Piri­f­or­mis-Syn­drom: Überbeansprucht

15.07.2022 | Medizin

Als End­re­sul­tat einer Über­be­an­spru­chung kann es zum Piri­f­or­mis-Syn­drom kom­men, aus dem sich ein kom­ple­xes myo­fas­zia­les Schmerz­syn­drom ent­wi­ckeln kann. Rund 50 Pro­zent der vom Eng­pass-Syn­drom Betrof­fe­nen haben in der Ana­mnese ein Trauma im Bereich der Regio glu­tea­lis oder ein Tor­si­ons­trauma der Hüfte/​des unte­ren Rückens.

Irene Mle­kusch

Bei der Dia­gnose Piri­f­or­mis-Syn­drom „han­delt es sich um eine Aus­schluss­dia­gnose und bedarf einer umfas­sen­den Abklä­rung in Bezug auf die mög­li­chen Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen“, sagt Priv. Doz. Ste­fan Fischer­auer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Ortho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie in Graz. Durch mus­ku­läre Span­nun­gen im Mus­cu­lus piri­f­or­mis kann es einer­seits zu Schmer­zen im Mus­kel selbst als auch zur Irri­ta­tion und Kom­pres­sion des Ner­vus ischia­di­cus oder eines sei­ner Äste im Sinne eines Eng­pass-Syn­droms kom­men. Oft ent­wi­ckelt sich ein kom­ple­xes myo­fas­zia­les Schmerz­syn­drom, das den gesam­ten Hüft- und Becken­be­reich umfas­sen kann. Für 0,3 bis sechs Pro­zent aller Fälle von Kreuz­schmer­zen und/​oder Ischias Beschwer­den kann das Piri­f­or­mis-Syn­drom ver­ant­wort­lich sein, erklärt Univ. Prof. Catha­rina Chiari von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Ortho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Das Piri­f­or­mis-Syn­drom kommt bei Frauen im mitt­le­ren Alter am häu­figs­ten vor mit einem Ver­hält­nis von 6:1.

Viel­fäl­ti­ges Schmerzbild

Die Betrof­fe­nen prä­sen­tie­ren pseu­do­ra­di­ku­läre Schmerz­bil­der, die tief in den Ober­schen­kel aus­strah­len. „Die Pati­en­ten haben Beschwer­den im Gesäß, am hin­te­ren Ober­schen­kel und im Lum­bal­be­reich“, berich­tet Fischer­auer. Und wei­ter: „Die Dif­fe­ren­zie­rung von pseu­do­ra­di­ku­lä­ren Dia­gno­sen ist schwie­rig. Bei radi­ku­lä­ren Beschwer­den zieht der Schmerz jedoc meist wei­ter abwärts bis in den Unter­schen­kel.“ Chari beschreibt Druck­schmer­zen in der Nähe der Incis­ura ischia­dica, Schmer­zen bei jeder Bewe­gung, die die Span­nung des M. piri­f­or­mis erhö­hen und Ein­schrän­kun­gen beim Gera­de­he­ben des Beins. Die Pati­en­ten haben oft Schwie­rig­kei­ten, nach län­ge­rem Sit­zen auf­zu­ste­hen, wobei auch eine sit­zende Posi­tion von län­ger als 15 bis 20 Minu­ten als schmerz­haft emp­fun­den wird. Die Schmer­zen wer­den als ein­schie­ßend und bren­nend beschrie­ben und kön­nen gemein­sam mit Taub­heits­ge­füh­len und Krib­beln auf­tre­ten. Wei­ters kön­nen die Beschwer­den auch in die Leiste, ins Peri­neum, in den Geni­tal­be­reich und auch nach rek­tal aus­strah­len. Dem­entspre­chend kann es zu Schmer­zen und Miss­emp­fin­dun­gen bei Defä­ka­tion und Koha­bi­ta­tion kom­men. Tritt zusätz­lich eine chro­nisch rezi­di­vie­rende Ile­osa­kral­ge­lenks-Blo­ckade auf, wird diese Kom­bi­na­tion als „dou­ble devil“ bezeichnet.

