Durchbruchschmerz: Immer mit emotionalem Anteil

11.04.2022 | Medizin

Jeder dritte Tumorpatient leidet an unkontrollierbaren Durchbruchschmerzen – besonders etwa in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium. Im Gegensatz zu akuten Schmerzen muss man chronische Schmerzen mehrdimensional betrachten. Denn: Es gibt keinen chronischen Schmerz ohne einen emotionalen Anteil.

Manuela-C. Warscher

Unabhängig von Alter und Krankheitsbild leiden zwei von drei Karzinom-Schmerzpatienten neben dem Basisschmerz an unkontrollierbaren Durchbruchschmerzen. Diesen kommt in der klinischen Praxis ein eigenständiger Krankheitswert zu, obwohl sie im Grunde gar kein eigenständiges Krankheitsbild sind. Betroffene beschreiben sie als ‚schwere und unerträgliche‘ Schmerzen, die in allen Tumorstadien dadurch gekennzeichnet sind, dass sie durch ihre Intensität die Daueranalgesie der Basis­medikation durchbrechen. „Rund die Hälfte erleidet zumindest zweimal täglich diesen Durchbruchsschmerz, der durchschnittlich eine halbe Stunde anhält“, betont Univ. Prof. ­Andreas ­Schlager von der anästhesiologischen Schmerz­ambulanz der Medizinischen Universität Innsbruck. Diese Schmerzen können entweder ereignisabhängig sein und etwa durch eine körperliche Belastung oder Nahrungsaufnahme auftreten oder durch unwillkürliche Provokation wie Niesen oder Husten ausgelöst werden. Sie können aber auch durch die Therapie selbst getriggert werden oder „ohne erkennbare Ursachen blitzartig einsetzen“, wie ­Schlager ausführt. Ihre größte Intensität erreichen sie nach drei bis zehn Minuten. Besonders anfällig für Durchbruchschmerzen sind Patienten in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium, mit Knochenschmerzen und mit neuropathischen Schmerzen.

Unterschied zu End-of-dose-Schmerzen

Vom Durchbruchschmerz müssen allerdings so genannte End-of-dose-Schmerzen abgegrenzt werden. Sie haben ihren Ursprung in der unzureichenden Dosierung oder in zu langen Inter­vallen bei der Basistherapie. Schlager dazu: „Hier kann mittels Dosiserhöhung oder Intervallverkürzung gegengesteuert werden.“ Verifizieren lässt sich eine derartige unzureichende Arzneimittelwirkung anhand von Schmerztagebüchern, die als simple Excel-Tabellen ein 24/7 Monitoring erlauben – über 24 Stunden an sieben Tagen der Woche. „Wenn also der Patienten über einen längeren Zeitraum täglich zur gleichen ­Stunde über Schmerzen klagt, dann kann der Allgemeinmediziner hier korrigierend eingreifen, indem er die Einnahme um ein oder zwei Stunden verschiebt“, sagt Schlager. Diese End-of-dose-Schmerzen kommen übrigens auch bei transdermalen Pflas­tern vor, wovon bis zu einem Drittel der Patienten betroffen ist. ­Außerdem müssen bei neu aufgetretenen Durchbruchschmerzen differentialdiagnostisch allfällige Infiltrationen, neue Pathologien und das Versagen der analgetischen Arzneimitteltherapie berücksichtigt werden.

Patienten aktiv ansprechen

Patienten berichten trotz der Intensität dieser Schmerzen eher selten von sich aus vom Ausmaß derselben. „Umso wichtiger ist es daher, dass der Allgemeinmediziner nach konkreten Sig­nalen der Durchbruchschmerzen fragt. Nur dann ist auch die Diagnose gesichert“, sagt Schlager. Dabei müssen Schmerz­details wie Häufigkeit, Dauer, Intensität, Ursachen, Auslöser und Linderung erörtert werden. „Wieder kann ein Schmerztagebuch einen guten Dienst erweisen, indem hier zusätzlich zur Dauer und Auslöser auch die Intensität anhand einer Skala von null bis zehn vermerkt wird.“ Für die erste Einschätzung reicht zunächst eine 14-tägige Aufzeichnung aus. Allerdings: „Schmerz ist ein Gesamterlebnis“, gibt Univ. Prof. Martin Aigner von der Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie am Universitätsklinikum Tulln zu bedenken. „Es gibt keinen chronischen Schmerz ohne emotionalen Anteil.“ Im Gegensatz zum Akutschmerz sind chronischen Schmerzen daher auch mehrdimensional zu verstehen. „Als Ursachen kommen biologische, psychologische und soziale Faktoren in Frage. Das Behandlungsziel muss daher in einem besseren Umgang mit den Schmerzen und einer Verbesserung der Lebensqualität liegen“, so Aigner. Deshalb sei es wichtig, dass der Allgemeinmediziner den Durchbruchschmerz weniger als ‚Schmerz‘ und damit auf seine Sinndimension reduziert sieht, sondern als ‚Weh‘ versteht, wodurch zusätzlich das Augenmerk auf die Gefühlsebene gelenkt werde.

