Cannabis: Suchtpotential ist nicht null

16.08.2022 | Medizin

Cannabidiol wird für unzählige Indikationen angepriesen. Dennoch ist die Dosierung der zum Kauf angebotenen Präparate so gering, dass sie mit jener von Placebo vergleichbar ist. Werden die zugelassenen THC-Präparate streng nach Indikation verordnet, ist das Suchtpotential zwar nicht null, aber dennoch gering.

Manuela-C. Warscher

Mehr als 500 Inhaltsstoffedes Hanfs (Cannabis) sind bekannt; bei lediglich 85 ist die Struktur geklärt. Allerdings werden in der Medizin nur zwei aus der weiblichen Hanfpflanze gewonnene Inhaltsstoffe angewendet: Tetra Hydro Cannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Während THC als partieller Agonist am CB1-­ und CB2­-Rezeptor wirkt, hat CBD antagonistische Wirkung am CB1-­Rezeptor und wirkt als negativer allosterischer Modulator am CB2­-Rezeptor. Aufgrund der psychotropen Wirkung wird THC als Suchtgift eingestuft und fällt somit unter das Suchtmittelgesetz. CBD weist keinerlei psychotrope Wirkung auf und wird in Österreich als Nahrungsergänzungsmittel klassifiziert.

Die Verschreibung von Marihuana (Blätter und Blüten mit bis zu zehnprozentigem THC­-Gehalt) ist in Österreich – im Gegensatz zu Deutschland – verboten. „Und das ist gut so“, sagt Kurosch Yazdi­-Zorn von der Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin am Kepler Universitätsklinikum, da man es nicht dosieren könne. „Ich kann beispielsweise Penicillin abgestimmt auf das Gewicht verschreiben. Bei Marihuana kann ich nicht sagen, wie oft ein Patient einatmen und wie lange er den Atem anhalten muss.“ Univ. Prof. Gabriele Fischer von der Suchtforschung und Suchttherapie der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien, bekräftigt: „Dennoch soll jeder, der Cannabis­haltige Arzneimittel braucht, sie auch mit wenig Bürokratie erhalten.“ Der Erstattungsstatistik der Sozialversicherung zufolge werden derzeit geschätzte 10.000 Patienten mit einem THC­-Präparat therapiert. Yazdi­Zorn gibt dabei allerdings zu bedenken, dass THC keine heilende Wirkung hat, vielmehr „mildert es lediglich bestimmte Symptome, aber anders als ein Antibiotikum mit einer dezidiert bakteriziden Wirkung“.

Indikation zählt

Grundsätzlich gelte daher, „dass Ärzte bei der Verschreibung streng auf die Indikation achten und nicht dem Wunsch des Patienten“ entsprechen, unterstreicht Yazdi­-Zorn. Und weiter: „In Deutschland wird Marihuana primär Patienten zwischen 20 und 30 Jahren verschrieben und nicht alten multimorbiden Menschen“. Außerdem werden Erhebungen zufolge mehr Männer, die Vorerfahrung mit Cannabis haben, mit Cannabis­haltigen Arzneimitteln behandelt. Ihre Diagnosen weichen außerdem meist von den üblicherweise behandelten wie Schmerz, Spastik oder Anorexie ab. „Es ist also weniger ein medizinischer Bedarf als eine Modedroge“, kritisiert Yazdi­Zorn die deutsche Verschreibungspraxis.

Derzeit unterscheidet man zwischen reinen THC-­Präparaten (Dronabinol, Nabilon), reinen CBD­-Präparaten (Epidiolex) und Mischpräparaten (Sativex), die in Österreich als magistrale Zubereitung und  Fertigarzneimittel abgegeben werden.

