Men­tale Gesund­heit in den USA: Die Bürde der Psyche

10.06.2022 | Politik

Die Corona-Pan­de­mie hat in den USA zu einem dra­ma­ti­schen Anstieg der Angst­stö­run­gen, Depres­sio­nen und Sui­zide geführt. Beson­ders wenig resi­li­ent gegen­über den durch die Pan­de­mie beding­ten Ver­än­de­run­gen sind nicht die älte­ren Men­schen, son­dern vor allem junge US-Bürger.

Nora Schmitt-Sau­sen

Psy­chi­sche Pro­bleme sind häu­fig in den USA: Fast einer von fünf erwach­se­nen Ame­ri­ka­nern lebt mit einer men­ta­len Erkran­kung. Das ent­spricht 52,9 Mil­lio­nen Men­schen (Quelle: Sub­s­tance Abuse and Men­tal Health Ser­vice Admi­nis­tra­tion, 2020). Diese Zah­len zei­gen: Schon vor der Corona-Pan­de­mie waren psy­chi­sche Pro­bleme ein häu­fi­ges Phä­no­men im Land. Ein Autoren­team der Denk­fa­brik Broo­kings Insti­tu­tion for­mu­liert es in einem Bei­trag im April 2022 so: „In den USA war die Pan­de­mie ein bei­spiel­lo­ser Schock für die Gesell­schaft zu einer Zeit, als die Nation bereits mit viel Ver­zweif­lung und damit ver­bun­de­nen Todes­fäl­len durch Sui­zide, Über­do­sen und Alko­hol­ver­gif­tun­gen fer­tig wer­den musste.“ Erste Stu­dien zei­gen nun die Aus­wir­kun­gen der Pan­de­mie auf die US-ame­ri­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung – und diese sind nega­tiv für die Psyche.

Die renom­mierte Kai­ser Family Foun­da­tion (KFF) ermit­telte, dass die Zahl der Men­schen, die über Sym­ptome einer Angst­stö­rung und/​oder Depres­sion berich­te­ten, von elf Pro­zent im Januar 2019 auf 41 Pro­zent im Januar 2021 gestie­gen ist. Ähn­li­ches fan­den For­scher des Bos­ton Col­lege her­aus: In den ers­ten neun Mona­ten der Pan­de­mie hät­ten US-Ame­ri­ka­ner sechs­mal höhere Depres­si­ons- und Ang­st­ra­ten gemel­det als im Jahr 2019. Aus­wer­tun­gen von Daten der US-Regie­rung zei­gen, dass im ers­ten Pan­de­mie­jahr vier von zehn Erwach­se­nen an Angst­zu­stän­den oder Depres­sio­nen lit­ten. Zum Ver­gleich: Vor der Pan­de­mie war es einer von zehn Erwachsenen.

Es gibt wei­tere Indi­ka­to­ren dafür, dass die Corona-Pan­de­mie zur psy­chi­schen Beein­träch­ti­gung bei vie­len US-Ame­ri­ka­nern geführt hat. „Die Nut­zung von ver­schrei­bungs­pflich­ti­gen Medi­ka­men­ten und Bera­tungs­diens­ten sowie der unge­deckte Bedarf an psych­ia­tri­schen Diens­ten stieg (…) deut­lich an“, schrei­ben die Autoren des Bos­ton Col­lege in einem Bei­trag im Maga­zin Trans­la­tio­nal Beha­vi­oral Medi­cine von Okto­ber 2021. Laut den Cen­ters for Dise­ase Con­trol und Pre­ven­tion (CDC) star­ben im Jahr 2020 in den USA 46.000 Men­schen durch Sui­zid. Nicht wenige Exper­ten rech­nen damit, dass diese Zah­len stei­gen wer­den, da Unter­su­chun­gen aus frü­he­ren Kata­stro­phen­si­tua­tio­nen dar­auf hin­deu­ten, dass sich Sui­zid­ra­ten in Kri­sen­zei­ten sta­bi­li­sie­ren oder gar sin­ken – um zu stei­gen, wenn Lang­zeit­fol­gen der Kri­sen­zeit sicht­bar werden.

