Juvenile Adipositas: Ergebnis der Lebensstiländerung

10.02.2022 | Medizin

Ist ein vierjähriges Kind adipös, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass es auch als Erwachsener adipös ist, 80 Prozent. Aktuell leidet fast ein Drittel der unter Zwölfjährigen und die Hälfte der über 15-Jährigen an Übergewicht oder Adipositas. Der Einfluss der Vererbung wird auf etwa 70 Prozent geschätzt.

Manuela-C. Warscher

„Adipositas bei Kindern und Jugendlichen nimmt heute einen beträchtlichen Stellenwert ein und muss als Resultat einer Lebensstiländerung, die stattfand, gewertet werden“, fasst Univ.-Prof. Reinhold Kerbl von der Kinder- und Jugendabteilung des LKH Hochsteiermark/Leoben die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen.

Die Prävalenz von Adipositas hängt stark von sozioökonomischen Faktoren ab und auch davon, ob ein Migrationshintergrund vorliegt. Der Einfluss auf die physische Aktivität, der Anteil der sitzenden Tätigkeiten und das Schlafverhalten der Kinder korrelieren mit dem elterlichen Bildungsgrad, wie Ergebnisse von Studien aus 24 Staaten belegen. Demnach verbringen beispielsweise Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau um 1,33 Mal häufiger zumindest zwei Stunden täglich vor dem Bildschirm, sie betätigen sich um 1,3 Mal seltener sportlich beziehungsweise sind körperlich aktiv. „Die Schwächsten sind überproportional von dieser Krankheit und ihren Folgen betroffen“, bekräftigt Univ. Prof. Daniel Weghuber von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg. Zudem ist der mütterliche BMI vor der Konzeption für die spätere Entwicklung einer Adipositas des Kindes bedeutsam. Bei einer übergewichtigen Mutter wird das Kind mit einer fast 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit eine Adipositas entwickeln; leidet die Mutter an Adipositas, steigt die Wahrscheinlichkeit auf mehr als 260 Prozent.

Neben sozialen und umweltbedingten Faktoren spielen auch die Gene bei der Entstehung von Übergewicht und Adipositas eine bedeutende Rolle. Allerdings sind monogenetische Formen der Adipositas selten, bestätigt Kerbl. Weghuber ergänzt: „Bei lediglich etwa zwei bis fünf Prozent der Menschen ist ein einziges Gen für Adipositas verantwortlich.“ Bislang sind mehrere monogene humane Formen bekannt, darunter der kongenitale Leptinmangel, der Leptin-Rezeptor-Defekt und Störungen im Melanocortin 4-Rezeptor-(MC4R) Pfad. In den letzten Jahren profitierte die Adipositas-Forschung vor allem von der Weiterentwicklung der DNA-Chip-Technologien, mit Hilfe derer mittlerweile mehr als zwei Millionen Marker pro Individuum bestimmt werden können. „Wir verstehen nun eine große Gruppe von polygenen Ursachen für Adipositas besser und können mittels Risiko-Scores die individuelle Prädisposition besser abschätzen“, bestätigt Weghuber. Einerseits konnte in Studien gezeigt werden, dass es Menschen mit einer genetischen Prädisposition deutlich schwerer haben, ihr Gewicht zu halten. Andererseits verstehe man nun im Sinne der „personalisierten Präzisionsmedizin“ (Weghuber) auch die verbundenen Risiken pro Gentyp in Bezug auf Fettverteilung und Komorbiditäten besser. Ungeachtet des wissenschaftlichen Fortschritts bleiben weiterhin die ersten 1.000 Lebenstage eines Kindes entscheidend für die Geschmacksentwicklung und die metabolische Programmierung durch die Ernährung. „Damit ist die Prognose auch beeinflussbar“, sagt Weghuber.

Bereits im Kinder- und Jugendalter geht Adipositas – ebenso wie auch bei Erwachsenen – mit zahlreichen Erkrankungen einher: Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, Hyperglykämie/Typ 2-Diabetes, Steatosis hepatis, Gelenksschädigungen, Atherosklerose oder Asthma. „Fettleber wird häufiger bei Burschen diagnostiziert, während Mädchen bei Vorliegen einer Fettlebererkrankung ein doppelt so hohes Risiko für Typ 2-Diabetes haben“, erklärt Weghuber. Bei Kindern mit Adipositas ist Asthma mit einem schweren Krankheitsphänotypus sowie einer höheren Krankheitslast, häufigeren Krankheitsaufenthalten und Exazerbationen verbunden. Ebenso ist das kardiovaskuläre Risiko bei fettleibigen Kindern und Jugendlichen erhöht, endotheliale Dysfunktion oder Atherosklerose bereits in jungen Jahren nachweisbar.

