Des­zen­sus und Inkon­ti­nenz: Ähn­lich und doch verschieden

01.07.2022 | Medizin

Jede zweite Frau mit Inkon­ti­nenz lei­det auch an einem Des­cen­sus uteri. Den­noch soll­ten diese bei­den Krank­heits­bil­der aus­ein­an­der­ge­hal­ten wer­den. Auch wenn sie sich teil­weise über­lap­pen, ist die jewei­lige Behand­lungs­stra­te­gie doch teil­weise anders.

Sophie Fessl

Gebär­mut­ter­sen­kung und Inkon­ti­nenz sind zwei Krank­heits­bil­der, die oft the­ma­tisch unter dem Sam­mel­be­griff Becken­bo­den­schwä­che zusam­men­ge­fasst wer­den, obwohl die Krank­heits­bil­der völ­lig unab­hän­gig von­ein­an­der auf­tre­ten kön­nen“, erklärt Priv. Doz. Tho­mas Aigmül­ler von der Abtei­lung Gynä­ko­lo­gie und Geburts­hilfe am LKH Hoch­stei­er­mark. Auch Ste­phan Krops­ho­fer von der uro­gy­nä­ko­lo­gi­schen Ambu­lanz an der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Gynä­ko­lo­gie und Geburts­hilfe der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck betont, dass eine Koin­zi­denz der bei­den Krank­heits­bil­der besteht. „Unge­fähr 50 Pro­zent aller Frauen mit Inkon­ti­nenz lei­den auch unter Des­cen­sus uteri oder Pro­laps. Trotz­dem soll­ten die bei­den Krank­heits­bil­der aus­ein­an­der­ge­hal­ten wer­den, da sie sich in ihrer Behand­lung teil­weise unterscheiden.“

Eine Gebär­mut­ter­sen­kung sollte Pati­en­tin­nen-zen­triert behan­delt wer­den, betont Aigmül­ler. „Per se ist eine Sen­kung von Schei­den­an­tei­len oder der Gebär­mut­ter nicht gefähr­lich. Eine Behand­lung ist ange­zeigt, wenn Beschwer­den auf­tre­ten.“ Bei der Ent­schei­dung, ob eine Behand­lung indi­ziert ist, sollte indi­vi­du­ell auf die Pati­en­tin ein­ge­gan­gen wer­den, rät Krops­ho­fer. Denn man­che Pati­en­tin­nen mit einem objek­tiv mess­bar gerin­gem Tie­fer­tre­ten von Organ­struk­tu­ren erle­ben mas­sive Ein­bu­ßen ihrer Lebens­qua­li­tät. Umge­kehrt berich­ten man­che Frauen mit einer aus­ge­präg­ten Sen­kung oder einem Pro­laps über nur geringe oder gar keine Beschwer­den. „In die­sem Span­nungs­feld bewe­gen wir uns. Denn objek­tive mess­bare Scores kor­re­lie­ren nicht immer mit dem sub­jek­ti­ven Erle­ben der Pati­en­tin, das aber für die The­ra­pie­ent­schei­dung essen­ti­ell ist.“

Solange eine Sen­kung nicht aus­ge­prägt ist und noch kein Pro­laps vor­han­den ist, aber Beschwer­den wie Zie­hen oder ein Fremd­kör­per­ge­fühl auf­tre­ten, kann Phy­sio­the­ra­pie des Becken­bo­dens zur Lin­de­rung der Beschwer­den füh­ren. „Hier kommt es zu kei­ner ana­to­mi­schen Kor­rek­tur der Sen­kung. Aber die Beschwer­den kön­nen sich bes­sern bezie­hungs­weise das Fort­schrei­ten der Sen­kung wird ver­lang­samt“, berich­tet Aigmül­ler. Damit eine Bes­se­rung ein­tritt, müsse das Becken­bo­den­trai­ning von Phy­sio­the­ra­peu­tin­nen ange­lei­tet wer­den, erklärt Krops­ho­fer. „Wie Stu­dien bereits gezeigt haben, reicht ein selbst ange­lei­te­tes Becken­bo­den­trai­ning nicht.“

