betroffen sind die Kinder. Vor der Pandemie lebten fünf Millionen Kinder in Haushalten, in denen kein gesicherter Zugang zu ausreichend Lebensmitteln gewährleistet war. Dies entspricht 13,6 Prozent aller Haushalte, in denen Kinder leben (Zahlen: USDA).

Verschiedenen Schätzungen zu Folge wie etwa von der Harvard T.H. Chan School of Public Health verdoppelte sich diese Zahl im Laufe der Pandemie und lag Ende 2020 bei 28 Prozent. Dies entspräche 14 Millionen Kindern, die Hunger litten. Anderen Berechnungen zufolge sind bis zu 18 Millionen Kinder betroffen. In jedem Fall führte die Pandemie dazu, dass Nahrungsmittelunsicherheit bei Kindern in den USA „auf den höchsten Level seit Jahrzehnten“ angewachsen war, analysierten die Autoren der Harvard-Studie.

Dünnes Sozialnetz sichtbar

Das Ausmaß der Ernährungskrise brachte einmal mehr das dünne amerikanische Sozialnetz zum Vorschein – sorgte aber für ungewöhnlich energisches Handeln in Washington. Die Regierung des Demokraten Joe Biden konnte mehrere Initiativen und Maßnahmen auf den Weg bringen, die darauf abzielten, die US-Bürger mit dem Nötigsten zu versorgen: Essen.

Einige Beispiele: Durch eine Ausweitung des Supplemental Nutrition Assistance-Programs (SNAP) wurde es mehr US-Amerikanern ermöglicht, staatliche Unterstützung für den Kauf von Nahrungsmitteln zu erhalten. Milliarden Extra-Dollar flossen in das Emergency Food Assistance Program, durch das Food Banks landesweit 2,5 Milliarden kostenlose Mahlzeiten ausgeben konnten. Kinder und Jugendliche wurden durch das National School Lunch-Program selbst in Zeiten von geschlossenen Schulen mit einem Gratis-Mittagessen versorgt (siehe Kasten). Weitere Corona-Hilfsmaßnahmen wie Steuererleichterungen für Familien mit Kindern und ein Blanko-Scheck half vielen, über die Runden zu kommen.

Experten sind sich einig, dass eine noch größere Hungerkrise durch die staatliche Unterstützung verhindert werden konnte. Dies zeigten auch die Zahlen: Im Jahr 2021 stabilisierten sie sich wieder. Mehr noch: Vor allem Haushalten mit niedrigem Einkommen und vielen ansonsten stark gefährdeten Gruppen wie Familien mit Kindern, Seni

Doch der Trend geht in eine klare Richtung: Nach dem Auslaufen vieler Corona-Hilfen fehlt es in Millionen von US-amerikanischen Haushalten wieder an ausreichend Nahrung, um ein gesundes, aktives Leben führen zu können. Mitte März 2022 meldeten 21,7 Millionen Haushalte unter der Woche Nahrungsmittelknappheit, darunter waren fast 10,7 Millionen Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren“, heißt es in der Analyse von CAP.

Die Befürworter von weiteren Staatshilfen sehen die Argumente klar auf ihrer Seite: Die anhaltende Pandemie, unterbrochene Lieferketten, Lebensmittelknappheit, Inflation und hohe Energiepreise mache das Leben für alle – und besonders für jene am Rande der Gesellschaft – nicht einfacher. Staatliche Unterstützung etwa durch ein kostenloses Schulessen für Kinder und Jugendliche bedeute für viele, eine entscheidende Alltagssorge weniger zu haben.