Psychosoziale Belastungen

Neben den somatischen Erkrankungen bringen Übergewicht und Adipositas eine Reihe von psychosozialen Belastungen wie etwa Diskriminierung, Ausgrenzung und verminderte Selbstachtung mit sich. All dies führt zu einer verminderten Lebensqualität und einem erhöhten Depressionsrisiko. „Der Anteil von Kindern und Jugendlichen in stationärer psychiatrischen Behandlung aufgrund von Mobbing und von anderen psychiatrischen Erkrankungen ist überproportional hoch“, bekräftigt Weghuber. Diese „drastisch reduzierte“ Lebensqualität von betroffenen Kindern und Jugendlichen sei schlechter als jene von onkologischen Patienten einzustufen. Allerdings sei die „gelebte Praxis“ nach wie vor, dass Adipositas nicht konsequent frühzeitig als solche erkannt und daher weder von Eltern noch von Ärzten angesprochen werde, wodurch sich auch therapeutische Maßnahmen verzögerten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass aus Kindern mit Adipositas Erwachsene mit Adipositas werden, ist hoch. „Aus der Forschung wissen wir, dass diese Wahrscheinlichkeit bei einem drei- bis vierjährigen Kind mit Adipositas bei 80 Prozent liegt“, sagt Weghuber. Jegliche Therapie müsse daher nicht nur den BMI, sondern auch die Komorbiditäten – die metabolischen und die psychiatrischen – reduzieren. Interdisziplinäre Therapien und die Einbindung des familiären Umfeldes können zu einer relevanten Gewichtsreduktion führen, wodurch sich laut Weghuber „auch die metabolischen Variablen verbessern“ lassen. Allerdings schlagen verhaltenstherapeutische Maßnahmen nur bei einer geringen Zahl von Kindern und Jugendlichen an. Daher kommt der Überprüfung der Motivation und Therapiefähigkeit sowohl des Jugendlichen als auch seiner Familie vor der ambulanten Adipositas-Therapie zentrale Bedeutung zu.

Drei Therapieansätze

Im Zentrum der Therapie stehen die drei Ansätze – Lebensstiländerung, Ernährungsgewohnheiten und Bewegung. „Diese Trias gelingt vor allem bei Langzeitbetreuung – optimalerweise schon ab dem Vorschulalter – gut. Ohne diese kommt es häufig zu Rückfällen“, erklärt Kerbl. Allerdings werden häufig Therapie-Erfolge durch falsche Erwartungen zu Beginn der Therapie getrübt. „Führt eine Therapie zu einer Reduktion des BMI von 40 auf 38, dann wird das häufig gar nicht als Erfolg gesehen“, bedauert Weghuber. Bei der Behandlung der monogenen Adipositas spiele die medikamentöse Therapie in Zukunft eine zentrale Rolle. Auch ist bekannt, dass es bei Kindern, bei denen eine MC4R-Mutation vorliegt, bei Lebensstilinterventionen zu keiner BMI-Veränderung oder nur zu einer moderaten Gewichtsabnahme mit neuerlicher Gewichtszunahme nach der Intervention kommt. „Nach Jahrzehnten der völligen Frustration haben wir außerdem seit dem Vorjahr bei Jugendlichen mit Adipositas ab zwölf Jahren mit dem Glukagon-like-Peptid-1-Analogon Liraglutid ein zugelassenes Arzneimittel zur Verfügung, dass meiner Meinung nach vor allem bei schweren metabolischen Folgeerkrankungen zum Einsatz kommen sollte. Vor allem für jene mit einer hohen Krankheitslast bieten diese Arzneimittel eine Hoffnung“, so Weghuber. Wichtige Fragen seien allerdings noch ungeklärt – etwa die Dauer der Therapie. Ein bariatrischer Eingriff sei weiterhin nur in Ausnahmefällen indiziert, so das Fazit des Experten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 03 / 10.02.2022