Pro­vo­ka­ti­ons­tests weg­wei­send für Diagnose

Ver­schie­dene kli­ni­sche Pro­vo­ka­ti­ons­tests sind weg­wei­send für die Dia­gno­se­stel­lung, aller­dings gibt es kei­nen für das Piri­f­or­mis-Syn­drom spe­zi­fi­schen Test. „Es gibt mus­kel­spe­zi­fi­sche Pro­vo­ka­ti­ons­tests, die Hin­weise geben, ob der Schmerz dem Mus­ku­lus piri­f­or­mis zuge­ord­net wer­den kann”, so Fischer­auer. Chiari rät dazu, durch manu­el­len Druck auf den Ischi­as­nerv die Sym­ptome zu repro­du­zie­ren. „Das FAIR-Manö­ver ist schmer­z­aus­lö­send oder auch die Abduk­tion und Außen­ro­ta­tion des Ober­schen­kels gegen Wider­stand. Beim Frei­berg-Zei­chen wird durch kräf­tige Innen­ro­ta­tion des gestreck­ten Ober­schen­kels in Rücken­lage glu­tealer Schmerz aus­ge­löst.“ Wei­tere hilf­rei­che Funk­ti­ons­tests sind der Pace-Abduk­ti­ons­test, der Bon­net-Test, der Mir­kin-Test, der Jagas- und Beatty-Test. Der Lasegue löst Schmer­zen bei aku­ten Band­schei­ben­vor­fäl­len im Bereich von L4/​5 und L5/​S1 aus, wäh­rend beim Piri­f­or­mis-Syn­drom der Pseudo-Lasegue-posi­tiv ist. „Dia­gnos­ti­sche Ver­fah­ren wie Ultra­schall, MRT, CT und EMG sind in den meis­ten Fäl­len nütz­lich, um andere Erkran­kun­gen aus­zu­schlie­ßen”, ergänzt Chiari. Fischer­auer emp­fiehlt bei typ­sich radi­ku­lä­rer Sym­pto­ma­tik eine Bild­ge­bung der LWS mit­tels MRT, um als Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnose einen Band­schei­ben­vor­fall aus­schlie­ßen zu können.

Grund­sätz­lich unter­schei­det man zwi­schen dem pri­mä­ren und sekun­dä­ren Piri­f­or­mis-Syn­drom. Das pri­märe Piri­f­or­mis­Syn­drom ist für weni­ger als 15 Pro­zent der Fälle ver­ant­wort­lich und inklu­diert ana­to­mi­sche Vari­an­ten wie einen zwei­tei­li­gen Mus­kel oder Ischi­as­nerv. „Bei mehr als 80 Pro­zent der Bevöl­ke­rung ver­läuft der Ischi­as­nerv tief am Mus­cu­lus piri­f­or­mis und tritt infe­rior an des­sen Bauch aus“, bestä­tigt Chiari. „Pro­xi­male Auf­tei­lun­gen des Ischi­as­nervs in seine tibia­len und pero­nea­len Anteile kön­nen Pati­en­ten für das Piri­f­or­mis-Syn­drom prä­dis­po­nie­ren, wobei diese Äste durch und unter­halb des Mus­cu­lus piri­f­or­mis oder ober­halb und unter­halb des Mus­kels ver­lau­fen.“ Annäh­rend 50 Pro­zent der Betrof­fe­nen haben in der Ana­mnese ein Trauma im Bereich der Regio glu­tea­lis oder ein Tor­si­ons­trauma der Hüfte/​des unte­ren Rückens und somit ein sekun­dä­res Piri­f­or­mis-Syn­drom. Prä­dis­po­nie­rend sind laut Fischer­auer auch lange sit­zende Tätig­kei­ten, Bein­län­gen­dif­fe­ren­zen, ver­än­derte Bein­stel­lun­gen wie zum Bei­spiel eine Über­las­tung durch eine Pro­na­ti­ons­stel­lung im Fuß, Lau­fen bei ver­kürz­ten Hüft­beu­gern infolge sit­zen­der Berufs­tä­tig­kei­ten, Kraft­trai­ning mit zu viel Gewicht oder eine Schwä­che im Bereich der Becken­bo­den- und Glu­te­al­mus­ku­la­tur. Es ist sogar mög­lich, dass sich ein Piri­f­or­mis-Syn­drom durch mecha­ni­schen Druck ent­wi­ckelt, wenn man bei­spiels­weise häu­fig und lange auf der Geld­börse in der Hosen­ta­sche sitzt. Chiari sieht auch in der Hyper­tro­phie des M. piri­f­or­mis, wie man sie bei Sport­lern wie Läu­fern und Tri­ath­le­ten sieht, einen begüns­ti­gen­den Fak­tor für ein Eng­pass-Syn­drom. In sel­te­nen Fäl­len sind Tumore, Aneu­rys­men oder AV-Mal­for­ma­tio­nen im Fora­men ischia­di­cum majus die Ursa­che. In jedem Fall rät Fischer­auer dazu, dass Piri­f­or­mis-Syn­drom in einem grö­ße­ren Zusam­men­hang zwi­schen dem Becken und der unte­ren Extre­mi­tät zu sehen. Die mus­ku­läre Dys­funk­tion ist das End­re­sul­tat einer Über­be­an­spru­chung bedingt durch eine Über­las­tung oder Unter­ver­sor­gung der Region.

