Israel: Mitten in der 5. Welle

10.02.2022 | Coronavirus, Politik

Lange weltweit führend bei den Erst- und Zweitimpfungen, galt Israel zunächst als vielbewundertes Vorbild. Inzwischen hat die fünfte Welle in Israel ihren Höhepunkt erreicht. Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung hat sich im Januar mit Corona infiziert. Experten rechnen mit einer Wende in Richtung endemische Phase.

Win Schumacher

Der zentrale HabimaSquare in Tel Aviv ist so voll wie schon lange nicht mehr. An der kleinen Grünanlage mitten im Herzen der Großstadt genießen junge Familien die frühlingshaften Temperaturen. Kleinkinder drängen sich im großen Sandkasten. Ihre Eltern unterhalten sich daneben in kleinen Grüppchen. Gleich drei Menschenschlangen warten vor dem Habima-Theater, einer vor kurzem neueröffneten Bäckerei und einem weißen Zelt, in dem Antigen-Schnelltests zum Freitesten aus der Quarantäne durchgeführt werden. Die entspannte Stimmung und die ein wenig verstreuten Menschenansammlungen erwecken kein bisschen den Eindruck, man befinde sich in einem Land mit einer der höchsten COVID 19-Infektionsraten der Welt. Israel erreicht Ende Januar fast Tag für Tag einen neuen Rekordwert (Stand: 24. Jänner).

Fast eine Million der 9,4 Millionen Israelis wurde seit Anfang Januar dieses Jahres positiv getestet. Forscher gehen jedoch davon aus, dass sich etwa drei Millionen im Laufe der von der Omikron-Variante bestimmten fünften Welle infizierten, eine der höchsten Raten weltweit. Mehr als 83.088 Fälle – Tendenz in den Tagen zuvor steigend – wurden zuletzt täglich registriert, Anfang Januar waren es noch unter 10.000. 23,23 Prozent aller Tests waren nach Angaben des Gesundheitsministeriums Ende Januar positiv. Die Reproduktionszahl wurde Anfang des Jahres mit über 2,0 angegeben, fällt aber seither kontinuierlich. Die Zahl der Schwererkrankten lag zuletzt bei über 800, Ende Dezember waren es noch weniger als 100. Im Gegensatz zu den vorigen Wellen waren zunächst nur einzelne Personen mit/an einer Corona-Infektion verstorben; ihre Anzahl stieg Ende Januar aber auf mehr als 20 täglich. Seit Beginn der Pandemie starben mehr als 8.400 Israelis mit/an der Infektion, mehr als 190 davon im Januar. Die Mehrheit der Patienten, die sich in einem kritischen Zustand befinden, sei über 60, von ihnen mehr als 90 Prozent ungeimpft, berichtete die Tageszeitung Ha‘aretz. „Die geimpften Patienten sind ältere Menschen mit zusätzlichen Erkrankungen“, sagt Prof. Amit Assa vom Jerusalemer Shaare Zedek-Krankenhaus.

Kombination verschiedener Impfstoffe

Einer aktuellen israelischen Studie zufolge verfünffacht sich der Antikörperspiegel nach einer vierten Impfdosis. Studienleiterin Prof. Gili Regev bezeichnet die vorläufigen Ergebnisse als „gut, aber nicht ausreichend“. Anfang Januar erhielten in einer weiteren Studie im Shiba-Krankenhaus über 60-Jährige nach drei Dosen des Biontech/Pfizer-Vakzins eine vierte Impfung mit Moderna. Es ist weltweit der erste Versuch dieser Art mit kombinierten Impfstoffen. Wie erfolgreich diese vor einer Infektion schützt und ob sie für alle Altersgruppen sinnvoll ist, darüber gibt es bisher nur wenig Informationen. Israelis, die älter als 60 Jahre sind, können sich seit Jahresbeginn zum vierten Mal impfen lassen.

Rund 62 Prozent der Israelis gelten als vollständig geimpft. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums haben etwa 4,5 Millionen Israelis die dritte Impfung erhalten, rund 600.000 (Stand 24.01.) die vierte. Als zweites Land der Erde nach Kuba begann Israel, auch Kleinkinder zu impfen. Ab Mitte November des Vorjahres erhielten bereits Fünfjährige ihre erste Impfdosis. 15 Prozent der über 20-Jährigen sind jedoch noch nicht geimpft. Diese Gruppe macht fast 50 Prozent der schwerwiegenden Fälle aus.

Seit Ende November hatte das Land als eines der ersten weltweit versucht, durch eine frühzeitige Grenzschließung für ausländische Reisende aus fast allen afrikanischen Ländern eine schnelle Ausbreitung der Omikron-Variante zu verhindern. Wenig später wurden auch zahlreiche europäische Länder, die USA und Kanada auf eine „rote Liste“ gesetzt. Die Ausreise in die als „rot“ geltende Staaten war Israelis verboten. Für Reiserückkehrer galten harsche Quarantäneregelungen. Seit Mitte Dezember 2021 wurde diese Liste täglich aktualisiert; binnen 72 Stunden wurde ein derartiger Reisebann für ein Land umgesetzt.

