Neurologie: Warnsymptome als Diagnose

12.09.2022 | Medizin

Die akuten Symptome von neurologischen Erkrankungen stellen in 50 Prozent die Diagnose dar. Die Anamnese der häufigsten Leitsymptome Schwindel, motorisches Defizit und Kopfschmerzen spielt darüber hinaus neben dem Faktor Zeit eine entscheidende Rolle.

Manuela-C. Warscher

Weltweit nehmen neurologische Erkrankungen nicht zuletzt wegen des steigenden Lebensalters zu. Heute stellen sie die dritthäufigste Ursache für Invalidität und Tod in der EU dar. In Österreich leidet jeder Dritte im Laufe seines Lebens an einer neurologischen Erkrankung. Demenzen und Schlaganfall sind dabei die primären Indikationen für verlorene Lebensjahre. „Umso größere Bedeutung kommt der Früherkennung und der Prävention von neurologischen Erkrankungen zu. Hier spielen vor allem Allgemeinmediziner eine zentrale Rolle,“ betont Univ. Prof. Thomas Berger von der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien. Zu den häufigsten Diagnosen in Österreich zählen weiterhin der akute Schlaganfall und die Transitorische ischämische Attacke (TIA), gefolgt von chronischen Erkrankungen wie Alzheimer Demenz, Epilepsie, Multiple Sklerose und Morbus Parkinson.

Zwei unterschiedliche Kategorien

Tatsächlich lassen sich – so Berger – neurologische Erkrankung abhängig vom Anfangszeitpunkt der Beschwerden prinzipiell in zwei Kategorien einteilen: Jene, die „plötzlich auf- und eintreten“ und jene, die „sich langsam schleichend entwickeln“. „Es gibt einen Unterschied, ob ein Patient mit Multipler Sklerose einen akuten Schub hat oder ob Gangstörungen bei einem Patienten ohne Multiple Sklerose auftreten.“ So können auch konkrete Symptome ein Hinweis auf eine teilweise schwerwiegende und lebensbedrohliche Indikation sein. Berger dazu: „Ganz nach dem Motto: Wisse zehn Warnsymptome, bleibe bei denen und wisse sie gut“. Denn: „Bei akuten Symptomen sind sie zu 50 Prozent die Diagnose.“ So spiele auch der Faktor Zeit beim Einordnen der häufigsten Leitsymptome wie Schwindel, motorische Defizite oder Kopfschmerzen eine bedeutende Rolle. Christoph Schmidauer von der Neurologischen Notaufnahme der Medizinischen Universität Innsbruck konkretisiert: „Vor allem plötzlich auftretende Sprach- oder Sehstörungen, Lähmungen oder Schwindel weisen auf ein akutes neurologisches Problem hin.“ So kann aber auch ein Bewegungsstörungsnotfall, dem eine Bewegungsstörung, die sich über Stunden bis Tage entwickelt hat, zugrunde liegt, bei Nichterkennen zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bis hin zum Tod führen. „Allerdings sind sie im Vergleich zu anderen neurologischen Notfällen eher selten“, so Schmidauer.

Das Risiko, im Laufe des Lebens an einem Schwindel zu erkranken, liegt bei 30 bis 40 Prozent; jährlich erkranken elf Prozent neu an Schwindel. 45 Prozent der Betroffenen sind über 70 Jahre. In etwa 50 Prozent der Fälle lässt sich jedoch keine organisch-strukturelle Ursache ermitteln. Entsprechend lang ist die Liste der Differentialdiagnosen. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel tritt am häufigsten bei peripher-vestibulären Störungen (50 Prozent) auf. Klagt der Patient mit einem Drehschwindel zusätzlich über schwallartiges Erbrechen und hat einen sehr schlechten Allgemeinzustand, sollte an Neuritis vestibularis gedacht werden, so Berger. „Dieser Zustand kann einige Tage andauern“ und kann sich bei Kopfbewegung verstärken. Dem gegenüber stehen zentral-vestibuläre Dysfunktionen, die zu zwei Drittel mit zerebrovaskulären Erkrankungen in Verbindung stehen. Selten sind Tumore die Ursache. „Schwindel wird gefährlich, wenn der Patient nicht mehr gehen kann“, so Schmidauer. Der Experte empfiehlt daher, den Patienten aufstehen zu lassen, um eine erste Einschätzung vornehmen zu können. Im Gegensatz zum zentralen Schwindel sei der HNO-bedingte Schwindel „unspektakulär“.