Eigen­span­nung des Mus­kels detonisieren

„Bei der Akut­be­hand­lung gilt es, die Eigen­span­nung des Mus­kels zu deto­ni­sie­ren”, fasst Fischer­auer zusam­men. Das erfolgt über­wie­gend manu­al­the­ra­peu­tisch mit­tels Trig­ger­punkt­mas­sa­gen, Fas­zi­en­the­ra­pien, Aku­punk­tur oder osteo­pa­thi­scher Tech­ni­ken. Zu Beginn kön­nen Ruhe und Scho­nung in den ers­ten 48 Stun­den nach Sym­ptom­be­ginn Erleich­te­rung brin­gen, in wei­te­rer Folge unter­stüt­zen aber selbst­stän­dige Deh­nungs-und Kräf­ti­gungs­übun­gen des Betrof­fe­nen die Hei­lung. Chiari emp­fiehlt zusätz­lich die Anwen­dung von NSAR und Mus­kel­re­la­xan­tien sowie die Injek­tion von Ste­ro­iden in die Umge­bung des M. piri­f­or­mis. Mit Phy­sio­the­ra­pie wer­den die Sta­bi­li­sie­rung und funk­tio­nelle Pro­bleme behan­delt. Bringt die lokale Mus­kel­be­hand­lung keine aus­rei­chende Bes­se­rung oder rezi­di­vie­ren die Beschwer­den, emp­fiehlt Fischer­auer, auch hin­sicht­lich einer osteo­pa­thi­schen Dys­funk­tion zu unter­su­chen und zu behan­deln. Der Ortho­päde kann dia­gnos­tisch und the­ra­peu­tisch Infil­tra­tio­nen mit Lido­cain ver­ab­rei­chen und bei the­ra­pie­re­sis­ten­ten Beschwer­den ist auch eine Behand­lung mit Botu­li­num­to­xin mög­lich. Beide Exper­ten sehen in der chir­ur­gi­schen Sanie­rung das letzte Mit­tel der Wahl für ganz wenige Pati­en­ten. Chiari dazu: „Die endo­sko­pi­sche Ner­ven­de­kom­pres­sion hat eine unsi­chere Pro­gnose“. Fischer­auer wie­derum rät allen Betrof­fe­nen auf­grund der hohen Rück­fall­rate auch zu einer dau­er­haf­ten Umstel­lung des Life­styles sowie einer Reduk­tion der sit­zen­den Tätigkeiten.


Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen
Mög­li­che Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen sind:

  • Sämt­li­che Erkran­kun­gen der Hüfte inklu­sive Arthri­tis und Bursitis
  • Facet­tenar­th­ro­pa­thie
  • Dis­cus-Her­nie
  • Spi­nal­ka­nals­tenose
  • Irri­ta­tio­nen des Ileosakralgelenks
  • Irri­ta­tion der Ham­strings (ischio­cr­urale Muskulatur)
  • Lum­bale Muskelzerrungen
  • Tumore
  • AV-Mal­for­ma­tio­nen
  • Arte­ri­elle Aneurysmen/​Pseudoaneurysmen der A. glutea
  • Aor­toi­li­a­kale Gefäßverschlüsse

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 13–14 /​15.07.2022