Mut­ter-Kind-Pass: Drin­gen­des Handeln

26.09.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Er ist ein medi­zi­ni­scher Erfolg, der sei­nes­glei­chen sucht: der Mut­ter-Kind-Pass. Bis heute feh­len jedoch sowohl die not­wen­di­gen Rah­men­be­din­gun­gen für eine Digi­ta­li­sie­rung ähn­lich dem elek­tro­ni­schen Impf­pass, als auch die Wert­schät­zung der Ärzte. Die Bun­des­ku­rie der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer for­dert in einer Reso­lu­tion drin­gen­des Handeln.

Sophie Nie­denzu

Gelb, kom­pakt, über­sicht­lich: der Mut­ter-Kind-Pass (MKP) ist ein stän­di­ger Beglei­ter ab dem Zeit­punkt der ärzt­lich bestä­tig­ten Schwan­ger­schaft, über die Säug­lings­zeit bis zum fünf­ten Lebens­jahr des Kin­des. Er dient der gesund­heit­li­chen Vor­sorge: die im Mut­ter-Kind-Pass vor­ge­se­he­nen Unter­su­chun­gen hel­fen bei der Früh­erken­nung und der recht­zei­ti­gen Behand­lung von Krank­hei­ten und kon­trol­lie­ren den Ent­wick­lungs­stand des Kin­des. Ein­ge­führt vor mitt­ler­weile 48 Jah­ren, haben sich die medi­zi­ni­schen Unter­su­chun­gen wei­ter­ent­wi­ckelt: 13 Jahre nach sei­ner Ein­füh­rung kamen zu den ursprüng­lich vier Unter­su­chun­gen in der Schwan­ger­schaft eine fünfte und zwei Ultra­schall­un­ter­su­chun­gen hinzu, auch Labor­un­ter­su­chun­gen wur­den ergänzt. Im Jahr 2010 wurde der MKP um eine dritte Ultra­schall­un­ter­su­chung, das Scree­ning nach Gesta­ti­ons­dia­be­tes im Rah­men des ora­len Glu­ko­se­to­le­ranz­tests (oGTT) und eine HIV-Unter­su­chung erwei­tert, seit 2014 ist eine Heb­am­men­be­ra­tung mög­lich. „Der Mut­ter-Kind-Pass ist ein Segen, denn er hat zahl­rei­chen wer­den­den Müt­tern das Leben geret­tet und den Kin­dern einen bes­se­ren Start in ein gesün­de­res Leben ermög­licht“, sagt Tho­mas Fied­ler, Obmann der Bun­des­fach­gruppe für Frau­en­heil­kunde und Geburts­hilfe der Öster­rei­chi­schen Ärztekammer.

Die Zah­len spre­chen für sich: Wäh­rend die Müt­ter­sterb­lich­keit, also der Tod wäh­rend der Schwan­ger­schaft oder inner­halb von 42 Tagen nach der Geburt, im Jahr 1946 noch 328 pro 100.000 Lebend­ge­bo­re­nen betrug, lag sie seit 1984 kon­ti­nu­ier­lich im ein­stel­li­gen Bereich, im Jahr 2020 betrug sie 2,4. Auch die peri­na­tale Sterb­lich­keit, also tot gebo­rene Kin­der oder Todes­fälle in der ers­ten Lebens­wo­che, san­ken rapide: Bereits zehn Jahre nach Ein­füh­rung des Mut­ter-Kind-Pas­ses, also 1984, hal­bierte sich die Säug­lings­sterb­lich­keit auf 11,4 pro Tau­send Kin­der (Pro­mille) und sank kon­ti­nu­ier­lich wei­ter. Im Jahr 2021 betrug die peri­na­tale Sterb­lich­keit 2,7 Promille.