Gesunde Ernährung unerlässlich

Dass gesunde Ernährung von entscheidender Bedeutung ist, daran gibt es auch in den USA keine Zweifel. „Eine gesunde Ernährung, reich an Obst und Gemüse und gering an Zucker und kalorienreichen, verarbeiteten Lebensmitteln ist für die Gesundheit unerlässlich“, schreibt eine Gruppe von Ärzten und Forschern 2020 in einem Beitrag im New England Journal of Medicine. Angesichts der Corona-Pandemie beschäftigten sich die Wissenschafter mit dem Nahrungsmittelmangel und der schlechten Ernährung der US-amerikanischen Gesellschaft. In dem im NEJM veröffentlichten Beitrag heißt es weiter: „Die Fähigkeit, sich gesund zu ernähren, wird weitgehend durch den Zugang zu erschwinglichen, gesunden Lebensmitteln bestimmt.“ Und dieser Zugang sei an die Bedingungen und die Umgebung geknüpft, in der man lebe. Wie viele andere Ärzte und Gesundheitsexperten fordern die Autoren, dass das US-amerikanische Gesundheitssystem mehr dafür tun müsse, gesundheitliche Ungleichheiten innerhalb der Bevölkerung auszugleichen. Der Mangel an Zugang zu – gesunden – Lebensmitteln sei ein dringend zu lösendes Problem, um die Gesundheit der Bürger zu schützen.


Die gesündeste Mahlzeit des Tages

Nahezu 30 Millionen US-amerikanische Kinder und Jugendliche waren vor Corona berechtigt, ein kostenloses oder preisreduziertes Mittagessen an der Schule zu erhalten. Als die Pandemie das Land traf, fehlte vielen von ihnen diese Mahlzeit, denn die meisten Schulen blieben in den USA über viele Monate geschlossen.

Eine zentrale Unterstützung der Corona-Maßnahmen der Biden-Regierung zielte deshalb darauf ab, Kinder und Jugendliche auch in dieser Zeit mit einem Mittagessen zu versorgen. Statt in der Schule zu essen, konnten sie sich ihr Schulessen abholen.

Da der Bedarf so groß war, konnten im noch laufenden Schuljahr 2021/2022 sogar alle Schüler – unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund – ein kostenloses Mittagessen erhalten. Dieser Schritt wird als Gegenpol gesehen, um in Zeiten wegfallender Corona-Hilfen Ernährungsdefizite bei Kindern und Jugendlichen aufzufangen. Noch bis zum Sommer wird das Schulessen kostenfrei bleiben. Ob es dann nochmals eine Verlängerung gibt, darüber wird aktuell gerungen.

Die Politiker beider Parteien wissen um die Bedeutung des Schulessens. Wie wichtig für viele US-amerikanische Kinder und Jugendliche das Essen ist, das sie in der Schule erhalten, hatte sich schon vor der Pandemie gezeigt. Studien zufolge nahmen viele Kinder in den traditionell langen amerikanischen Sommerschulferien von zwei bis drei Monaten stark an Gewicht zu. Der Grund: Viele Schüler erhalten in der Schule ausgewogenere Mahlzeiten als zu Hause, essen nur zu festgelegten Zeiten und nehmen über den Tag verteilt keine Snacks zu sich. Für viele US-amerikanische Kinder und Jugendliche ist das Schulessen die gesündeste Mahlzeit des Tages.

Die „Lebensmittelwüsten“ der USA

Sechs Prozent der US-Amerikaner – und damit knapp 19 Millionen Bürger – leben laut Angaben des Landwirtschaftsministeriums in Regionen, in denen gesunde frische Lebensmittel wie Obst und Gemüse nur schwer oder gar nicht erhältlich sind. Diese Regionen sind im Land als „Food Desert“ (Lebensmittelwüste) bekannt. Sehr häufig befinden sich diese in armen Landesteilen der USA. Dazu kommt ein weiteres Problem: Die wenigen frischen Nahrungsmittel, die dort erhältlich sind, kosten oft weit mehr als in einem Supermarkt, der in einem erschlossenen Gebiet liegt.

Im Umkreis von Städten gilt als Lebensmittelwüste, wenn der nächste Supermarkt für einen signifikanten Teil der Bevölkerung eine Meile entfernt ist. Auf dem Land spricht man von einer Lebensmittelwüste, wenn Lebensmittel innerhalb von zehn Meilen nicht erhältlich sind.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2022