Mit Blick auf die seit Jah­ren gras­sie­rende Opioid-Krise im Land hat die Corona-Pan­de­mie zu einer wei­te­ren Eska­la­tion geführt. Die Todes­zah­len befin­den sich auf einem Rekord­hoch. Laut CDC star­ben von Mai 2020 bis April 2021 mehr als 100.000 Men­schen an einer Über­do­sis Dro­gen. Für das gesamte Jahr 2021 ver­mel­dete die Behörde einen neuen Höchst­wert mit 108.000 Dro­gen­to­ten, was sie auf die Corona-Pan­de­mie zurück­führt. „Die COVID-19-Pan­de­mie und die dar­aus resul­tie­rende wirt­schaft­li­che Rezes­sion haben sich nega­tiv auf die psy­chi­sche Gesund­heit von vie­len Men­schen aus­ge­wirkt und neue Barrie-
ren für Men­schen geschaf­fen, die bereits an psy­chi­schen Erkran­kun­gen und Sucht­er­kran­kun­gen lei­den“, heißt es in einem KFF-Bericht vom Februar 2021. Dabei hat­ten die Autoren die Aus­wir­kun­gen der Corona-Pan­de­mie auf die men­tale Gesund­heit der US-Ame­ri­ka­ner untersucht.

Junge Men­schen beson­ders gefährdet

Anläss­lich des Men­tal Health Awa­re­ness Month im Mai 2022 warnt die Natio­nal Alli­ance on Men­tal Health vor einer „wach­sen­den Krise“ und „schwer­wie­gen­den und lang­an­hal­ten­den“ Fol­gen der Corona-Pan­de­mie für die men­tale Gesund­heit der US-Bevöl­ke­rung. Beson­ders wenig resi­li­ent gegen­über den Ver­än­de­run­gen und Her­aus­for­de­run­gen durch die Pan­de­mie zeigt sich nicht etwa die durch das Corona-Virus beson­ders stark gefähr­dete ältere Gene­ra­tion, son­dern vor allem junge US-Amerikaner.

In meh­re­ren Stu­dien konnte gezeigt wer­den, dass wäh­rend der Pan­de­mie bei vie­len jun­gen Erwach­se­nen Angst­zu­stände, Depres­sio­nen, Schlaf­stö­run­gen und Sui­zid­ge­dan­ken zuge­nom­men haben. Ein mög­li­cher Grund: Beson­ders junge Men­schen muss­ten eine Reihe von Pan­de­mie-beding­ten Fol­gen durch­le­ben wie bei­spiels­weise die Schlie­ßung von Uni­ver­si­tä­ten, Iso­la­tion durch Home office sowie Ein­kom­mens- und Beschäf­ti­gungs­ver­luste. So berich­te­ten laut einer Umfrage der CDC vom Dezem­ber 2020 ins­ge­samt 56 Pro­zent der 18- bis 24-Jäh­ri­gen von Sym­pto­men wie Angst­zu­stän­den oder Depres­sio­nen. In der Alters­gruppe 65+ waren es ledig­lich 29 Pro­zent. Bereits im Juni 2020 ver­öf­fent­li­che die Behörde Daten, wonach einer von vier Erwach­se­nen im Alter zwi­schen 18 und 24 Jah­ren ernst­hafte Sui­zid­ge­dan­ken hatte. Jeder vierte junge Erwach­sene griff wäh­rend der Pan­de­mie außer­dem häu­fi­ger zu sti­mu­lie­ren­den Sub­stan­zen wie Alko­hol oder Drogen.

