Weltweite Impfstrategien: Gefährliche Impflücken schließen

26.09.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Der Steirer Hans Jürgen Dornbusch, ÖÄK-Impfreferent und Leiter des Impfreferats der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ), hat seit 2014 auch den Vorsitz der strategischen Impf-Arbeitsgruppe der „European Academy of Paediatrics“ (EAP) inne. Im Interview mit Thorsten Medwedeff spricht Dornbusch über brandgefährliche Impflücken und warum ausreichender Impfschutz gegen Corona nach wie vor überaus ratsam ist.

Womit beschäftigt sich die European Academy of Paediatrics? Die EAP repräsentiert die Pädiatrie in der europäischen Union medizinischer Fachärztinnen und –ärzte (Anm.: UEMS). Bis zu 54 Länder sind involviert. Für den Bereich Paediatric Primary Care‘ bin ich aus Österreich entsandt, für den klinischen Bereich ist es Prof. Wilhelm Kaulfersch, ehe maliger Leiter der Kinderklinik in Klagenfurt. Es gibt zwei große EAP-Meetings im Jahr, wo strategische Projekte sowie evidenzbasierte Publikationen geplant und umgesetzt werden. Die EAP ist maßgeblich an großen EU-Projekten wie zum Beispiel ‚ImmuHubs‘ oder ‚RIVER-EU‘ beteiligt, die eine Verbesserung des Impfschutzes für schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Ländern zum Ziel haben. „Standardized Education and Knowledge in Immunization“ (SEKI) ist ein weiteres zukunftsweisendes Projekt, das im von Prof. Kollaritsch mitbegründeten ‚Intensivkurs Impfen‘ (www.paediatrie.at/impfkurs) in Österreich bereits umgesetzt wird.

Was sind die aktuellen Herausforderungen? Die größte Herausforderung ist es, bestehende Impflücken zu schließen und zu verhindern, dass aufgrund von Impfmüdigkeit weitere entstehen und quasi ausgerottete Erkrankungen zurückkehren. Zum Beispiel bei der HPV-Impfung: In England und Australien gibt es Durchimpfungsraten von rund 80 Prozent, in Österreich sind es magere 30-40. In der Dritten Welt ist es oft noch viel weniger und ein enormes, soziales Problem, wenn die betroffenen Frauen mit 30, 40 oder 50 Jahren wegen einer durch Impfung vermeidbaren Krebserkrankung aus den Familien gerissen werden und großes soziales Leid hervorgerufen wird.

Was tut Österreich gegen dieses Problem? Um die HPV-Impfquote zu erhöhen, wurde vor einem Jahr die HPV-Allianz in Österreich gegründet. Initiiert von der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und mit der ÖGKJ und sieben weiteren medizinischen Fachgesellschaften wollen wir Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern ansprechen – das Motto der Aufklärungskampagne ist ‚From ten to teen‘. Über die Website www.hpv-info.at können alle Infos abgerufen werden. Und auch Impfaktionen wie das gemeinsame HPV-Catch-Up-Projekt von Österreichischer Ärztekammer, Apothekerkammer und Impfstoffherstellern zum kostenreduzierten Nachholen der Impfung für 12- bis 18-Jährige- sind sehr begrüßenswert.

Bei vielen Impfungen, speziell bei HPV, mussten Sie Fake News entgegenwirken. Hat das während der Pandemie noch zugenommen? Durch die leichte Verbreitung von Wissenschaftslügen und Fake News über die so genannten sozialen Medien hat das Problem deutlich zugenommen. Kollegen aus Japan haben uns etwa um Hilfe gebeten, weil die Impfbereitschaft bei HPV dort durch die fälschliche Behauptung, dass die Impfung unerwünschte neurologische Nebenwirkungen und Schäden zur Folge hätte, von 70 Prozent auf 2 Prozent gesunken ist. Diesem Trend konnten wir mit einer aufklärenden Publikation entgegenwirken. Einen ähnlichen Fall gab es bei der Masern-Impfung – diese wurde in einer Studie mit Autismus in angeblich kausalen Zusammenhang gesetzt. Eine Wissenschaftslüge, die bereits vielfach widerlegt ist. Obwohl die Publikation zurückgezogen werden musste und ihrem Autor, Andrew Wakefield, die Approbation entzogen wurde, lebt die Fama weiter. Allein in Europa kam es durch mangelnde Impfbereitschaft zu einem enormen Anstieg der Masernfälle: von 6.000 Fällen im Jahr 2016 bis ins Jahr 2019 mit über 100.000 Erkrankten und 64 Toten. Bei Impfungen als ‚Eingriff in den gesunden Organismus‘ gibt es naturgemäß immer – zuletzt allerdings deutlich mehr – Gegenwind, dieser fußt aber stets auf sehr schwacher Evidenz und nützt die Macht der neuen Medien aus. Mit seriösen Infos bekämpft die EAP in Kooperation mit unseren Partnern – dazu zählen WHO, EMA und das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) – diese Entwicklung. Die Erfolge zeigen, dass man auch wirklich etwas bewirken kann. So konnten wir in Zusammenarbeit mit der ECDC und Medien wie der Zeitung ‚The Sun‘ einen bereits zugesagten großen Auftritt von Wakefield im EU-Parlament verhindern.

