Arbeitsmedizin: Daten zeigen großen Bedarf

26.09.2022 | Politik

Die Arbeitsmedizin nimmt eine führende Rolle bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess ein. Ihre Expertise ist auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sehr gefragt, wie unter anderem der Österreichische Fehlzeitenbericht verdeutlicht.

Martin Schiller

Arbeitnehmerschutz, präventivmedizinische Aufgaben, betriebliche Gesundheitsförderung und Eingliederungsmanagement – das sind die Aufgabenfelder von Arbeitsmedizinern, die im Berufsbild der Österreichischen Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention (AAMP) definiert sind. „Beim Wiedereingliederungsprozess von gesundheitlich beeinträchtigten Menschen oder Personen mit besonderen Bedürfnissen ist die Arbeitsmedizin führend“, betont Karl Hochgatterer, Präsident der AAMP. „Der Gesetzgeber hat erkannt, dass unsere Expertise dabei absolut notwendig ist.“ Laut dem Fehlzeitenreport 2021 des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) nehmen Personen mit psychischen Erkrankungen die Wiedereingliederungsteilzeit (WIETZ) mit 32 Prozent der Anträge am häufigsten in Anspruch, gefolgt von 15 Prozent aufgrund von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems. Ein Evaluierungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit, Familie und Jugend im Jahr 2020 hat ergeben, dass die Wiedereingliederungsteilzeit seit der Einführung 2017 mehr als erwartet in Anspruch genommen wird und in den Betrieben positiv beurteilt wird. Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten setzten zu 53 Prozent Maßnahmen im Bereich der Wiedereingliederungsteilzeit um; bei Firmen mit 20 bis 99 Beschäftigten waren es 40 Prozent.

Wichtiger Faktor Psyche

Die Untersuchung der individuellen körperlichen und psychomentalen Voraussetzungen der Beschäftigten zählt zum Aufgabenbereich des Arbeitsmediziners. Wie sehr sich die psychische Komponente im Berufsleben auswirkt, verdeutlichen folgende Zahlen: Laut Fehlzeitenreport des WIFO sind psychische Erkrankungen in Österreich die häufigste Ursache von Neuzugängen in die Invaliditäts- beziehungsweise Berufsunfähigkeitspension. Zahlen aus 2019 zeigen außerdem, dass bei Frauen 11,5 Prozent und bei Männern 6,7 Prozent aller Krankenstandstage durch eine psychische Erkrankung verursacht werden. 19 Prozent aller Krankenstände, die länger als sechs Wochen dauerten, haben eine psychische Diagnose als Ursache. Die OECD schätzt, dass in den Mitgliedsländern 20 bis 25 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter von klinisch relevanten psychischen Leiden betroffen sind.

Die Arbeitsmedizin kann auch hinsichtlich Burn-out-Vorbeugung einen wichtigen Beitrag leisten. Hochgatterer spricht von einer „zunehmenden Arbeitsdichte“, die vielen Beschäftigten zu schaffen mache und die Arbeitsmedizin auf den Plan rufe. Bereits vor einigen Jahren konnte in einer repräsentativen Studie gezeigt werden, dass 76 Prozent der Arbeitgeber und 86 Prozent der Arbeitnehmer das Aufzeigen von Belastungen, die zu Burnout führen können, als Aufgabe einer umfassenden Arbeitsmedizin sehen.

Schadensfälle in Österreich rückläufig

Arbeitsmediziner beurteilen weiters, ob die Intensität und Dauer von bestimmten Einflussfaktoren arbeitsmedizinische Handlungen erforderlich machen. Zu diesen Faktoren zählen Unternehmenskultur, Arbeitsumfeld, Aufbauorganisation, Organisation der Abläufe, Arbeitsmittel und Arbeitsstoffe. Entsprechende Präventionsmaßnahmen zur Gefahrenverhütung werden entwickelt sowie deren Umsetzung begleitet und kontrolliert. In Österreich gab es in puncto Sicherheit am Arbeitsplatz in den vergangenen Jahren große messbare Fortschritte, wie Daten der AUVA zeigen. 2008 betrug die Zahl der Schadensfälle bei Arbeitern noch rund 100.000; im Jahr 2020 waren es 54.208. Auch bei Angestellten zeigt sich dieser Trend. Hier lag im Jahr 2008 die Zahl der Schadensfälle bei rund 30.000, im Jahr 2020 waren es 20.484 Fälle. Insgesamt gab es bei den Schadensfällen in den vergangenen 25 Jahren einen deutlichen Rückgang. Trotz einer überzeugenden Leistungsbilanz und positiven Trends bei Schadensfällen und Wiedereingliederung besteht im Hinblick auf die Erhebung von Zahlen zu den direkten Effekten der Arbeitsmedizin Handlungsbedarf. Etwa bei volkswirtschaftlichen Parametern oder zum Effekt auf die Prävention von Frühpensionierungen sieht Hochgatterer noch „großen Forschungsbedarf, und auch eine Forschungslücke“. Die Zahlen seien schwierig zu erheben, da die Einflüsse multifaktoriell seien.