Alter bestimmt Therapie

Falls es den­noch zu einer wei­te­ren Sen­kung kommt, ste­hen zwei wei­tere Behand­lungs­op­tio­nen zur Ver­fü­gung: eine kon­ser­va­tive The­ra­pie mit Pes­sa­ren oder eine ope­ra­tive Sanie­rung der Sen­kung. Prin­zi­pi­ell sei die Pes­sar-The­ra­pie für jede Pati­en­tin mög­lich, sagt Aigmül­ler. „Je jün­ger eine Pati­en­tin, desto eher ist die Emp­feh­lung eine ope­ra­tive Sanie­rung, da die Pes­sar-The­ra­pie sonst lebens­lang erfor­der­lich ist. Prin­zi­pi­ell gibt es kein Aus­schluss­kri­te­rium. Aller­dings kommt für ältere, betagte Pati­en­tin­nen auf­grund des hohen ope­ra­ti­ven Risi­kos eher eine Pes­sar-The­ra­pie in Frage.“

Bei der Pes­sar-The­ra­pie kann – an die Pati­en­tin ange­passt – aus unter­schied­li­chen Pes­sar-For­men gewählt wer­den. Ring­pes­sare lie­gen auf der Becken­bo­den­mus­ku­la­tur auf und müs­sen, da sie auf die Scheide drü­cken und Ulcera ver­ur­sa­chen kön­nen, regel­mä­ßig bei einem nie­der­ge­las­se­nen Fach­arzt für Gynä­ko­lo­gie oder in einer gynä­ko­lo­gi­schen Ambu­lanz gewech­selt wer­den. Eine Mit­be­hand­lung mit Hor­mon­zäpf­chen soll die Schleim­haut schüt­zen. Wür­fel­pes­sare hin­ge­gen hal­ten die Organ­struk­tu­ren auf­grund ihrer Saug­wir­kung in Posi­tion. Sie kön­nen von der Pati­en­tin selbst ent­fernt und daher auch nur in bestimm­ten Situa­tio­nen getra­gen wer­den. Wür­fel­pes­sare ver­ur­sa­chen sel­te­ner Druck­ge­schwüre als Ring­pes­sare, erklärt Krops­ho­fer. „Aller­dings muss die Pati­en­tin das Pes­sar selbst ent­fer­nen kön­nen. Daher kom­men Wür­fel­pes­sare nicht für alle Pati­en­tin­nen wie etwa Bewoh­ne­rin­nen von Pfle­ge­hei­men in Frage.“

Hohe Erfolgs­quote bei ope­ra­ti­ver Korrektur

Trotz die­ser Mög­lich­keit mit Hilfe von Pes­sa­ren ist die ope­ra­tive Kor­rek­tur der Sen­kung die üblichste The­ra­pie, so Aigmül­ler. Hier seien die Erfolgs­quo­ten hoch, die Re-Ope­ra­ti­ons­rate auf­grund einer neu­er­li­chen Sen­kung liegt unter zehn Pro­zent. Je nach Sen­kungs­ge­sche­hen wer­den unter­schied­li­che Ope­ra­ti­ons­me­tho­den ein­ge­setzt, erklärt Krops­ho­fer. „Ziel ist es, die Lücken in den Bin­de­ge­webs­schich­ten wie­der zu fül­len. Hier haben Repa­ra­tur­ver­su­che mit kör­per­ei­ge­nem Mate­rial in den letz­ten Jah­ren ein Revi­val erlebt.“

