Vergiftungen bei Kindern und Jugendlichen – Am häufigsten: Medikamente

15.12.2022 | Medizin

Rund 28.000 Anrufe gehen pro Jahr bei der Österreichischen Vergiftungsinformationszentrale ein – vorwiegend akute Anfragen. Bei nahezu der Hälfte der Anfragen geht es um Medikamente, die Kleinkinder versehentlich oder Jugendliche in suizidaler Absicht genommen haben.

Julia Fleiß

Rund 800 Kinder unter 15 Jahren müssen in Österreich jährlich nach einem Vergiftungsunfall stationär im Krankenhaus behandelt werden. 43 Prozent davon sind Kinder unter fünf Jahren. Welche Produkte und Substanzen sind für Kinder besonders „interessant“? Die Antwort ergab ein Experiment des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV) mit dem Titel „Essigsäure vs. Bauklotz“: Vier von zehn Kleinkindern entscheiden sich – vor die Wahl gestellt zwischen Spielzeug, Haushaltschemikalien, Medikamenten-Dummies und Knopfbatterien – für das potentiell gefährliche Produkt; in fast der Hälfte der Fälle für die vorhandenen Medikamente. Das beobachtet auch Tara Arif von der österreichischen Vergiftungsinformationszentrale: „40 Prozent der Anfragen bei uns betreffen Medikamente.“ Auch Suizidversuche, die laut Univ. Prof. Paul Plener von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien ab dem 14. Lebensjahr zunehmen, werden vorwiegend mit Medikamenten aus der Hausapotheke verübt.

Die meisten Anfragen bei der Vergiftungsinformationszentrale betreffen versehentliche Einnahmen von Medikamenten, darauf folgen chemische Substanzen und Pflanzen. „Zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr gibt es einen Peak von Anfragen besorgter Eltern“, erläutert Arif und ergänzt: „In diesem Alter greifen die Kinder alles an, stecken es in den Mund, bringen Substanzen ins Auge oder auf die Haut.“ Neben Medikamenten handelt es sich dabei vorwiegend um ätzende Substanzen wie Grill- und Backofenreiniger sowie Essigessenz. „Industriereiniger sollten niemals im Haushalt aufbewahrt werden. Am gefährlichsten ist es, wenn diese Substanzen in Trinkflaschen umgefüllt werden, und dann versehentlich getrunken werden.“

Bei Vergiftungsverdacht ist eine ausführliche Anamnese Voraussetzung für die Einschätzung der Situation. In mehr als 90 Prozent der Fälle bei Kindern und Jugendlichen können die beratenden Toxikologen der Vergiftungsinformationszentrale Entwarnung geben.

Erste Maßnahmen bei Chemikalien sind laut Arif immer: Mundhöhle ausspülen und ein bis zwei Schluck Wasser nachtrinken. Keinesfalls sollten die Betroffenen zum Erbrechen animiert werden, da „die Gefahr der Aspiration zu groß ist“, wie Arif erklärt. Bei ätzenden Substanzen wiederum kommt es eher im unteren Drittel des Ösophagus zu Schäden. „Bringt man den Betroffenen zum Erbrechen, kann die Substanz durch Aspiration bis in die Bronchien kommen und richtet noch mehr Schaden an.“ Auch die Magenspülung, die noch vor 50 Jahren routinemäßig erfolgte, wird im stationären Bereich nur äußerst selten durchgeführt. „Es handelt sich um einen invasiven Eingriff mit einer nicht unbeträchtlichen Komplikationsrate“, warnt Arif.

Welche Alternativen gibt es? Bei vielen Substanzen stellt die Gabe von Aktivkohle die erste Maßnahme dar. „Aktivkohle-Partikel werden in Pulverform oder als Granulat mit Wasser vermischt, binden Substanzen im Magen und können ausgeschieden werden“, erklärt Arif. Dies sollte so rasch wie möglich, jedoch unter bestimmten Bedingungen erfolgen: Der Patient darf nicht eingetrübt sein, und es darf keine Übelkeit oder Erbrechen bestehen. Nach Ansicht von Arif sollte die Gabe von Aktivkohle eher im Krankenhaus erfolgen. Darüber hinaus ist nach der Einnahme von ätzenden Flüssigkeiten eine intensivmedizinische Überwachung sowie Nahrungkarenz für mindestens 24 Stunden nötig. Innerhalb der ersten Stunde kann eine Magensonde gesetzt werden, die die Flüssigkeit abzieht.

Suizid durch Vergiftung

Wird eine Substanz in selbstschädigender Absicht eingenommen, ist nach Behandlung der Intoxikation ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie hinzuzuziehen. Suizid zählt generell zu den häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Plener dazu: „Wir beobachten weltweit einen Anstieg an Suizidversuchen bei Jugendlichen, aber keine Zunahme an Suiziden.“ Die Beratungsgespräche zu Suizidgedanken bei der Notrufnummer „Rat auf Draht“ sind im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 um 17,24 Prozent auf rund 1.400 gestiegen. Man sehe – so der Experte – darin die Auswirkungen des zweiten Jahres des Corona-Pandemie; der Trend setze sich auch 2022 fort. Essentiell für die Suizid-Vorbeugung sei die Enttabuisierung. Und Plener versichert: „Es ist ein Mythos, dass man durch das Ansprechen von Suizidalität einen Suizid auslösen kann“. Sein Appell an die Hausärzte: „Wird das Thema angesprochen, sind die Betroffenen sogar eher erleichtert“. Goldstandard bei der Abklärung der Suizidalität im Kindes- und Jugendalter ist die Columbia-Beurteilungsskala (C-SSRS: Columbia Suicide Severity Rating Scale), die aber nur von geschultem Personal durchgeführt werden soll. Das persönliche Gespräch werde jedoch dadurch laut Plener nicht ersetzt. „Um die Suizidalität einzuschätzen, bedarf es des direkten Gesprächs und des expliziten Nachfragens nach Suizidgedanken, Suizidplänen und Suizidwünschen.“ Besteht ein hohes Risiko, könne der Hausarzt den Weg zu niederschwelligen Zentren bahnen.


Österreichische Vergiftungsinformationszentrale

Die Vergiftungsinformationszentrale ist rund um die Uhr erreichbar: 01/406 43 43
Folgende Informationen sind essentiell:

– Bezeichnung der Substanz/der Pflanze
– Art und Weise, wie sie in den Körper gelangt ist: verschlucken, einatmen, via Auge oder Haut
– Menge
– Zeitraum, der seit der Intoxikation vergangen ist
– Vergiftungssymptome
– Alter und Gewicht des Betroffenen

Informationen und Handlungsempfehlungen zu verschiedenen Substanzen gibt es im Antidotarium unter https://www.kup.at/db/antidota/antidota.html


Kann ein Suizidversuch bei Kindern und Jugendlichen nicht verhindert werden, findet in Folge immer eine psychiatrische Abklärung statt. „Ist der Betroffene weiterhin akut suizidgefährdet, ist eine stationäre psychiatrische Behandlung nach dem Unterbringungsgesetz erforderlich, manchmal auch gegen den Willen des Betroffenen“, führt Plener aus. Ist die akute Suizid-Gefährdung gebannt, ist – je nach dem Schweregrad der zugrundeliegenden Erkrankung – eine ambulante Weiterbehandlung möglich.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2022