Inten­sive Schwangerschaftsbegleitung

Der Erfolg des Mut­ter-Kind-Pas­ses ist also unbe­strit­ten. „Mit der fach­li­chen Wei­ter­ent­wick­lung und den medi­zi­ni­schen Erfol­gen ist auch ein höhe­rer Bera­tungs­be­darf ent­stan­den“, erzählt Fied­ler. Einer­seits sei das dem Umstand geschul­det, dass Frauen spä­ter schwan­ger wer­den und das höhere Alter auch zu einem erwei­ter­ten Infor­ma­ti­ons­be­darf führt, ande­rer­seits sei auch das Bedürf­nis nach Infor­ma­tio­nen bei wer­den­den Vätern gestie­gen. Wer­dende Müt­ter hät­ten viele Fra­gen zur Prä­na­tal­dia­gnos­tik, zu nicht-inva­si­ven Tes­tun­gen der Gesund­heit des Unge­bo­re­nen und zu Mög­lich­kei­ten von erwei­ter­ten Labor­un­ter­su­chun­gen, um etwa ein Prä­ek­lamp­sie­ri­siko früh­zei­tig zu erken­nen. Auch dürfe man nicht ver­ges­sen, dass wer­dende Müt­ter bei repro­duk­ti­ons­me­di­zi­ni­schen Ein­grif­fen eng­ma­schig beglei­tet wer­den, viel Infor­ma­ti­ons­be­darf bei Fra­gen zu den Ent­bin­dungs­mög­lich­kei­ten bestün­den, bei­spiels­weise zu Kai­ser­schnit­ten ohne medi­zi­ni­sche Indi­ka­tion. Auch die vor­ge­burt­li­che Infek­ti­ons­dia­gnos­tik ist mitt­ler­weile ein fixer Bestand der ärzt­li­chen Betreu­ung – die Liste an The­men im Rah­men der Schwan­ger­schafts­be­glei­tung ist lang. „Neben die­sen gan­zen medi­zi­ni­schen Mög­lich­kei­ten, über die wir inten­siv auf­klä­ren, gab es in den ver­gan­ge­nen zwei Jah­ren ein star­kes Infor­ma­ti­ons­be­dürf­nis zu Schutz­imp­fun­gen, ins­be­son­dere COVID-19 und Per­tus­sis“, sagt Fied­ler. Dass diese Leis­tun­gen nicht wert­ge­schätzt wür­den, sei demo­ti­vie­rend, kri­ti­siert der Gynäkologe.

Dro­hen­der Qualitätsverlust

Eine ähn­li­che Situa­tion erlebt die Kin­der- und Jugend­heil­kunde. Auch hier hat sich das medi­zi­ni­sche Leis­tungs­spek­trum im Rah­men der Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen über die Jahre ver­än­dert: Kin­der­ärzte betreuen bei­spiels­weise nun auch wesent­lich mehr Früh­ge­bo­rene, die ohne den medi­zi­ni­schen Fort­schritt nicht über­le­ben wür­den: „Dem medi­zi­ni­schen Fort­schritt sei Dank erfreuen sich viele Früh­chen einer guten Gesund­heit. Nichts­des­to­trotz muss ins­be­son­dere hier die Nach­sorge beson­ders gewis­sen­haft erfol­gen, um mög­li­che Stö­run­gen in der Ent­wick­lung der Kin­der früh­zei­tig zu erken­nen“, erzählt Peter Voitl, Obmann der Bun­des­fach­gruppe Kin­der- und Jugend­heil­kunde der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer. Das werde aller­dings im Leis­tungs­ka­ta­log nicht abge­bil­det. Etwas, das eben­falls nicht abge­bil­det werde, sei etwa die Bera­tung im Bereich der Gewalt­prä­ven­tion. Andere Leis­tun­gen, wie etwa der Hüf­tul­tra­schall, sei in vie­len Ordi­na­tio­nen mitt­ler­weile Stan­dard, der aller­dings nur mäßig hono­riert werde. Ein wei­te­rer Punkt: die Auf­klä­rungs­ge­sprä­che mit den Eltern seien zeit­in­ten­si­ver. Es käme mitt­ler­weile oft vor, dass Eltern vorab im Inter­net recher­chie­ren und mit vie­len Fra­gen in die Ordi­na­tion kämen. „Die Betreu­ung unse­rer Pati­en­ten ist bei sta­gnie­ren­den Tari­fen auf­wän­di­ger, gleich­zei­tig stei­gen die Fix­kos­ten in den Ordi­na­tio­nen: das führt letzt­end­lich ent­we­der zu leer­ste­hen­den Kas­sen­or­di­na­tio­nen – öster­reich­weit sind rund elf Pro­zent unbe­setzt – oder zu einem Qua­li­täts­ver­lust in der ärzt­li­chen Ver­sor­gung“, kri­ti­siert der Kinderarzt.