Corona hat wohl nicht geholfen, die weit verbreitete Impfskepsis abzuschwächen? Exakt. Das Image des Impfens hat durch die Diskussionen rund um die Corona-Schutzimpfungen einen weltweiten ‚Kollateralschaden‘ erlitten – wir arbeiten daran, dem entgegenzuwirken, ein mühsamer, aber lohnender Kampf. Denn es gibt weltweit Millionen ungeimpfte Kinder und Jugendliche, das betrifft nicht nur die Masern-, sondern praktisch alle empfohlenen Impfungen. Dramatisch wird es speziell bei Kindern ab dem Schulalter – im Vorschulalter wird vieles durch die Kleinkinderimpfprogramme gut abgefedert. Das sehen wir auch in Österreich. Allerdings entstanden im Laufe der Pandemie zunehmende Impflücken bei 6- bis 18-Jährigen, da die Schulimpfungen durch die großteils dafür verantwortlichen Amtsärzte ausgefallen sind – dasselbe Gratis-Angebot gab und gibt es aber auch bei Haus- und Kinderfachärzten! Eltern bzw. Jugendliche müssen mehr darüber informiert werden, dass man jede kostenfreie „Schulimpfung“ ganz einfach auch in den Ordinationen bekommen kann.

Wäre ein Blick in den Impfpass gerade jetzt, zum Schulstart, ratsam? Unbedingt! Ich kann, wie auch von der WHO gefordert, nur dazu raten, und jede Impfung, die für Kinder und Jugendliche von den öffentlichen Stellen im jeweiligen Gesundheitssystem empfohlen werden, auch verabreichen zu lassen – zum Eigenschutz, aber auch, um Impflücken in der Gesellschaft zu schließen und so vulnerable Personen zu schützen, für die alters- oder krankheitsbedingt kein Impfschutz möglich ist.

Warum ist der gesellschaftliche Schutz so wichtig? Wenn Impflücken entstehen, schlüpfen dort Viren und Bakterien hindurch und die Infektionen kursieren weiter oder werden aufs Neue befeuert – wie etwa bei der Kinderlähmung, kurz Polio. Diese Erkrankung war schon fast verschwunden, zuletzt hatten wir nur noch Einzelfälle von Wild-Polio in Afghanistan und Pakistan, jetzt gibt es wieder vermehrt Erkrankungen, insbesondere auch durch Vakzin-assoziierte Polio-Stämme. Ohne ausreichend geimpfte Bevölkerung könnte die Kinderlähmung auch wieder nach Europa zurückkehren. Oder erinnern Sie sich an die jetzt wieder plötzlich aufgetretenen Diphtherie-Fälle in Österreich und der Schweiz! Daher kann ich mich nur wiederholen und dazu raten, alle empfohlenen Impfungen durchführen zu lassen.

Ist es denkbar, dass es weitere schwere Pandemien durch andere Krankheitserreger geben könnte? Das ist aus heutiger Sicht nicht vorhersehbar, aber auch nicht unwahrscheinlich. Auch andere Viren oder Bakterien könnten auf die Idee kommen, sich vermehrt für den Menschen zu interessieren. Davor müssen wir gewappnet sein – und das gelingt unter anderem durch ausreichende Durchimpfungsraten. Wir haben jetzt neben der Influenza mit SARS-CoV-2 ein zweites potentiell lebensgefährliches respiratorisches Virus, das uns bleiben wird. Und es gibt leider noch genügend Potenzial für andere Viren, durch bestehende Impflücken durchzuschlüpfen und sich zu einer Bedrohung zu entwickeln.

Apropos COVID-19 – sind Kampagnen pro Impfung sowie das Impfen nach wie vor sinnvoll? Absolut, keine Frage! Zum Beispiel die Kampagne der Österreichischen Bundesregierung, die auch die Ärztekammer unterstützt, #GemeinsamGeimpft, ist sehr begrüßenswert und wichtig, um aufzuzeigen, wie bedeutsam Selbstschutz und Schutz der Mitmenschen sind. Es sollte aber auch vermehrt darüber aufgeklärt werden, dass die verfügbaren Impfstoffe nicht mehr vor Infektion durch die neuen Corona-Varianten schützen. Allerdings schützen alle Impfstoffe sehr erfolgreich gegen Hospitalisierung und Tod durch COVID-19, weil sie unser T-Zell-System aktivieren und diese Killerzellen wie eine körpereigene Polizei reagieren, das Virus erkennen, dieses wirksam bekämpfen und somit schwere Verläufe verhindern.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2022