Lieferengpässe bei Medikamenten: Globale Produktion, globales Problem

15.12.2022 | Politik

Pandemie, Inflation und steigende Energiepreise sind nur einige Gründe für die Liefer- und Produktionsschwierigkeiten bei Arzneimitteln. Jede drohende Einschränkung führt zu einem Verbot von Parallelexporten – wie etwa aktuell bei Betablockern und Analgetika. Auch wird derzeit nahezu die Hälfte des benötigten Penicillins sowie mehr als die Hälfte aller Analgetika in Asien hergestellt.

Manuela-C. Warscher 

Das Zusammenspiel von Pandemie, steigenden Energiepreisen und hoher Inflation hat die Liefer- und Produktionsschwierigkeiten von Arzneimitteln in den letzten Monaten empfindlich verschärft. Waren im Jahr 2019 etwas mehr als 300 Arzneimittel betroffen, sind es derzeit bereits mehr als 500. Gar nicht verfügbar sind derzeit 200 rezeptpflichtige Arzneimittel – von den insgesamt mehr als 11.000, die in dieser Kategorie zugelassen sind.

Strategien gegen Engpässe

Wer stellt eigentlich den Bedarf an (rezeptpflichtigen) Arzneimitteln in Österreich sicher? Im Zuge der Arzneimittelzulassung verpflichten sich die Pharmaunternehmen, die ausreichende Versorgung des Marktes mit dem Arzneimittel sicherzustellen. Das Unternehmen kennt Produktion und Logistik des jeweiligen Präparates und kann mittels Planungsinstrumenten die Arzneimittelherstellung an den aktuellen Bedarf anpassen. Daher muss es auch Strategien entwickeln, um Engpässe zu vermeiden. Erkennt das Unternehmen eine drohende Einschränkung, muss es seit April 2020 jegliche Nichtverfügbarkeit, die „voraussichtlich mehr als zwei Wochen“ dauern wird, sowie jede eingeschränkte Verfügbarkeit, die länger als vier Wochen angenommen wird, verpflichtend an die heimische Arzneimittel-behörde melden. „Meldungen werden nach Bearbeitung am Folgetag (Anm. online) veröffentlicht“, heißt es vom Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen. Diese Behörde kann durch ein sogenanntes Verbot von Parallelexporten auch die Versorgung der inländischen Patienten gewährleisten. Dafür prüft sie neben Marktabdeckung, Patientenzahl, Verkaufszahlen, Bedarf und Lagerbestand auch „verfügbare potentiell alternative Arzneimittel“. Derzeit unterliegen mehr als 280 Arzneimittel – darunter Betablocker und Analgetika – einem Exportverbot und dürfen damit nicht in andere EU-Länder exportiert werden.

Ausgangsmaterialien fehlen

Nicht zuletzt wegen des Produktionsprozesses von Arzneimitteln sind Liefereinschränkungen den Aussagen von Experten aus dem Pharmabereich zufolge kein „Österreich-spezifisches“, sondern ein „globales“ Problem. Dabei behindern die Nichtverfügbarkeit von diversen Ausgangsmaterialien, ein akuter Mehrbedarf bestimmter Arzneimittelgruppen, aber auch die Auslagerung nach Asien oder Indien die Produktion. Dazu Univ. Prof. Michael Freissmuth vom Institut für Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien: „Werden diverse Vorläuferprodukte in der Inneren Mongolei synthetisiert und aufgrund nicht-eingehaltener Standards häufig kontaminiert, dann fallen gleich mehrere Chargen aufgrund von Rückrufen oder Produktionsausfällen aus.“ Laut dem deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind 90 Prozent der Lieferengpässe von Arzneimitteln das Resultat von Qualitätsmängeln in der Produktion. So suspendierte das BfArM beispielsweise vor einigen Jahren aufgrund von bekannt gewordenen Unregelmäßigkeiten bei Bioäquivalenzstudien des indischen Unternehmens GVK Bioscience vorübergehend die Zulassung von 80 Arzneimitteln.

Dazu kommt, dass in die Produktion eines Arzneimittels in der Regel mehrere Hersteller und Zulieferer involviert sind. Treten nun Probleme „welcher Art auch immer“ (Freissmuth) bei einem Hersteller auf, betrifft das automatisch andere Produzenten, die durchaus liefern könnten. Um Produktionsausfälle zu kompensieren, müssten diese nämlich „gleich um fast die Hälfte“ mehr liefern. „Und so kann es zu einer Verknappungssituation kommen, wie wir sie derzeit in Österreich haben, obwohl die Lagerhaltung des vollsortierten Großhandels viele Ausfälle kompensieren kann“, erklärt Andreas Windischbauer vom Verband der Österreichischen Arzneimittelvollgroßhändler (PHAGO) den komplexen Produktions- und Logistikkreislauf. So wird beispielsweise nahezu die gesamte Menge des benötigten Penicillins sowie mehr als die Hälfte aller Analgetika in Asien hergestellt.

Problem: Lagerhaltung

Um die Lagerkosten zu senken, setzen die Produzenten außerdem vermehrt auf Just-in-time-Produktion, wodurch Reserven wegfallen. Das wiederum wirkt sich nachhaltig auf die Planbarkeit aus. „Wir haben die hohe frühere Planbarkeit verloren und müssen spontan bei immer mehr eingeschränkt verfügbaren Arzneimitteln reagieren“, so Windischbauer. Dabei könnte ein Teil durch Lagerhaltung in Österreich abgefangen werden. „Ein Viertel aller Pharmaunternehmen hat hierzulande überhaupt kein Lager mehr“, weiß Windischbauer. Folglich treffen Logistikschwachstellen nicht nur in Übersee wie beispielsweise die Blockade des Suezkanals vor eineinhalb Jahren, sondern auch in den Nachbarländern die Arzneimittelverfügbarkeit in Österreich mit voller Wucht. „Während der Lockdowns mussten wir erkennen, dass es nicht immer der Lockdown in China sein muss. Damals haben wir bereits Schwierigkeiten gehabt, Arzneimittel aus Holland oder Italien wegen der Brennersperre zu bekommen“, erinnert sich Windischbauer.

Vor diesem Hintergrund lägen dann auch die Lösungsansätze, um Engpässe in den Griff zu bekommen, auf der Hand. „Die Produktion muss wieder verstärkt in Europa erfolgen, die Transparenz hinsichtlich Lieferfähigkeit verbessert und die österreichischen Lagerkapazitäten müssen ausgeweitet werden“, fasst Windischbauer zusammen. Außerdem müsse die Preisgebung „überarbeitet werden“, denn „die günstige Aufschlaggruppe von bis zu sechs Euro hat sich seit 20 Jahren nicht geändert, beträfe aber fast drei Viertel der Arzneimittel“. Geforderte Preissenkungen führten zu Rationalisierungen, in weiterer Folge zu Fusionen und Verlagerung der Unternehmen in andere Länder – „und die Kettenreaktion beginnt von vorne“. Daher wäre auch ein Krisenlager – „in Vorarlberg und Salzburg gab es bereits welche“ –, wo bestimmte Arzneimittel für zwei bis vier Wochen bevorratet werden, sinnvoll. „Es ist derzeit nicht absehbar, wann ein solches standardmäßig und österreichweit implementiert werden wird“, so Windischbauer. Ziel wäre es, jene Arzneimittel, deren Austauschbarkeit nicht oder schwer gegeben ist wie etwa Antibiotika oder Psychopharmaka dort in ausreichenden Mengen zu bevorraten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2022