Auch Monate spä­ter wurde deut­lich, dass die Pan­de­mie Spu­ren hin­ter­lässt. Laut dem Har­vard Youth Poll der Har­vard Uni­ver­sity im Früh­jahr 2021 sag­ten 51 Pro­zent der befrag­ten jun­gen US-Ame­ri­ka­ner, sich in den letz­ten zwei Wochen an min­des­tens meh­re­ren Tagen nie­der­ge­schla­gen, depres­siv oder hoff­nungs­los gefühlt zu haben. 19 Pro­zent geben an, dass sie sich mehr als die Hälfte der Zeit so füh­len. 68 Pro­zent haben wenig Ener­gie. 59 Pro­zent geben Schlaf­stö­run­gen an. 52 Pro­zent haben wenig Freude. 49 Pro­zent haben einen schlech­ten Appe­tit oder essen zu viel. 48 Pro­zent nen­nen Kon­zen­tra­ti­ons­schwie­rig­kei­ten. 32 Pro­zent bewe­gen sich so lang­sam oder sind so zap­pe­lig, dass andere es bemer­ken – und 28 Pro­zent dach­ten an Selbstverletzung.

Ein Jahr spä­ter, im April 2022, zeigte sich so gut wie keine Ver­bes­se­rung in die­ser Umfrage – und das, obwohl sich das Leben wie­der nor­ma­li­siert und viele COVID-19-Vor­schrif­ten weg­ge­fal­len sind. „Trotz der Auf­he­bung der COVID-19-Beschrän­kun­gen gibt es prak­tisch keine Ver­bes­se­rung der psy­chi­schen Gesund­heit jun­ger Ame­ri­ka­ner. Eine Mehr­heit (52 Pro­zent) berich­tet von Depres­sio­nen oder Hoff­nungs­lo­sig­keit und 24 Pro­zent von Gedan­ken an Selbst­ver­let­zung. 71 Pro­zent stim­men zu, dass es in Ame­rika eine Krise der psy­chi­schen Gesund­heit gibt“, heißt es in dem neuen Report, für den im März 2022 mehr als 2.000 US-Ame­ri­ka­ner im Alter zwi­schen 18 und 29 Jah­ren befragt wur­den. Etwa ein Vier­tel der Befrag­ten kennt einen Gleich­alt­ri­gen oder ein Fami­li­en­mit­glied, das Sui­zid began­gen hat.

Vul­nerable Gruppen
Neben jun­gen US-Ame­ri­ka­nern hat durch die Pan­de­mie auch die Psy­che derer gelit­ten, die ohne­hin häu­fig nicht sta­bil sind: die afro-ame­ri­ka­ni­sche US-Bevöl­ke­rung, Ange­hö­rige von Min­der­hei­ten und Haus­halte mit nied­ri­gem Ein­kom­men. Sie muss­ten einen unver­hält­nis­mä­ßi­gen Tri­but zah­len. Durch beschränkte soziale Mög­lich­kei­ten, Geld­man­gel, Gesund­heits­pro­bleme und kei­nen oder nur einen schlech­ten Zugang zum US-ame­ri­ka­ni­schen Gesund­heits­sys­tem waren diese Bevöl­ke­rungs­grup­pen beson­ders von der Corona-Pan­de­mie berührt.

Für eine wei­tere Gruppe scheint die Pan­de­mie beson­dere Aus­wir­kun­gen gehabt zu haben: Müt­ter, die im Lock­down fast aus­schließ­lich die Last von Schul­schlie­ßun­gen und feh­len­der Kin­der­be­treu­ung tru­gen. Die Kai­ser Family Foun­da­tion fand im Jahr 2021 her­aus, dass Frauen mit Kin­dern eher über Sym­ptome von Angst­zu­stän­den und/​oder Depres­sio­nen berich­te­ten (49 Pro­zent) als Män­ner mit Kin­dern (40 Pro­zent). Andere Stu­dien kom­men ebenso zum Ergeb­nis, dass beson­ders die men­tale Gesund­heit von jun­gen Frauen und Müt­tern stark gelit­ten hat.

