Corona: Japan geht seinen eigenen Weg

25.02.2022 | Coronavirus, Politik

Trotz Voranmeldung tagelanges Warten auf einen PCR-Test und schlechte Erfahrungen mit solchen Tests bei Influenza – Japan hat sich für einen eigenen Weg bei der Bekämpfung der Pandemie entschieden. Was letztlich dazu führte, dass eine relativ niedrige Zahl an COVID-19-Erkrankten das Gesundheitssystem an den Rand eines Kollapses führte.

Marcin Pietraszkiewicz*

Das japanische Gesundheitssystem ist sehr spitalslastig und „kundenorientiert“. Einmal in Anspruch genommen, erwartet der japanische Patient eine sehr persönliche Rundumbetreuung und Service. Das Gesundheitssystem insgesamt ist ein Flickwerk von meist privaten Einrichtungen, die untereinander nicht vernetzt sind. Ein Hausärzte-System wie in den meisten europäischen Ländern ist nur teilweise etabliert. Mobile Dienste sind trotz der schnell alternden Bevölkerung weniger entwickelt als etwa in Mitteleuropa. Im Gesundheitsbereich gibt es kaum karitative Organisationen oder freiwillige Helfer.

Das ostasiatische Inselreich mit seinen 126 Millionen Einwohnern hatte sich von Beginn an für einen eigenen Weg bei der Bekämpfung der Pandemie entschieden. Alle symptomatischen Corona-Patienten – selbst jene mit leichten Beschwerden –wurden deshalb zunächst stationär betreut und blieben dort auch, als sie nicht mehr infektiös waren. Dadurch blockierten sie die Betten für andere schwer an COVID-19 Erkrankte. Das lag an der mangelnden Kooperation zwischen den Krankenhäusern, die anderenfalls eine rasche Verlagerung erlaubt hätte, aber auch an der schwerfälligen Bürokratie. Heimquarantäne war in Japan zunächst ein Tabuthema.

Angesichts der dramatischen Lage während der vorangegangenen Welle mit der Delta-Variante des Corona-Virus entschied jedoch die Regierung unter dem damaligen Premierminister Yoshihide Suga, dass leicht bis moderat Erkrankte zu Hause oder in angemieteten Hotels bleiben sollen. Das führte im August des Vorjahres in ganz Japan zu 250 Todesfällen in Heimquarantäne. Mit dieser Entscheidung besiegelte Suga seinen politischen Abgang. Geplante Operationen und Behandlungen mussten abgesetzt werden. In manchen Präfekturen wurde sogar akut lebensbedrohlich erkrankten Patienten die Aufnahme ins Spital verwehrt.

Mobiler Ärztedienst: privat

Ärztliche Hausbesuche oder ein präklinisches Notarztsystem waren vor der Pandemie keine Selbstverständlichkeit. Außerdem waren sie – je nach Präfektur – nur teilweise von der Krankenversicherung gedeckt. Der mobile Ärztedienst (mit dem Ärztefunkdienst vergleichbar) ist in privater Hand. Dieses System konnte angesichts der rasch steigenden Zahl von schwer Erkrankungen nicht ebenso schnell aufgestockt werden. So gab es Berichte von Patienten in Rettungswägen, die von mehreren Krankenhäusern in Tokio abgelehnt wurden: Ein Betroffener wurde in 30 Spitälern abgelehnt; er starb. Viele andere mussten schließlich in andere Präfekturen gebracht werden.

Die Regierung appellierte an die Kliniken, mehr Betten zur Verfügung zu stellen – ein Appell, der bei den Betreibern großteils auf taube Ohren stieß. Denn anders als in Österreich befinden sich mehr als 80 Prozent der Krankenhäuser in privater Hand. Wohl aus monetären Gründen und auch aus Angst vor dem Imageverlust folgten nur ganz wenige den Appellen der Bürgermeisterin von Tokio, Yuriko Koike, und von Regierungschef Suga, während das Gros der Patienten von den personell oft unterbesetzten öffentlichen Einrichtungen aufgenommen werden musste. Drei der 14 städtischen Krankenhäuser wurden in reine COVID-19-Spitäler umgewandelt. Mit etwa einem Prozent der Patienten, die bei einer COVID-19-Infektion eine künstliche Beatmung benötigen, stießen die Intensivstationen rasch an ihre Kapazitätsgrenzen.