Vernichtungskopfschmerz ist Notfall

Die durchschnittliche Lebenszeitprävalenz für Kopf schmerzen liegt bei mehr als 60 Prozent; dabei ist der stressbedingte Spannungskopfschmerz am häufigsten. Sekundäre und symptomatische Kopfschmerzen treten in bis zu 20 Prozent der Fälle auf und können unter anderem Gefäßstörungen im Kopf-Halsbereich und nicht-vaskuläre intrakranielle Störungen beziehungsweise Infektionen als Ursache haben. „Vernichtungskopfschmerzen oder peitschenschlagartige Kopfschmerzen stellen immer einen Notfall dar“, bekräftigt Berger. Häufig liegt dabei – vor allem bei Patienten mit Hypertonie oder geriatrischen Patienten – eine Subarachnoidalblutung oder Ruptur eines Aneurysmas zugrunde. Daher sollte bei der Anamnese vor allem der geriatrische Patient nach noch so trivialen Stürzen ohne sichtbare Verletzung befragt werden. Berger erläutert: „Je älter der Patient ist, umso kleiner ist das Gehirn und umso mehr Platz ist im knöchernen Schädel für raumfordernde Prozesse wie Blutungen. Das hat bei Stürzen große Relevanz. Daher kann der Schmerz auch erst bis zu drei Tage verzögert auftreten“.

Einen Tumor hingegen kann man in der Regel ausschließen, da dieser „eher von neurologischen Ausfällen und nicht unbedingt von Kopfschmerzen gekennzeichnet ist“, betont Schmidauer. Der Experte rät daher auch, von der bildgebenden Diagnostik zunächst Abstand zu nehmen und „eher den Kopfschmerz zu klassifizieren“. Bei intrakraniellen Infektionen (Meningitis oder Enzephalitis) wiederum seien neben den typischen Symptomen wie Kopfschmerzen und Meningismus Haut- und Schleimhautblutungen ein „hoch-akutes Warnsignal“. Berger ergänzt: „Die Betroffenen können innerhalb von wenigen Stunden ungeachtet ihres Alters versterben“, skizziert Berger. Er empfiehlt, den „Patienten im wahrsten Sinn des Wortes zu begreifen, anzufassen und zu untersuchen, um den Körper und so allfällige Blutungen zu sehen“.

Neurologische Manifestation von Rheuma

Rheumatische Erkrankungen können sowohl vorübergehende leichte, aber auch schwerwiegende und potentiell tödliche Manifestationen im Gehirn, Rückenmark und im peripheren Nervensystems zeigen. Komplikationen treten bei etwa jedem Fünften mit Lupus und Sjögren-Syndrom sowie bei bis zu fast 60 Prozent der Patienten mit rheumatoider Arthritis auf. „Die systemischen Entzündungsreaktionen führen zur Beteiligung des peripheren und zentralen Nervensystems und der Muskulatur“, so Berger. Und weiter: „Daher ist es bei neu aufgetretenen neurologischen Symptomen essentiell, bei der Differentialdiagnostik rheumatologische Indikationen zu berücksichtigen.“ Es könne jedoch auch sein, dass bestimmte Arzneimittelgruppen (Analgetika, Antiepileptika) neurologische Beschwerden triggern.

Schließlich müsse besonderes „Augenmerk auf einmalige epileptische Anfälle“ gelegt werden, wie Berger betont. „Ein Anfall ist jedenfalls ‘ein’ Anfall“, der in der Folge eine Durchuntersuchung erfordert. Tatsächlich könne der erste Anfall auf eine beginnende Epilepsie hindeuten; die Ursache könne aber auch sekundärer Natur sein: „Entweder durch ein intrazerebrales Geschehen wie Schlaganfall oder Tumor, Arzneimittel oder Intoxikationen (auch Alkohol) ausgelöst.“ Worauf Berger außerdem hinweist: Auch Zahnarztbesuche könnten aufgrund ihrer stressauslösenden Natur ursächlich hinter einem vermeintlichen Krampfanfall stehen. Es stelle sich aber dann beim Neurologen als konvulsive Synkope heraus

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2022