Rah­men­be­din­gun­gen anpassen

Die medi­zi­ni­schen Erfolge durch die Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen sind unbe­strit­ten – die Rah­men­be­din­gun­gen hin­ge­gen ver­bes­se­rungs­wür­dig. Denn seit 28 Jah­ren wur­den die Tarife nicht ein­mal an die Infla­tion ange­passt. „Seit Jah­ren füh­ren Ärzte diese so wich­ti­gen medi­zi­ni­schen Unter­su­chun­gen unter die­sen Vor­aus­set­zun­gen wei­ter­hin enga­giert durch, da ist es ver­ständ­lich, dass sie – nach 28 Jah­ren – auch end­lich eine Aner­ken­nung dafür sehen wol­len“, sagt Edgar Wut­scher, Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte der ÖÄK (BKNÄ): „Jede Geduld hat irgend­wann ihre Gren­zen erreicht.“ Es gebe kei­nen ande­ren Beruf, der 30 Jahre lang nicht ein­mal eine Wert­an­pas­sung erhal­ten habe: „Dass gerade bei der Gesund­heit von jun­gen Fami­lien seit Jahr­zehn­ten gespart wird, ist ein ver­hee­ren­des Signal“, sagt Wutscher.

Die bis heute nicht an die Infla­tion ange­pass­ten Tarife sind eine Bau­stelle beim Mut­ter-Kind-Pass – die Abwick­lung eine wei­tere. Denn bis heute ist der MKP nicht an die digi­tale Infra­struk­tur ange­hängt, wie es etwa der E‑Impfpass ist. Weil das nicht mehr zeit­ge­mäß sei, for­dert die BKNÄ daher in einer aktu­el­len Reso­lu­tion die längst über­fäl­li­gen Rah­men­be­din­gun­gen, um auch die MKP-Unter­su­chun­gen ins digi­tale Zeit­al­ter über­zu­füh­ren, sowie an die heu­ti­gen Leis­tun­gen ange­passte Tarife (siehe Kasten).

Ange­sichts des medi­zi­ni­schen Erfolgs sei die Igno­ranz der medi­zi­ni­schen Leis­tun­gen durch man­gelnde Tarif­an­pas­sun­gen und feh­lende Digi­ta­li­sie­rungs­kon­zepte im Ein­ver­neh­men mit der Ärz­te­schaft demo­ti­vie­rend. Das wie­derum gefährde die Ver­sor­gungs­si­cher­heit. Man dürfe sich nicht wun­dern, dass viele Kas­sen­stel­len bei Kin­der­ärz­ten und Gynä­ko­lo­gen unbe­setzt blei­ben und die Zahl der Wahl­ärzte steigt, betont Wut­scher. Er for­dert daher ein rasches Han­deln bei den Rah­men­be­din­gun­gen: „Sollte es zu kei­ner Eini­gung kom­men, dann ist es letzt­lich tat­säch­lich zu über­le­gen, die Ver­träge auf­zu­kün­di­gen, denn so kann es nicht wei­ter­ge­hen“, sagt der Bundeskurienobmann.


BKNÄ for­dert drin­gen­des Han­deln bei Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen
Die Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen sind bis heute nicht im digi­ta­len Zeit­al­ter ange­kom­men. Zudem sind die Hono­rare seit 28 Jah­ren nicht ein­mal an die Infla­tion ange­passt wor­den. Die Bun­des­ku­rie der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte for­dert daher in einer aktu­el­len Reso­lu­tion ein sofor­ti­ges Handeln.

Die Reso­lu­tion im Wortlaut:
„Die längst über­fäl­li­gen Rah­men­be­din­gun­gen feh­len bis heute. Ange­sichts der Tat­sa­che, dass die Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen eine medi­zi­ni­sche Erfolgs­ge­schichte sind, die zu einer wesent­li­chen Ver­bes­se­rung der Gesund­heit der Kin­der und Müt­ter geführt haben, ist zudem der Umgang mit den Ärz­tin­nen und Ärz­ten, die seit Jah­ren keine Hono­rar­an­pas­sung gese­hen haben, ein Zei­chen der man­geln­den Wert­schät­zung und Aner­ken­nung. Die Bun­des­ku­rie der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer for­dert daher sofor­ti­ges Han­deln, damit die Mut­ter-Kind-Pass-Unter­su­chun­gen sowohl ins digi­tale Zeit­al­ter über­führt, als auch ent­spre­chend wert­ge­schätzt werden.“


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 18 /​25.09.2022