In der Praxis kommt demnach zusätzlich zur pharmakologischen auch der nicht-pharmakologischen Behandlung wie Physio- und Psychotherapie ein hoher Stellenwert zu. Generell sei dieses bio­psychosoziale Modell Teil des multimodalen Gesamtkonzepts zur Reduktion der Intensität und Häufigkeit der Schmerzanfälle, wie Aigner weiter ausführt. Tatsächlich entwickeln Patienten als Folge ihrer Tumor-bedingten Durchbruchschmerzen häufig Schlafstörungen, Angststörungen oder Depressionen. Depressive Verstimmungen wiederum können zur Chronifizierung des Schmerzes beitragen. „Umso wichtiger ist es, Stressoren wie existentielle Sorgen vor der Auswahl der Therapiemaßnahmen zu erheben“, so Aigner. Häufig können Antidepressiva wie beispielsweise das Narkotikum Ketamin, das seit einigen Jahren als Antidepressivum zugelassen ist, bei der Schmerztherapie erfolgreich sein, denn „sie greifen modifizierend ins Schmerzsystem ein, tragen so zur emotionalen Stabilisierung bei und durchbrechen folglich den Teufelskreis.“


Therapie des Durchbruchschmerzes

  • Bestmögliche Therapie der eigentlichen Schmerzursachen;
  • Vermeidung von Schmerz-auslösenden Faktoren (Lageveränderungen: Gehen, Liegen etc.; besondere Belastungen);
  • Bei einem End-of-dose-Failure: Anpassung der Dosis und des Einnahme-Intervalls des Arzneimittels, das für die Therapie des Dauerschmerzes eingesetzt wird oder eine Änderung der Applikationsform: etwa von oral auf transdermal;
  • Bedarfsmedikation, die dem Ereignis und den individuellen Patientenbedürfnissen angepasst ist (Durchbruchschmerzmedikation);
  • Einsatz von nicht-pharmakologischen Maßnahmen (Physiotherapie, Psychotherapie).

WHO-Stufenschema

Stufe I: Nichtopioid-Analgetika: Metamizol, NSAR,
Paracetamol
Stufe II: Schwache Opioide: Tramadol, Dihydrocodein
Stufe III: Starke Opioide: Hydromorphon, Oxycodon, Morphin,
Fentanyl, Buprenorphin Tapentadol
Stufe IV: Invasive Methoden


Schmerzauslösende Faktoren ausschalten

Außerdem müssen vor Beginn der Therapie schmerzauslösende Faktoren ausgeschalten werden. Auch können nach dem Vermeidungsprinzip vor allem bei nicht Tumor-bedingten Durchbruchschmerzen rasch Erfolge erzielt werden. „Schmerzt beispielsweise die Wirbelsäule nach langem Gehen und der Schmerz verschwindet in Ruhephasen, wird man es vermeiden, lange zu gehen“, so Schlager.

Die Arzneimitteltherapie von Tumor-bedingten Durchbruchschmerzen erfolgt mit starken Opioiden (Stufe III des WHO-Schemas). Dabei kommen enterale, kurz wirksame Opioide (immediate release) wie Morphin oder Hydromorphon sowie transmukosale Fentanyl-Präparate (rapid onset) als Lutschtabletten (buccal oder sublingual) oder Nasensprays zum Einsatz. „Kurz wirksame Opioide werden aufgrund ihres Sucht­potentials bei nicht Tumor-bedingten Schmerzen lediglich kurzfristig und unter strenger ­Kontrolle ­verabreicht. Besondere Vorsicht ist hier bei (ehemaligen) Rauchern, Alkohol­abhängigen oder sonstigem Suchtverhalten geboten.“

Indikation für Rapid-Onset-Opioide

Ausnahmslos bei Tumor-bedingten Durchbruchschmerzen zugelassen sind Rapid-Onset-Opioide. Ebenso sind Rapid-­Onset-Opioide nicht für die Therapie von pädiatrischen Tumorschmerz­patienten zugelassen und werden oft durch Morphin ersetzt. Aigner ergänzt: „Zwar reduzieren Opiate den Durchbruchschmerz, doch sie sorgen langfristig dafür, dass ­Patienten empfindlicher auf den Schmerz reagieren und damit die psychische Dimension des Schmerzerwartens verstärkt wird.“ Intravenöse und subkutane Analgesie durch transportable externe Arznei­mittelpumpen für die intravenöse Opioid-Abgabe „sorgen für eine rasche Wirkung bereits nach wenigen Minuten, stellen aber dennoch die ­Ultima ratio der Behandlung dar“, erklärt Schlager. Ebenso gilt auch die Spinal Cord-Stimulation als letztmögliche Dauerschmerz-Option bei chronischen Wirbelsäulenschmerzen, wie Schlager erklärt. „Der Allgemein­mediziner kann Betroffene diesbezüglich an eine Schmerz­ambulanz überweisen“, so Schlager.

Ganz generell komme dem Allgemeinmediziner bei der Bewältigung von chronischen Schmerzen beziehungsweise Durchbruchschmerzen die Rolle eines Moderators im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit von Gesundheitsberufen zu, sagt Aigner. Im Zentrum des Schmerzmanagements ­müsse die Frage stehen, wie der Patient mit dem Schmerz umgeht und zurechtkommt. „Das Selbsthilfepotential wie etwa eine mögliche Schmerzbewältigungsstrategie muss im Vorfeld abgeklärt werden“, so Aigner. Ziel ist es, negative Gedanken zu eliminieren und zu einem besseren Umgang mit dem Schmerz zu kommen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 07 / 10.04.2022