Standpunkt Johannes Steinhart: Zeit zu Heilen

10.03.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Dr. Johannes SteinhartAls vor über einem Jahr die ersten COVID-Schutzimpfungen in Österreich verabreicht wurden, hätte sich wohl niemand träumen lassen, dass unsere beste Waffe gegen Coronavirus und Pandemie eine derartige Polarisierung mit sich bringen würde. Zwar ist das Thema Impfen schon immer ein sensibles gewesen – schließlich geht es um medizinische Interventionen bei gesunden Menschen – und Österreich hat sich abseits der FSME-Impfung nie als besonders impfbegeistertes Land ausgezeichnet, dennoch haben sich Einstellungen zu Pandemie und Impfung fast schon als veritable Weltanschauungen etabliert. Entsprechend verhärtet sind mittlerweile die Fronten – auch, weil von einigen Seiten gerne die Konflikte noch angeheizt werden, um politische Vorteile daraus zu ziehen, aber auch weil Fake News in den sozialen Medien so schnell verbreitet werden können wie nie zuvor. Erklärungen und Faktenchecks verbreiten sich dagegen weder so umfangreich noch in ­denselben Filter­blasen, sodass Falschinformationen kaum noch beizukommen ist. Ist der Geist erst aus der Flasche, bekommt man ihn nicht mehr hinein.

Polarisierungen, Hypermoralisierung und Empörung gegenüber anderen Meinungen, ja sogar die Lust an der eigenen Empörung, haben schon vor COVID immer mehr zugenommen. Nun haben die Auswirkungen sogar schon Ordinationen erreicht. Verbale oder physische Gewalt gegen Ärzte oder Beschädigungen an Praxisgebäuden stehen teilweise schon an der Tagesordnung. Das ist absolut inakzeptabel. Seinen Frust an denen abzulassen, die jeden Tag auch unter größtem persönlichen Risiko ihr Bestes gegeben haben und weiterhin geben, um die Menschen medizinisch zu versorgen, ist eine Schande für ein zivilisiertes Land. Hier gibt es auch keine zwei Meinungen oder Verständnis.

Wo es aber möglich ist, auf der Basis von Vernunft und ­Fakten, muss der Dialog wieder Einzug halten. Das bedeutet auf der einen Seite ein Bekenntnis zu grundlegenden Fakten, auf der anderen Seite aber auch das Ernstnehmen von Sorgen und Ängsten. Wir Ärzte tun uns auch selbst keinen Gefallen, wenn wir unseren Patienten nur mit dem moralisierenden Zeige­finger begegnen. So verlieren wir nur das in uns gesetzte ­Vertrauen. Was wir alle nun dringend brauchen, ist gegenseitige Wertschätzung und Respekt – und Zeit zum Heilen.

Dr. Johannes Steinhart
2. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 05 / 10.03.2022