Mitte Januar vollzog die Regierung jedoch angesichts der unaufhaltsamen Ausbreitung von Omikron einen Strategiewechsel. Die Zahl der Fälle derer, die sich bei aus dem Ausland Eingereisten angesteckt hatten, wurde zuletzt mit weniger als fünf Prozent angegeben. Die „rote Liste“ wurde schließlich ganz aufgehoben. Israelis können nun wieder weltweit reisen. Geimpfte müssen vor der Rückkehr einen PCR-Test durchführen und nach einem weiteren Test bei der Ankunft in Israel zuhause oder im Hotel auf das Ergebnis warten, das in der Regel in weniger als 24 Stunden vorliegt. Damit ist ihre Quarantäne beendet. Offensichtlich scheint die Regierung darauf zu hoffen, dass das Land sich langsam in Richtung Herdenimmunität bewegt und im Februar eine Entwicklung in eine endemische Phase einsetzt.

Seit 9. Januar ist eine Einreise für Touristen aus fast allen Staaten wieder möglich. Sie müssen jedoch eine vollständige Immunisierung mit einem von der Weltgesundheitsorganisation zugelassenen Impfstoff nachweisen. Bei der Einreise gelten die gleichen Quarantäneregelungen wie für Israelis. Seit März 2020 hatte Israel mit Ausnahme von wenigen Wochen seine Grenzen für Touristen, im vergangenen Winter zeitweise sogar für eigene Staatsbürger, geschlossen.

Israel war im Frühjahr 2020 zunächst glimpflich durch die Pandemie gekommen, die zweite Welle im Herbst und vor allem die dritte im Dezember und Januar trafen das Land jedoch besonders hart. Dem setzte Israel eine entschlossene Impfstrategie entgegen. Lange weltweit führend bei den Erst- und Zweitimpfungen, galt Israel zunächst als vielbewundertes Vorbild. Die Pandemie schien im Juni 2021 nahezu beendet. Selbst die Atemschutzmasken waren bereits weitgehend aus dem Leben verschwunden, bis Delta sie im Herbst 2021 wieder zum allgegenwärtigen Teil des Alltags machte.

Die Israelis gehen in der fünften Welle durch die Omikron-Variante recht unterschiedlich mit den sich erneut ständig ändernden Corona-Regelungen um. Sie nehmen sie lethargisch bis gereizt auf und passen sie mehr oder minder ihrem persönlichen Alltag an. Schulklassen und Kindergärten schließen und öffnen wieder in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit. Ende Jänner befanden sich mehr als 190.000 Israelis in Quarantäne, darunter fast 10.000 Mitarbeiter – davon 1.150 Ärzte und etwa 2.700 Krankenschwestern und Pfleger in medizinischen Einrichtungen. Dass die Quarantäne zuletzt allgemein auf fünf Tage verkürzt wurde, halten viele Ärzte für nur wenig hilfreich.

Corona-Maßnahmen ermüden

Nachdem sich zu Jahresanfang vor den Testzentren teils stundenlang die PCR-Pflichtigen anstellen mussten, können sich nun auch Geimpfte und Genesene unter 60 Jahren mit einem Schnelltest zuhause aus der Quarantäne heraustesten. Apotheken und Drogeriemärkte meldeten bereits, dass Antigentests knapp oder ausverkauft sind. Maskenverweigerer neben erbosten Befürwortern, vor allem aber eine Menge von durch die Corona-Maßnahmen ermüdeten bis gleichgültigen Menschen bestimmen derweil weiter das Stadtbild in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv. Die Synagogen und Moscheen sind wieder voll. In den Cafés, Restaurants und Clubs wird trotz allem geflirtet, getrunken und getanzt. Und natürlich über die nächste Auslandsreise debattiert. Im Februar zurück nach New York? Im Frühjahr nach Griechenland auf Urlaub? Statt nach London nach Paris?

Forscher gehen davon aus, dass sich wie in anderen Staaten mit einer vergleichbaren Entwicklung während der Omikron-Welle im Laufe des Februars ein deutlicher Rückgang der Neuinfektionen abzeichnet. Eran Segal, Experte für Gesundheitsdaten am Weizmann-Institut in Rehovot, sieht bereits einen Rückgang der Fälle „Die Infektionen in Zusammenhang mit der Omikron-Variante haben sich ähnlich des Musters wie in anderen Ländern ausgebreitet“, sagte er Ende Januar, „Wir sehen bereits, dass die Zahlen bei den über 60-Jährigen rücläufig sind.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 03 / 10.02.2022