Dass es um die Psy­che der US-Ame­ri­ka­ner mit dem – mög­li­chen – Abeb­ben der Pan­de­mie und dem Ein­grei­fen der Regie­rung (siehe Kas­ten) bald wie­der bes­ser bestellt ist, daran glau­ben Exper­ten nicht. Im Gegen­teil. In einer Umfrage der Ame­ri­can Asso­cia­tion von Anfang März 2022 gaben 63 Pro­zent der Erwach­se­nen an, dass ihr Leben durch die COVID-19-Pan­de­mie für immer ver­än­dert wurde. Es geht dabei vor allem um anhal­tende Nöte von gefähr­de­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen, Sor­gen von Eltern hin­sicht­lich der Ent­wick­lung ihrer Kin­der und Kon­se­quen­zen von un-gesun­den Gewohn­hei­ten zur Bewäl­ti­gung der Krise. Außer­dem seien die stei­gende Infla­tion und die rus­si­sche Inva­sion in der Ukraine wei­tere Stress­fak­to­ren für die Bevölkerung.



Feh­lende Res­sour­cen und unglei­cher Zugang

Wenn die Corona-Pan­de­mie eine posi­tive Sache bewirkt hat, dann diese: In den USA wird über men­tale Gesund­heits­pro­bleme weit­aus offe­ner gespro­chen als zuvor. Psy­chi­schen Erkran­kun­gen haf­tet nicht mehr das Stigma an, das sie jah­re­lang hat­ten. Auch auf poli­ti­scher Seite gibt es eine Ände­rung. In Washing­ton zeich­net sich ab, dass Poli­ti­ker von bei­den Par­teien die Zei­chen der Zeit erkannt haben und Geld zur Ver­fü­gung stel­len für die men­tale Gesund­heit der US-ame­ri­ka­ni­schen Bevölkerung.

Ein gra­vie­ren­des Pro­blem ist der Man­gel an Res­sour­cen. Es fehlt an Ein­rich­tun­gen und Behand­lern – und beson­ders für die beson­ders stark betrof­fe­nen Min­der­hei­ten am Zugang zur Ver­sor­gung. Kern­ele­mente der Vor­ha­ben der Regie­rung von Joe Biden zie­len des­halb dar­auf ab, den unge­deck­ten Bedarf und den sehr unter­schied­li­chen Zugang zur Ver­sor­gung zu verbessern.

Aktu­ell sind Unter­schiede und Defi­zite groß:
• Ledig­lich 45 Pro­zent der Men­schen mit einer dia­gnos­ti­zier­ba­ren psy­chi­schen Erkran­kung wer­den inner­halb eines Jah­res behan­delt. Die Behand­lungs­ra­ten sind bei Men­schen mit einer grö­ße­ren Krank­heits­schwere deut­lich höher. Sie liegt für Men­schen mit schwe­ren psy­chi­schen Erkran­kun­gen (Serious Men­tal Ill­ness, SMI) bei 65 Prozent.
• Ältere Erwach­sene mit psy­chi­schen Erkran­kun­gen wer­den häu­fi­ger behan­delt als junge Erwach­sene. 73 Pro­zent der Per­so­nen ab 50 Jah­ren mit einer Serious Men­tal Ill­ness sind in Behand­lung – ver­gli­chen mit 58 Pro­zent der Per­so­nen zwi­schen 18 und 25 Jahren.
• 69 Pro­zent der wei­ßen US-ame­ri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung mit einer Serious Men­tal Ill­ness wer­den psy­chisch betreut. Die Betreu­ungs­ra­ten von Schwar­zen, His­pano-Ame­ri­ka­nern und Asia­ten lie­gen zwi­schen 44 und 56 Prozent.
• Der­zeit feh­len schät­zungs­weise mehr als 6.200 qua­li­fi­zierte Fach­kräfte für die Behand­lung von men­tal kran­ken Menschen.
Quelle: USC-Broo­kings Schaef­fer on Health Policy, April 2022


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​10.06.2022