Alter­na­ti­ven zu kör­per­ei­ge­nem Gewebe

Die Alter­na­tive, wenn kör­per­ei­ge­nes Mate­rial nicht zur Repa­ra­tur aus­reicht, ist das Ein­brin­gen von Kunst­stoff­net­zen. Auf­grund von Pro­ble­men, die diese Netze oder „Mes­hes“ ver­ur­sa­chen kön­nen wie Offen­lie­gen, Ero­sio­nen in die Vagina und Schmer­zen, hat die US-ame­ri­ka­ni­sche FDA (Food and Drug Admi­nis­tra­tion) vor rund zehn Jah­ren eine War­nung aus­ge­spro­chen. „Bei einer Ero­si­ons­rate von zehn bis 16 Pro­zent je nach Lite­ra­tur kommt es bei jeder sieb­ten bis ach­ten Frau zu einer Ero­sion“, erläu­tert Krops­ho­fer. Wäh­rend in Groß­bri­tan­nien und in Aus­tra­lien Kunst­stoff­netze sehr restrik­tiv und nur noch in der Vagina ver­wen­det wer­den, so wer­den diese in Öster­reich und Deutsch­land noch brei­ter ein­ge­setzt, so Krops­ho­fer. In der Pri­mär­si­tua­tion werde hier­zu­lande ver­sucht, die Schä­den mit­tels kör­per­ei­ge­nem Mate­rial zu sanie­ren. Aller­dings wird zwi­schen vagi­na­len Mes­hes und Net­zen, die über den Bauch ein­ge­bracht wer­den, unter­schie­den. Letz­tere wer­den bereits seit Jah­ren in der Leis­ten­bruch-Chir­ur­gie ein­ge­setzt und ver­hal­ten sich anders, so Krops­ho­fer. „Netze, die über den Bauch ein­ge­bracht wer­den, kön­nen in der Gynä­ko­lo­gie bereits in der Pri­mär­si­tua­tion ein­ge­setzt wer­den, wenn die Indi­ka­tion stimmt.“ Netze, die über die Scheide ein­ge­bracht wer­den, soll­ten in der Pri­mär­si­tua­tion nicht ver­wen­det wer­den, kön­nen aber in der Rezi­div-Situa­tion zum Ein­satz kommen.

Bei man­chen Frauen mit einem Des­zen­sus tre­ten auch Funk­ti­ons­stö­run­gen der Harn­blase auf; hier kann der Des­zen­sus die Ursa­che für die Inkon­ti­nenz dar­stel­len. Aller­ding wird nicht jede Inkon­ti­nenz durch Sen­kung ver­ur­sacht. „Bei­des ist häu­fig und es ist wich­tig, Inkon­ti­nenz zu ent­ta­bui­sie­ren und Frauen zu ermu­ti­gen, Hilfe zu suchen“, erklärt Aigmüller.

Beide Haupt­for­men der Inkon­ti­nenz, die Belas­tungs­in­kon­ti­nenz und die Dran­gin­kon­ti­nenz, kön­nen – müs­sen aber nicht – durch eine Sen­kung ver­ur­sacht wer­den. Um wel­che Form der Inkon­ti­nenz es sich han­delt, kann anhand der Ana­mnese unter­schie­den wer­den. Auch bei der Inkon­ti­nenz kann als ers­ter the­ra­peu­ti­scher Schritt ein Becken­bo­den­trai­ning ange­bo­ten wer­den. Bei einer Belas­tungs­in­kon­ti­nenz ist das Becken­bo­den­trai­ning unter phy­sio­the­ra­peu­ti­scher Anlei­tung die Erst­li­ni­en­the­ra­pie. „Für die Dia­gnose der Belas­tungs­in­kon­ti­nenz reicht die exakte Ana­mnese“, erklärt Aigmüller.

Reicht die Phy­sio­the­ra­pie nicht aus, kann die Belas­tungs­in­kon­ti­nenz ope­ra­tiv beho­ben wer­den. Stan­dard­the­ra­pie ist die Ein­brin­gung von Poly­pro­py­len-Bän­dern unter den Ring­mus­kel am Harn­röh­ren­ende, das Ten­sion-free Vagi­nal Tape (TVT). „Zu rund 90 Pro­zent kann hier eine Ver­bes­se­rung für die Pati­en­tin erzielt wer­den“, berich­tet Krops­ho­fer. Alter­na­tiv kön­nen abdo­mi­nelle oder lapa­ro­sko­pi­sche Bla­sen­hals­he­bungs­ope­ra­tio­nen durch­ge­führt wer­den, die aller­dings inva­si­ver sind als die Ver­wen­dung von TVT. „Da das Ten­sion-free Vagi­nal Tape weni­ger Netz­ma­te­rial benö­tigt, ver­ur­sacht es auch weni­ger Neben­wir­kun­gen. Es kann zwar auch zu einer Ero­sion kom­men – aber zu einem gerin­ge­ren Pro­zent­satz“, erläu­tert Kropshofer.

