Interview Paul Plener: Das Stimga Übergewicht

10.02.2022 | Medizin

Zwischen Adipositas und Depression gibt es eine bidirektionale Assoziation, sagt Univ. Prof. Paul Plener von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien. In einer Zeit, in der die Selbstoptimierung des Körpers im Vordergrund steht, stellt dies für Adipöse eine besonders schwierige Situation dar, wie er im Gespräch mit Manuela-C. Warscher erklärt.

Welche neuen Erkenntnisse gibt es im Zusammenhang mit Adipositas? Am spannendsten sind für mich die Forschungen zu bidirektionale Assoziationen zwischen Adipositas und Depression sowie die Erkenntnisse hinsichtlich der inflammatorischen Vorgänge bei Adipositas und Depression auf neurobiologischer Ebene. Derzeit geht man der Frage nach, warum es diese Wechselwirkung gibt. Es wird allerdings noch dauern, bis auf Grundlage dieser Forschung auch Behandlungskonzepte entwickelt werden können.

Wie wirkt sich Adipositas bei Kindern und Jugendlichen auf die Psyche aus? Zunächst muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Adipositas an sich keine psychiatrische Erkrankung ist. Vielmehr treten Depressionen oder andere psychische Störungen als assoziierte Krankheitsbilder bei Adipositas wie bei anderen Essstörungen auf. Adipöse Kinder und Jugendliche haben gegenüber normalgewichtigen Kindern ein 1,8-fach erhöhtes Risiko, eine depressive Störung zu entwickeln. Die Zahl der Jugendlichen mit Adipositas hat in der Allgemeinbevölkerung während Corona deutlich zugenommen. Dennoch hat sich die Situation zumindest an unserer Klinik diesbezüglich nicht verändert.

Wie sieht es mit dem Selbstwertgefühl der betroffenen Kinder und Jugendlichen aus? Auch wenn im Allgemeinen ‚Body Positivity‘ das Verständnis dafür geschaffen hat, dass nicht jeder gleich aussehen muss und auch Kinder mit Adipositas teilweise hier mitgenommen wurden, ist ihr Selbstwertgefühl deutlich unter dem von Normalgewichtigen. Stellen sich Erfolgserlebnisse in der Therapie ein, dann hebt sich auch das Selbstwertgefühl. Bei einem Nichtanschlagen der Therapie jedoch können Gefühle der Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit vorherrschend sein, die bis zum Abbruch der Therapie führen.

Welche Rolle spielt die negative Stereotypisierung von Kindern mit Adipositas? Viele von ihnen werden häufig inner- und außerschulisch gemobbt. In einer Zeit, in der die Selbstoptimierung des Körpers im Zentrum steht, in der der optimale Körper als Ideal angesehen wird, das man mit allen Mitteln von Sport bis hin zu Diäten anstrebt, ist Übergewicht ein Stigma. Übergewichtigen Leuten wird unterstellt, dass sie sich gehen lassen und sich nicht genug anstrengen. Das Klischee des ‚gemütlichen Rundlichen‘ ist im Jugendalter definitiv nichts, was erstrebenswert erscheint.

Wie hoch ist die Suizidrate unter den betroffenen Jugendlichen? Generell sind Suizidgedanken und Suizidversuche bei Mobbing-Opfern häufiger. Aufgrund der geringen Fallzahlen bei unter 18-Jährigen ist der Zusammenhang zu Suiziden nicht geklärt.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Wichtig ist es, enge Bezugspersonen wie Familie oder Geschwister in die Therapie in Form von Familiengesprächen einzubinden. Die Betroffenen werden dafür sensibilisiert, was ihnen guttut, was gesunde Ernährung bedeutet und sie lernen auch, was Genuss ist. Es steht im Mittelpunkt, dass man weg kommt von der Quantität hin zur Qualität. Das heißt: Neben der psychiatrischen Behandlung erhalten adipöse Kinder bei uns diätologische und physiotherapeutische Begleitung, um durch ein angepasstes Bewegungsprogramm auch die Gewichtsreduktion zu unterstützen.

Wie kann der Allgemeinmediziner diese Kinder und Jugendlichen unterstützen? Zwichen Adipositas und Depression gibt es Zusammenhänge. Das heißt: Adipositas kann auch ein Risikofaktor für die Entstehung einer Depression sein. Adipöse Kinder erfahren Mobbing, wodurch sich eine depressive Störung entwickeln kann, die wiederum mit vermindertem Antrieb und weniger Energie einhergeht, darauf folgt eine schlechtere Ernährung usw. Der Allgemeinmediziner sollte daher bei adipösen Jugendlichen das Thema Depression proaktiv ansprechen und etwa auf Basis von Fragebögen die Symptomatik erheben und ein Depressionsscreening durchführen. Wird in weiterer Folge die Depression adäquat behandelt, kann sich das auch positiv auf das Gewicht auswirken.

Gibt es dafür auch spezielle Behandlungsansätze? Am AKH Wien wird eine interdisziplinäre Adipositas-Therapie angeboten. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt des Comprehensive Center for Pediatrics und den Kliniken, die in die Betreuung von Kindern mit Adipositas involviert sind. Im Rahmen einer noch zwei Jahre laufenden Pilotstudie erfassen wir derzeit mittels gruppentherapeutischem Zugang den Zusammenhang zwischen Adipositas und Depression und analysieren dabei vor allem die biologischen Parameter.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 03 / 10.02.2022