Gewalt – Ärzte als Zielscheibe

11.10.2022 | Politik

Die durch die Pan­de­mie beding­ten Unsi­cher­hei­ten und die Ohn­macht, die viele Men­schen dadurch erle­ben, sind – befeu­ert durch die sozia­len Medien – einige der Gründe, warum so viele Men­schen ihrem Unmut freien Lauf las­sen. So wer­den auch Ärz­tin­nen und Ärzte ver­mehrt zur Ziel­scheibe die­ser star­ken Emotionen.

Mar­tin Schiller

Dro­hun­gen, Beschimp­fun­gen und Anzüg­lich­kei­ten – die Palette der Über­griffe, denen Ärzte aus­ge­setzt sind, ist breit. „Die Pan­de­mie hat die Situa­tion ver­schärft“, berich­tet Bri­gitte Ettl, Prä­si­den­tin der Öster­rei­chi­schen Platt­form Patient:innensicherheit. Und wei­ter: „Diese Zeit birgt für viele Men­schen große Unsi­cher­hei­ten. Dadurch ver­stärkt sich die Ten­denz, sei­nem Unmut freien Lauf zu las­sen. Ärzte als eine in der Pan­de­mie sehr sicht­bare Gruppe wer­den damit ver­mehrt zur Ziel­scheibe.“ Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen der ver­gan­ge­nen Monate hät­ten tiefe Grä­ben hin­ter­las­sen. „Noch vor zehn Jah­ren hätte man sich nicht gedacht, inten­sive Gedan­ken über Sicher­heits­bar­rie­ren anstel­len zu müs­sen. Mitt­ler­weile ist das aber not­wen­dig“, berich­tet Ettl aus dem All­tag von Ärz­tin­nen und Ärz­ten sowohl in Ordi­na­tio­nen als auch im Spi­tal. Pro­bleme gäbe es nicht nur mit Pati­en­ten: Immer öfter seien Zwi­schen­fälle mit Ange­hö­ri­gen zu regis­trie­ren. Den Haupt­grund für die Zunahme der Gewalt ortet Ettl in den sozia­len Netz­wer­ken. „Auf Social media ist es sehr ein­fach, sei­nen Unmut zu äußern, weil man sich hin­ter der Anony­mi­tät oder Pseud­ony­men ver­ste­cken kann. Gleich­zei­tig sta­cheln sich Men­schen in Grup­pen auf die­sen Netz­wer­ken gegen­sei­tig an. Manch­mal wird das aggres­sive Ver­hal­ten dann ins per­sön­li­che Set­ting mitgenommen.“

Kein neues Phänomen

Bereits vor dem Aus­bruch der Corona-Pan­de­mie sahen sich Ärz­tin­nen und Ärzte in Öster­reich häu­fig mit Gewalt kon­fron­tiert. Eine 2019 unter nie­der­ge­las­se­nen All­ge­mein­me­di­zi­nern (mit Kas­sen­ver­trag) durch­ge­führte Online-Blitz-Umfrage der Wie­ner Ärz­te­kam­mer zeigte, dass 57 Pro­zent der Ärzte eine Zunahme von Gewalt und Aggres­sion ver­spür­ten. 80 Pro­zent gaben an, in den vor­an­ge­gan­ge­nen bei­den Jah­ren ver­bal bedroht wor­den zu sein, zehn Pro­zent kör­per­lich. Auch Zah­len aus Deutsch­land ver­deut­li­chen, dass die Lage schon vor eini­gen Jah­ren ernst war: Im deut­schen „Ärz­te­mo­ni­tor 2018“, der deutsch­land­weit größ­ten Befra­gung von nie­der­ge­las­se­nen Ärz­ten – durch­ge­führt von der Kas­sen­ärzt­li­chen Bun­des­ver­ei­ni­gung in Koope­ra­tion mit dem NAV-Virch­ow­bund -, heißt es, dass es täg­lich zu 75 Fäl­len von kör­per­li­cher und 2.870 Fäl­len von ver­ba­ler Gewalt kommt. Befragt wur­den rund 7.000 Ärzte. In einer bun­des­wei­ten Stu­die in Deutsch­land gaben im Jahr 2016 ins­ge­samt 73 Pro­zent der Haus­ärzte an, mit aggres­si­vem Ver­hal­ten von Pati­en­ten kon­fron­tiert gewe­sen zu sein. Rund ein Vier­tel hatte sogar schon schwer­wie­gende Aggres­sio­nen oder Gewalt erlebt. Vom an der Stu­die betei­lig­ten Insti­tut für All­ge­mein­me­di­zin der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Mün­chen hieß es dazu, dass Bedro­hungs­ge­fühle den Arbeits­all­tag vie­ler Ärzte beeinträchtigen.