Die Coronawelle im Spätsommer ebbte zwar rasch wieder ab, aber angesichts einer sich aufbäumenden sechsten Welle mit Omikron wurde dieses Problem bislang nicht angegangen. So musste etwa Yushoukai Medical, einer der größten Hauskrankenpflege-Betreiber in Japan, über Crowdfunding Gelder aufbringen, um Ressourcen aufzubauen. Bei den mobilen Pflegediensten handelt es sich meist um kleine Firmen, die nur wenig medizinisches Personal beschäftigen, das noch dazu diese Arbeit neben dem eigentlichen Hauptberuf im Krankenhaus ausübt. Die Hauskrankenpflege-Verbände kritisieren, dass die Regierung noch immer keine Richtlinien zur Behandlung von COVID 19-Patienten ausgearbeitet hat und diese Einrichtungen auf sich gestellt sind. Als Lösungsansatz wurden in Quarantänehotels versuchsweise ärztliche Praxen eingerichtet, wo Sauerstoff gegeben und neue Therapien wie Antikörper-Cocktails für leicht erkrankte Patienten mit Vorerkrankungen unter ärztlicher Observanz intravenös verabreicht werden.

Angesichts der Omikron-Variante dürfte die japanische Bevölkerung wegen der späten Immunisierung derzeit über einen schwächeren Schutz verfügen als jene Länder, in denen früh mit Impfkampagnen begonnen wurde. Anfang Feber 2022 waren knapp 80 Prozent der Menschen in Japan mindestens zweimal geimpft; dreimal geimpft waren lediglich fünf Prozent. Die Impfkampagne lief holprig und spät an. Erst Mitte Februar 2021 erhielten Angehörige des medizinischen Personals den ersten Stich, die Bevölkerung folgte Ende April. Das online-Anmeldesystem war teilweise überfordert.

Die Einschränkungen im Alltag fielen moderat aus, waren lokal begrenzt und sind am ehesten mit dem schwedischen Modell zu vergleichen. Es wurden lediglich Empfehlungen zu sozialer Distanz, zum Maskentragen und Hygienemaßnahmen ausgesprochen. Größere Veranstaltungen waren bis auf kurze lokale Beschränkungen nicht verboten, Gastronomie- und Nachtlokale blieben die meiste Zeit über offen; bei Verstößen waren keine Strafen vorgesehen.

Einreisebeschränkungen und Kontakt-Tracing

Jedoch setzte man auf strikte Einreisebeschränkungen und ein intensives Kontakt-Tracing. Während sich Japan als Inselstaat weitgehend abschottet und Ausländer an der Einreise hindert beziehungsweise jene, die es ins Land geschafft haben, zu einer streng überwachten Quarantäne in Hotels verdonnert, konnte man sich in Europa mit kurzen Unterbrechungen relativ frei zwischen den Staaten bewegen. Für viele war die Aussicht auf eine Ferienreise der Hauptgrund, sich impfen zu lassen – aus japanischer Sicht ein Kuriosum. Allerdings blieb das Ziel der japanischen Behörden, durch das strenge Grenzregime das Übergreifen der Virusvarianten nach Japan zu verhindern, illusorisch. Sowohl bei der Delta-Variante im Frühsommer 2021 als auch bei Omikron stiegen die Infektionszahlen explosionsartig.

In Japan werden bei einer vergleichsweise etwa 14-mal größeren Bevölkerung als in Österreich rund 40.000 PCR-Tests am Tag durchgeführt; zuletzt bis zu 220.000 und das System stieß damit an die Kapazitätsgrenzen. Zum Vergleich: In Österreich werden täglich rund 400.000 PCR-Tests durchgeführt; seit dem Auftreten der Omikron-Variante hat sich die Zahl sogar verdoppelt. In Japan werden nur Personen zum Test zugelassen, die hohes Fieber haben, nach Auslandsreisen, nach Kontakt mit einem bestätigten COVID-19-Fall beziehungsweise mit einer schweren Lungenerkrankung, die eine Hospitalisierung erfordert. Erst Ende Dezember 2021 wurden in Großstädten Teststraßen errichtet, wo sich nach einer Voranmeldung jeder kostenlos testen lassen kann. Die Wartezeit dauert derzeit mehrere Tage. Bislang ging es einzig darum, Personen mit Symptomen sowie Infektions-Cluster zu identifizieren. In Ermangelung von Testmöglichkeiten wurden in Spitälern oft nur Lungen-CTs für die Diagnose herangezogen. Angesichts der rasch steigenden Zahlen – seit Tagen werden in Japan mehr als 100.000 neue Fälle täglich registriert – wurden alle unter 50-Jährigen gebeten, sich einen Schnelltest zu besorgen und zu Hause zu bleiben. Vielerorts sind die Test-Kits ausverkauft.