Für die vielen Herausforderungen in Betrieben gibt es aktuell zu wenig Arbeitsmediziner in Österreich und man benötigt dringend Nachwuchs. Kurzfristig für Unterstützung sorgt eine seit dem 1. Juli dieses Jahres in Kraft befindliche Novelle des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes (ASchG). Diese sieht eine fachliche Unterstützung der Arbeitsmediziner durch Angehörige eines Arbeitsmedizinischen Fachdienstes vor. „Gehobene Gesundheitsberufe dürfen diese Tätigkeit nach entsprechender Zusatzausbildung an einer Akademie für Arbeitsmedizin ausführen. Bis zu 30 Prozent der arbeitsmedizinischen Präventionszeit können auf diese Weise geleistet werden. Der Arbeitsmediziner kann somit Arbeit delegieren“, erklärt Hochgatterer. „Das ist ein wesentlicher Schritt nach vorne, der dringend notwendig war. Wenn wir die arbeitsmedizinische Versorgung nicht in ausreichendem Maße bereitstellen können, wird der Gesetzgeber als Konsequenz daraus die vorgeschriebene Zeit dafür reduzieren“, befürchtet Hochgatterer.

In der ersten Phase sei das Modell vermutlich für große Unternehmen interessant. „Aber vielleicht ist es auch für Ärzte mit Personal mit Ausbildung im Gesundheits- und Krankenpflegedienst oder medizinisch-technischem Dienst attraktiv. Und auch freiberufliche Arbeitsmediziner können Angehörige eines Arbeitsmedizinischen Fachdienstes anstellen und dann mehr Betriebe betreuen“, so Hochgatterer abschließend.


Wann ist arbeitsmedizinische Betreuung verpflichtend?

Sobald es zumindest einen Mitarbeiter gibt, muss ein Unternehmen eine arbeitsmedizinische Betreuung sicherstellen. Bis zu einer Beschäftigtenzahl von 50 Mitarbeitern kann dies über die AUVA durchgeführt werden. Ab 51 Beschäftigten muss der Betrieb selbst einen Arbeitsmediziner engagieren.

Zahlen und Fakten

  • Derzeit gibt es 107 Fachärzte für Arbeitsmedizin und Angewandte Physiologie.
  • Bereits im Jahr 2016 wurde im Zuge einer Studie ein österreichweiter Fehlbestand von 500 sowie aufgrund der demografischen Situation ein weiterer Bedarf von etwa 550 weiteren arbeitsmedizinisch Tätigen bis 2026 ermittelt – ausgehend von einem Bedarf von rund 1.400 Arbeitsmedizinern.
  • Mit Stand Mai 2022 waren 29 Fachärzte in den neun als Ausbildungsstellen nach der alten Ärzte-Ausbildungsordnung (ÄAO) anerkannten Arbeitsmedizinischen Zentren beschäftigt. Elf Ärzte befanden sich an diesen Stellen zu dem Zeitpunkt in der Facharzt-Ausbildung nach der alten ÄAO (jedoch keiner nach der neuen ÄAO).
  • Dauerhaft sollte es zwischen 15 und 20 Ausbildungsstellen geben, um das Ziel von rund 100 Fachärzten langfristig zu realisieren.
  • Von jenen, die die Ausbildung absolvieren, steigen danach 60 Prozent in den Beruf des Arbeitsmediziners ein und 50 Prozent üben diesen auch dauerhaft aus.
  • Die durchschnittliche wöchentliche Präventionszeit eines österreichischen Arbeitsmediziners beträgt 15,9 Stunden. Dieser Wert ist Ausgangspunkt für die Berechnung der für die arbeitsmedizinische Vollbetreuung erforderlichen Ärzte.

www.arbeitsmedizin-info.at


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2022