Quetsch-Harn­in­kon­ti­nenz durch Senkung

Bei man­chen Pati­en­tin­nen mit Sen­kung tritt eine Quetsch-Harn­in­kon­ti­nenz auf. Auf­grund der Sen­kung ist die Harn­röhre geknickt; dadurch ver­lie­ren die Pati­en­tin­nen bei Belas­tung wenig Harn. „Wenn die Sen­kung beho­ben ist, kann es sein, dass eine Belas­tungs­in­kon­ti­nenz auf­tritt“, berich­tet Krops­ho­fer. Dies kann prä­ope­ra­tiv mit­hilfe eines Pes­sars oder einer uro­dy­na­mi­schen Mes­sung abge­klärt wer­den, um die Pati­en­tin über das mög­li­che Out­come einer Ope­ra­tion aufzuklären.

Auch eine Dran­gin­kon­ti­nenz oder über­ak­tive Blase (Over­ac­tive Blad­der) kann mit einer Sen­kung zusam­men­hän­gen. Die über­ak­tive Blase zeich­net sich durch ein star­kes Drang­ge­fühl aus. Bei Pati­en­tin­nen mit Over­ac­tive Blad­der wet ent­leert sich die Blase zu früh. Wenn die Dran­gin­kon­ti­nenz in Zusam­men­hang mit einer Sen­kung steht, kann die ope­ra­tive Sanie­rung der Sen­kung zu einer Bes­se­rung der Inkon­ti­nenz füh­ren, erklärt Krops­ho­fer. „Wenn die Blase zurück­ver­la­gert wird, bes­sert sich die Inkon­ti­nenz oft, denn die Pati­en­tin hat auch weni­ger Rest­harn und Bla­sen­in­fekte redu­zie­ren sich, die ja Drang verursachen.“

Östro­gene, Trai­ning und Anticholinergika

Wenn die Dran­gin­kon­ti­nenz unab­hän­gig von einer Sen­kung auf­tritt, kön­nen Östro­ge­ni­sie­rung und Becken­bo­den­trai­ning hel­fen. Aller­dings wird häu­fig eine medi­ka­men­töse The­ra­pie benö­tigt, betont Aigmül­ler. „Eine anti­cho­li­nerge medi­ka­men­töse The­ra­pie kann auch ohne Auf­su­chen einer Spe­zi­al­am­bu­lanz ver­schrie­ben wer­den, hier reicht die ana­mnes­ti­sche Dia­gno­se­stel­lung ohne appa­ra­tive Hilfe.“ Bei erst kurz­fris­tig bestehen­den Beschwer­den sollte ein Harn­wegs­in­fekt aus­ge­schlos­sen bezie­hungs­weise ambu­lant behan­delt wer­den. Führt das Anti­cho­li­ner­gi­kum zu kei­ner Bes­se­rung, sollte die Pati­en­tin in ein Set­ting emp­foh­len wer­den, in dem eine erwei­terte Dia­gnos­tik mög­lich ist, so Aigmül­ler. „Auch bei einer Makro­hä­ma­tu­rie oder einer anhal­ten­den Mikro­hä­ma­tu­rie sollte eine Abklä­rung in einer ent­spre­chen­den uro­lo­gi­schen Ambu­lanz erfol­gen.“ Wich­tig, so Aigmül­ler, sei auch, den Pati­en­tin­nen mit­tels Ver­ord­nung den Zugang zu Inkon­ti­nenz­pro­duk­ten zu ermöglichen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 12 /​25.06.2022