Die Psychologie der Compliance: Konsensuale Entscheidung

15.07.2022 | Medizin

Nur jeder zweite Patient nimmt seine Dauermedikation wie verordnet ein. Vor allem in den ersten sechs Monaten sind chronisch Kranke besonders incompliant. Wird das Behandlungskonzept konsensual mit dem Patienten entwickelt, wird die Adhärenz gesteigert; Ängste und Unsicherheiten reduziert.

Manuela-C. Warscher

Nehmen noch bis zu 80 Prozent der Patienten die Kurzzeitmedikation wie vom Arzt verordnet ein, so hält sich bei der Langzeitmedikation nur noch jeder Zweite daran. Diese mangelnde Therapietreue (Adhärenz, Compliance) betrifft unterschiedliche Arzneimittel – von Antidepressiva bis Antidiabetika – und Patientengruppen. Doch sind Patienten mit einer chronischen Erkrankung eher non-adhärent und erweisen sich vor allem in ersten sechs Monaten nach der Diagnose als besonders therapieuntreu. Die Gründe sind individuell und vielseitig.

Defizite als Ursachen

Patienten, die non-adhärent sind, sind grundsätzlich sehr wohl bereit, sich an das Behandlungsschema zu halten. Allerdings vergessen sie aufgrund von kognitiven oder anderen Defiziten auf die Einnahme des Arzneimittels. Außerdem verstärken Komorbiditäten, früheres non-adhärentes Verhalten oder die Angst vor Nebenwirkungen und mangelndes Wissen über die Erkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten die Non-Adhärenz. „Zudem schlägt sich häufig das eventuell fehlende Wissen, wie das verordnete Arzneimittel korrekt eingenommen werden muss, negativ auf den Therapieerfolg nieder“, betont Lucie Bartova von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. Die Expertin berichtet von einem Insult-Patienten, dessen Rezidiv darauf zurückzuführen war, dass er die gerinnungshemmende Medikation nicht als Langzeitmedikation verstanden hatte.

Umso wichtiger ist eine tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung und die „kooperative Entwicklung“ des Therapiekonzeptes, die die Grundlage für den Behandlungserfolg bildet. In anderen Worten: Ein gut informierter Patient, der seine Erkrankung zwar als ernst, aber behandelbar versteht, zeigt eine bessere Therapietreue. „Der Patient muss in der Arzt-Patienten-Beziehung als gleichwertiger Partner gesehen werden. Nur so kann die Therapietreue erhöht werden“, sagt Bartova. Daher dominiert heute auch der Begriff Adhärenz in Bezug auf Therapietreue. Sie steht nämlich für jenes Modell, das die Interaktion zwischen Arzt und Patient unterstreicht. „Wird ein Therapieplan auf Grundlage eines Behandlungskonsenses erstellt, trägt dies signifikant zur Adhärenz des Patienten bei“, so Bartova. Um diesen Konsens zu erreichen, müsse einerseits der Arzt alle „differentialdiagnostischen“ Schritte erklären, um so dem Patienten die nötige Orientierung zu geben. Andererseits muss aber auch dem Patienten „ausreichend Raum für seine Schilderungen und Fragen“ geboten werden. „Sobald der Patient in die ärztlichen Überlegungen eingebunden wird, fühlt er sich gehört und erhält die Gelegenheit, seine Bedenken und Ängste zu äußern.“ Gestaltet nun der Patient auf diese Weise seine Therapie „aktiv“ mit, wird er sie auch als „passend“ empfinden. Trotzdem empfiehlt die Expertin, den Patienten zu bitten, am Ende jedes Arzttermins die besprochenen Punkte nochmals zusammenzufassen. Dies sei vor allem aufgrund der Tatsache, dass Patienten lediglich etwas mehr als die Hälfte des Arztgespräches überhaupt aufnehmen, notwendig. Zeigt der Patient trotz all dieser Bemühungen keine Bereitschaft, die Therapie wie besprochen einzuhalten, können „Vor- und Nachteile seiner Verweigerung gemeinsam diskutiert und gegebenenfalls Alternativen aufgezeigt“ werden, so Bartova.

Therapieverständnis beeinflusst Adhärenz

Ein umfassendes Therapieverständnis wirkt sich auch nachhaltig auf die Adhärenz des geriatrischen Patienten aus. In dieser Patientengruppe vermindern nachlassende Feinmotorik, Schwierigkeiten beim Teilen der Tabletten oder Verwechslungen von Arzneimitteln beispielsweise aufgrund der verminderten Sehfähigkeit die Therapietreue. Dazu kommt, dass die Anzahl der verschriebenen Arzneimittel meist auch die Kooperationsbereitschaft des älteren Patienten reduziert. Tatsächlich steigt die Nicht-Adhärenz bei drei verordneten Arzneimitteln bereits auf 40 Prozent; bei einem liegt sie bei zehn Prozent. Diesem Negativtrend könne laut Experten am besten mit Kombinationspräparaten begegnet werden. Darüber hinaus scheint der Übergang von der stationären zur ambulanten Versorgung die Therapietreue negativ zu beeinflussen. Dennoch: Die Interaktion zwischen Arzt und Patient lässt sich auch beim älteren Patienten realisieren: mit einer guten Gesprächstechnik wie langsames und deutliches Sprechen, dem Vermeiden von Fachbegriffen oder dem Bereitstellen von Papier und Kugelschreiber für Notizen – und vor allem dem „Wiederholen lassen von zentralen Eckpunkten“, so Bartova.


Auf einen Blick

  1. Mangelnde Therapietreue (Adhärenz, Compliance) betrifft unterschiedliche Arzneimittel und Patientengruppen.
  2. Wichtig ist eine tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung mit aktivem Zuhören, gemeinsame aktive Therapieentscheidung und Psychoedukation.
  3. Am Ende des Gesprächs den Patienten das soeben Besprochene wiederholen lassen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2022