Diese Präparate weisen einen unterschiedlichen THC­Anteil auf: Marihuana zwischen 0,5 und zehn Prozent; CBD-­Präparate, die in diversen Hanfshops erhältlich sind, weniger als 0,3 Prozent. „THC darf lediglich bei zwei Indikationen eingesetzt werden: bei therapieresistenter Übelkeit unter einer Chemotherapie, wenn andere Antiemetika versagt haben, und aufgrund der appetitanregenden Wirkung bei Kachexie“, so Yazdi­Zorn. Außerdem könne THC bei neurologischen Erkrankungen wie einem Insult oder einer Hirnblutung, die mit spastischen Lähmungen einhergehen, eine spasmolytische Wirkung haben. Allerdings: Die Datenlage für diese Indikationen ist unzureichend. Viele der Studien vergleichen THC beispielsweise in der Indikation „Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie“ weiterhin mit antiemetischen Therapien aus den 1970er und 1980er Jahren. Auch bei AIDS­assoziierter Anorexie ist die Datenlage wenig aussagekräftig. Jedenfalls kontraindiziert ist THC „bei Depressionen und Schlafstörungen“, betont Yazdi­-Zorn. Besonders kritisch sieht der Experte die Verschreibung von THC als Beruhigungsmittel. Denn: „Ich könnte dann auch Alkohol verschreiben, der hilft auch kurzfristig. Aber eben nur kurzfristig. Was bleibt, ist die Abhängigkeitsgefährdung.“ Yazdi­-Zorn verweist auf den einst weit verbreiteten Einsatz von Benzodiazepinen als Beruhigungs­ und Schlafmittel mit den bekannten Folgen. „THC soll nicht ebenso unklug eingesetzt werden“, lautet sein Fazit.

Konkrete Daten gibt es zum CBD-­haltigen Präparat Epidiolex, das seit 2019 in Europa ausschließlich für die Therapie des Dravet­Syndroms und der Lennox­-Gastaut­-Epilepsie bei Kindern zugelassen ist. Außerdem ist das Mischpräparat Sativex mit einem 52­prozentigen THC­ und einem 48-­prozentigen CBD-­Anteil bei der Behandlung der Multiplen Sklerose und Spasmen zugelassen. „Trotzdem steht das ‚Wundermittel‘ CBD weiterhin in Verdacht, bei 1.000 Indikationen zu wirken und viele Patienten holen es sich regelmäßig aus den Hanfshops. Doch die Dosierung ist so niedrig, dass sie mit jener von Placebo vergleichbar ist“, sagt Yazdi­-Zorn. Während die Wirkung von Epidiolex bei einer Dosis von „mehreren 100 mg“ eintritt, werden im Hanfshops „Wirkversprechen“ bei „fünf Tropfen je zwei mg“ abgegeben.

Aufklärung über Suchtpotential

Hält sich der Patient an das verschriebene Präparat in der spezifischen Indikation und kifft nicht zusätzlich, ist die Suchtgefährdung „gering, jedoch nicht Null“, sagt Yazdi-­Zorn. Vor allem sind Patienten, die streng nach Indikation eingestellt werden, nicht das „Klientel, das sich das Präparat zusätzlich am Schwarzmarkt besorgt“. Dennoch müssen Ärzte ihre Patienten über das Suchtpotential von Cannabis-­haltigen Arzneimitteln aufklären. Fischer schätzt, dass etwa 30 Prozent der Bevölkerung regelmäßig Cannabis konsumieren. „Abhängigkeitsrisiko ist eine Frage der Intensität und der Frequenz, nicht so sehr des Suchtmittels.“ Häufig würde auch nicht hinterfragt, ob dem intensiven Konsum nicht etwa eine Erkrankung wie ADHS oder affektive Erkrankungen zugrunde liege, deren Symptome mit Cannabis gelindert würden, sagt Fischer. „Die Betroffenen konsumieren Cannabis als Selbstmedikation.“ Der niedergelassene Allgemeinmediziner soll daher eine diagnostische Abklärung anhand von ADHS­Screenings bei „intensivem Cannabiskonsum“ in Erwägung ziehen.


Auf einen Blick

1) THC hat psychotrope Wirkung und fällt daher unter das Suchtmittelgesetz. CBD wird als Nahrungsergänzungsmittel klassifiziert.
2) Marihuana ist in Österreich verboten. Im Gegensatz zu anderen Arzneimitteln kann es nicht exakt dosiert werden und hat keine heilende Wirkung.
3) Die Verschreibung von verfügbaren THC-haltigen Arzneimitteln (Dronabinol, Nabilon, Sativex) soll streng nach Indikation erfolgen: Übelkeit unter Chemotherapie, Kachexie, Multiple Sklerose mit Spasmen.
4) Das CBD-haltige Arzneimittel Epidiolex ist bei seltenen Epilepsieformen bei Kindern zugelassen. 5) Die Dosierung der in Hanfshops erhältlichen CBD-Präparate bringt lediglich einen Placeboeffekt


 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2022