Stra­te­gien erlernen

Wie kann man sich gegen diese Ent­wick­lun­gen wapp­nen? Ettl betont die Bedeu­tung von Dees­ka­la­ti­ons­trai­nings. Das Erler­nen sol­cher Stra­te­gien ist auch Bestand­teil einer Check­liste, die von der Platt­form Patient:innensicherheit erstellt wurde, um auf kri­ti­sche Fälle vor­be­rei­tet zu sein. Das the­ra­peu­ti­sche Han­deln sollte dem­nach sofort gestoppt wer­den, sobald der Arzt oder ein Mit­ar­bei­ter bedroht wer­den. Mög­li­che Flucht- und Deckungs­mög­lich­kei­ten soll­ten ana­ly­siert wer­den und ein Not­fall­knopf in Reich­weite sein. Außer­dem ist es wich­tig, ganz grund­sätz­lich zu über­prü­fen, ob ein aus­rei­chen­der Ver­si­che­rungs­schutz vor­han­den ist (Unfall, Betriebs­un­ter­bre­chung, Rechts­schutz). Der Punkt „Pro­ben Sie Ernst­fälle, um vor­be­rei­tet zu sein“ befin­det sich eben­falls auf der Liste, die unter https://www.plattformpatientensicherheit.at/presse/pdf/2014/Praeventionscheckliste.pdf zum Down­load zur Ver­fü­gung steht.

Haus­recht des Arztes

„Ein Arzt muss sich nicht alles gefal­len las­sen“, sagt Hon. Prof. Ger­hard Aigner, wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Insti­tut für Ethik und Recht in der Medi­zin der Uni­ver­si­tät Wien. „Er hat ein Haus­recht. Wenn auf­grund von Dro­hun­gen und bestimm­ten Emo­tio­nen das Ver­trau­ens­ver­hält­nis zum Pati­en­ten erschüt­tert ist, kann der Arzt die The­ra­pie abbre­chen und den Pati­en­ten aus der Pra­xis ver­wei­sen.“ Auch Aigner betont die Werk­zeuge der Dees­ka­la­tion. Gleich­zei­tig sei es aber auch wich­tig, „seine Mei­nung selbst­be­wusst zum Aus­druck zu brin­gen.“ Im Falle einer Eska­la­tion sollte man sich unver­züg­lich an die Sicher­heits­be­hörde wen­den. „Eine Anzeige stellt keine Ver­let­zung der ärzt­li­chen Ver­schwie­gen­heit dar.“

Ettl nennt eine wei­tere Mög­lich­keit, mit der sich Gewalt im Vor­feld ver­hin­dern lässt: den Pati­en­ten zur Kom­mu­ni­ka­tion zu ani­mie­ren. „Es ist wich­tig, dass wir Pati­en­ten Mut machen, aktiv Fra­gen zu stel­len und bei Unklar­hei­ten nach­zu­fra­gen. Das beugt Miss­ver­ständ­nis­sen und damit ver­bun­de­nen Kon­flik­ten vor.“ Auch einem Gefühl der Ohn­macht des Pati­en­ten könne man damit ent­ge­gen­wir­ken. Das sei nach Ansicht von Ettl „enorm wich­tig, denn Ohn­macht ist oft ein Grund für die Ent­ste­hung von star­ken Emotionen.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2022