Kritik an PCR-Tests

Was in Japan bislang als großes Handicap identifiziert und von zahlreichen Experten – auch von der WHO – bemängelt wurde, wird retrospektiv weniger kritisch betrachtet. Nicht ganz ohne Häme jubeln japanische Kommentatoren über den japanischen Weg der Pandemiebekämpfung, der sich im Vergleich zu Europa oder den USA bisher als erfolgreicher erwiesen hätte. Einer der führenden Virologen des Landes, Prof. Hidekazu Nishimura vom Sendai Virus Research Center, führt den Widerstand seiner Kollegen gegen PCR-Tests auf das japanische Perfektionsstreben zurück. Die Tests seien nicht standardisiert, die Qualität der Abstriche nicht überprüfbar. Er argumentiert, dass die Geräte von erfahrenem Personal bedient werden müsste – das gibt es in Japan jedoch nicht in dem erforderlichen Ausmaß. So führten falsch negative Ergebnisse oder nicht verlässliche CT-Werte dazu, dass sich die Betroffenen in falscher Sicherheit wiegen und zu riskantem Verhalten verleitet wurden. Gleichzeitig verschließt Nishimura Hidekazu sich nicht vor der Kritik, dass in Japan zu wenig getestet werde und er fordert eine „vernünftige Balance zwischen dem Notwendigen und dem Machbaren“.

In Japan verweist man auch auf negative Erfahrungen, die man mit Massentests gegen Influenza in der Vergangenheit gemacht hat. Während man in Österreich in der Grippesaison auf stichprobenmäßige Erfassung von Influenza-Infektionen (Sentinel-System) setzte, führten japanische Ärzte in der Vergangenheit bei jedem Grippe-Verdachtsfall einen Schnelltest durch. Die Patienten entwickelten in der Folge eine Erwartungshaltung, bei jeder viralen Infektion einen relativ kostspieligen Schnelltest zu bekommen. Das mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb die japanischen Behörden beim Ausrollen des Gratis-Corona-Testsystems so zögerlich blieben.

Auch Japan hat seine Corona-Skeptiker und Impfgegner. Diese Aktivitäten bleiben aber anders als in Europa fast nur auf Internet-Foren beschränkt. Der Gruppendruck in dieser stark kollektivistisch organisierten Gesellschaft bewirkt, dass sich selbst Impfunwillige letzten Endes ihren Stich holen. Bedingt durch die langen Arbeitszeiten taten sich viele Berufstätige schwer, Impfzentren aufzusuchen. Dabei hat sich die Einbindung der betriebsärztlichen Praxen und der Vorsorgeeinrichtungen als sehr wirkungsvoll erwiesen.

In Japan hält sich die Mehrheit der Bevölkerung sogar bei sehr niedrigen Corona-Zahlen an die Empfehlung, auch im Freien Masken zu tragen, Abstand zu halten und freiwillig auf Reisen zu verzichten. Hier kommen „kulturimmanente“ Züge der Gesellschaft zum Tragen wie das traditionelle Abstandhalten, die hohen Hygienestandards und das bedingungslose Befolgen der Anweisungen der Behörden. Das Tragen des Mundschutzes war auch schon vor der Pandemie – vor allem in der kalten Jahreszeit und in der Pollen-Saison – üblich und wurde folglich nicht zu einem ideologischen Glaubenskrieg hochstilisiert. Das Aufgeben von eigenen Interessen für das Wohl der Gemeinschaft stand und steht außer Frage. Möglicherweise ist die japanische Gesellschaft aufgrund ihrer Erfahrungen mit Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunami und Taifunen großen Krisen gegenüber insgesamt resilienter als es im Westen der Fall ist.


In Japan zeigte sich, dass selbst eine relativ niedrige Zahl an COVID-19-Erkrankten das Gesundheitssystem an den Rand eines Kollaps führen kann. Durch Einsparungen, vor allem aber durch Privatisierungen im Gesundheitssektor, nachdem sich der Staat aus der Gesundheitsversorgung in den letzten Jahrzehnten zurückgezogen hat und der daraus resultierenden mangelnden Kooperation zwischen den Privatspitälern ist ein gefährlicher Engpass in der Versorgung entstanden.


*Dr. Marcin Pietraszkiewicz ist Arzt für Allgemeinmedizin aus Wien und arbeitet seit Oktober 2021 als Gastarzt in der Notfallaufnahme eines großen Krankenhauses in der japanischen Millionen-Metropole Sendai.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 04 / 25.02.2022